Die Standardbiografie, nach der ein Mitarbeiter von der Wiege bis zur Bahre, beziehungsweise von der Lehre bis zur Pensionierung beim gleichen Unternehmen bleibt, ist heute eher die Ausnahme als die Regel. Die Vorstellung einer Ehe «bis zum Tod des Partners» ist für jedes zweite Ehepaar längst passé. Dennoch bietet das BVG-Gesetz den Versicherten wenig Möglichkeiten, ihre Altersvorsorge nach ihren Bedürfnissen und Lebensumständen auszurichten.

Zum Beispiel verwenden die meisten Vorsorgeeinrichtungen eine identische Anlagestrategie für alle ihre Versicherten. Je grösser jedoch der Kreis der Destinatäre einer Vorsorgeeinrichtung ist, desto weniger kann der Stiftungsrat die individuellen Situationen seiner Versicherten berücksichtigen. Wer kann einschätzen, ob sich ein Angestellter in den kommenden Jahren selbständig macht? Wer kriegt am besten mit, ob ein Mitarbeiter schlaflose Nächte hat, weil seine Pensionskasse aufgrund einer als zu hoch empfundenen Aktienquote Wertschwankungen unterliegt? Selbstverständlich der Mitarbeiter selbst. Dieser sollte deshalb seine Anlagestrategie aufgrund seines persönlichen Risikoappetits, seines Anlagehorizonts und seiner Präferenzen in Bezug auf ökologische oder ethische Standards selber bestimmen können.

Chancen bei Marktschwankungen

Mit der 1. BVG-Revision wurden für Pensionskassen, die ausschliesslich Löhne oberhalb von 126’900 Fr. versichern, Möglichkeiten für individualisierte Anlagestrategien pro Versichertem eröffnet (Art. le BVV 2). Viele Stiftungsräte schrecken jedoch vor solchen Reglementsanpassungen zurück, weil sie eine Überforderung ihrer Versicherten und höhere Kosten fürchten. Dieser Einwand ist ernst zu nehmen. Wird die Wahl allerdings auf drei bis fünf Anlagestrategien beschränkt, können sowohl Kosten als auch Beratungskomplexität deutlich reduziert werden. Mit wenigen Fragen kann zudem das Risikoprofil des Versicherten ermittelt und eine passende Strategie empfohlen werden.

Die freie Wahl der Pensionskasse setzt die Versicherten in die Lage, gemäss ihren Bedürfnissen anzulegen. (Wikimedia Commons)

Den zusätzlichen Kosten müssen auch Einsparungen gegenübergestellt werden. Da der Versicherte die Risiken, aber auch die Chancen von Marktschwankungen selbst trägt, muss er weder Sanierungsbeiträge finanzieren noch Wertschwankungsreserven aufbauen. Langfristig sollte diese Wahlmöglichkeit für das gesamte Überobligatorium angeboten werden. Damit könnten potenziell 40% statt wie bis heute nur ca. 12% der Bevölkerung von dieser Flexibilisierungsmöglichkeit profitieren. Die freie Wahl der Anlagestrategie wäre somit nicht mehr eine privilegierte Kaderlösung, sondern stünde auch Destinatären des Mittelstands offen.

Vorsorge an Mitarbeiter koppeln

Den grössten Gestaltungsspielraum hätten die Arbeitnehmer in der beruflichen Vorsorge, wenn sie nicht nur die Anlagestrategie, sondern auch den Verwalter ihrer Ersparnisse wählen könnten. Die freie Pensionskassenwahl würde eine stärkere Ausrichtung der Produktgestaltung an den Bedürfnissen der einzelnen Arbeitnehmer ermöglichen. Die Versicherten könnten dann mit den Füssen abstimmen, was zu einer Konsolidierung der Branche führen würde. Viele der 1500 kleinen Pensionskassen mit insgesamt nur 17% der Bilanzsumme aller Pensionskassen verschwänden – eine Chance für hohe Kosteneinsparungen.

Die freie Wahl der Pensionskasse würde auch den 350’000 Erwerbstätigen zugutekommen, die für zwei oder mehrere Arbeitgeber tätig sind. Trotz eines Gesamtlohns deutlich über der BVG-Eintrittsschwelle werden jene von der beruflichen Vorsorge oft nicht erfasst, weil der Koordinationsabzug mehrfach abgezogen wird. Die Zusammenführung aller Löhne eines Versicherten bei einer einzigen Vorsorgeeinrichtung würde die BVG-Abdeckung dieser Personengruppe vereinfachen.

Dazu käme die Möglichkeit, Vorsorge- und Arbeitsplatzrisiken zu diversifizieren. Vor nicht allzu langer Zeit hatten viele Pensionskassen keine hinreichenden Wertschwankungsreserven, manche standen bereits in Unterdeckung. Schliesst zum Beispiel ein Unternehmen Teile seiner Produktion oder verlagert sie ins Ausland, muss die Pensionskasse teilliquidiert werden. Ist sie in Unterdeckung, verliert der Mitarbeiter nicht nur seinen Job, sondern auch einen Teil seines Altersguthabens. Durch die Koppelung der Vorsorge an den Mitarbeiter statt an den Arbeitsplatz könnten zumindest diese Risiken getrennt werden.

Mehr Individualisierung stärkt die Sozialpartnerschaft

Solche Möglichkeiten, auf die Bedürfnisse der Versicherten einzugehen, werden manchmal als Bedrohung des Kollektivs und der Sozialpartnerschaft angeprangert. Das Gegenteil ist richtig. Heute verbringen die paritätisch besetzten Organe sehr viel Zeit mit Fragen der Anlagestrategie, der nötigen Höhe der Wertschwankungsreserven und des angebrachten technischen Zinses ihrer Pensionskasse. Würde man die freie Wahl der Pensionskasse für den Sparprozess dem Versicherten übertragen, fielen diese Diskussionen weg, und die Sozialpartner könnten sich stärker auf den Kern ihrer Aufgabe zurückbesinnen. Dazu zählen Fragen im Zusammenhang mit dem Rekrutierungs- und Weiterbildungsbedarf oder dem Umgang mit älteren Mitarbeitern, zum Beispiel infolge der Digitalisierung der Arbeitswelt. Sind diese Punkte geklärt, ist es Aufgabe der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter, die resultierende Personalpolitik zu definieren – dazu gehört auch die Gestaltung der Vorsorgelösung. Das wäre eine Stärkung, keine Schwächung der Sozialpartnerschaft.

Auch mahnen manche, dass Individualisierungsmöglichkeiten die Unterschiede der 2. und der 3. Säule verwischen. Diese Kritiker verschweigen aber gerne die «AHV-isierung» der beruflichen Vorsorge. Hier lauert ein viel grösseres Risiko. Aufgrund der zu hohen Umwandlungssätze fliessen jährlich Milliardenbeträge von Aktiven zu Rentnern. Statt das eigene Kapital aufzubauen, um eine solide Rente zu sichern, müssen die Jungen laufende Renten finanzieren. Das ist nichts anders als eine Umlagekomponente, wie sie nur in der 1. Säule vorgesehen ist. Auch sind Angriffe auf das ersparte Kapital der Versicherten politisch salonfähig geworden. Das Kapitalbezugsverbot bei der Pensionierung oder bei der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit ist kein Tabu mehr.

Statt Individualisierungsmöglichkeiten einschränken zu wollen, sollte man sie ausbauen. Die freie Wahl der Anlagestrategie oder langfristig auch der Pensionskasse wird die Mitarbeiter daran erinnern, dass das Vorsorgekapital ihnen gehört: nicht der Kasse, nicht dem Arbeitgeber und auch nicht dem Staat. Mehr Möglichkeiten, die berufliche Vorsorge nach den eigenen Bedürfnissen zu gestalten, sind der beste Garant gegen die schleichende Überführung der 2. Säule ins Umlageverfahren.

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe vom 4. Mai 2018 in der Zeitschrift «Schweizer Personalvorsorge» erschienen.