Gastkommentar

Der Menschenrechtsgerichtshof hat den Rubikon überschritten

Richter und Richterinnen sollten nur über das entscheiden, was ein Urteil auch anordnen und gestalten kann. Der Klima-Entscheid des Europäischen Gerichtshofs gegen die Schweiz ist politisch motiviert und nützt dem Klimaschutz nichts.

Ulrich Meyer 161 Kommentare 3 min
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Der Entscheid des EGMR zugunsten der Schweizer Klimaseniorinnen hat zu grosser medialer Aufmerksamkeit geführt.

Der Entscheid des EGMR zugunsten der Schweizer Klimaseniorinnen hat zu grosser medialer Aufmerksamkeit geführt.

Jean-Christophe Bott / Keystone

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) hat die Beschwerde des Vereins Schweizer Klimaseniorinnen gutgeheissen und festgestellt, dass unser Land zu wenig für den Klimaschutz unternehme. Damit sei Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt, welcher den Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens garantiert.

Dieses Urteil steht juristisch auf tönernen Füssen. Es nützt dem Klimaschutz nichts und gefährdet das System des Menschenrechtsschutzes in Europa.

Fehlende Justiziabilität

Die Grenzziehung zwischen Politik und Justiz – was ist Sache dieser, was ist Sache jener – ist das fundamentale Thema, seit es den demokratischen Rechtsstaat westlicher Prägung gibt. Dazu hat sich im Laufe der Jahrhunderte ein gesicherter Fundus an rechtlichen Einsichten und Erkenntnissen herausgebildet. Diesen wirft der EGMR mit seinem neuesten Urteil vollends über Bord. Der Rubikon ist überschritten – definitiv.

«Schuster, bleib bei deinem Leisten», sagt der Volksmund, was auf Stufe Gerichte heisst: Richter, Richterin, entscheide nur über das, was dein Urteil anordnen, gestalten kann. Mit der aktuellen Sentenz aus Strassburg wird nicht ein Jota am Klimaschutz verbessert. Es ist ein reines sogenanntes «Appellurteil», das heisst, die Schweiz, ihre Behörden, Volk und Stände werden aufgerufen, im Sinne des im Urteil Gesagten zu handeln. Der Inhalt dieses Appells ist total unbestimmt. Auch in der Klimapolitik führen viele Wege nach Rom. Das nun ergangene EGMR-Urteil ist nicht vollstreckbar.

Richterliche Zurückhaltung aufgegeben

Die Geschichte seit der Aufklärung lehrt, dass all jene rechtsstaatlichen Ordnungen zusammengebrochen sind, in denen sich die Justiz zu viel zugemutet hat. Daher ist richterliche Zurückhaltung in politischen Auseinandersetzungen ein Gebot jeder Stunde: Wo sich ein Ziel – auf staatlicher und auf internationaler Ebene – auf verschiedene Weise, mit unterschiedlichen Ansätzen und Konzepten anstreben lässt, hat nicht das Gericht ein «Recht» zu sprechen, das es so gar nicht gibt. Vielmehr ist das eine Angelegenheit für die politische – bei uns: für die demokratische – Ausmarchung.

Verzicht auf den rechtlichen Anfechtungsgegenstand

Es gehört nun wirklich zum ABC des Prozessrechts: Das müsste auch der EGMR wissen: Es bedarf eines «Anfechtungsobjektes», wie es im juristischen Jargon genannt wird, damit ein oberes Gericht (oder hier im Falle des EGMR ein internationales Gericht) urteilen darf. Darauf hat der EGMR in seiner Rechtsprechung schon seit geraumer Zeit mehr oder weniger verzichtet. Und einen solchen innerstaatlichen Justizakt gibt es hier überhaupt nicht mehr.

Worüber der EGMR in Sachen Klage der Klimaseniorinnen direkt geurteilt hat, ist schlicht und einfach die schweizerische Klimapolitik als solche. Darin liegt eine Einmischung in die Politik, die nicht nur – weil selber völkerrechtswidrig – klar unzulässig, sondern darüber hinaus auf längere Sicht dazu geeignet ist, den europäischen Menschenrechtsschutz in seinen Grundfesten zu erschüttern. Denn in politischen Dingen gibt es nun einmal keine rechtlich gesicherte Akzeptanz.

Ulrich Meyer war von 1987 bis 2020 Bundesrichter und von 2017 bis 2020 Bundesgerichtspräsident.

161 Kommentare
Thomas Zwicky

Die, die jetzt jubeln, werden mit Blick auf kommende EU-Fragen noch in die Tischkante beissen, denn spätenstens jetzt hat jede Schweizerin und jeder Schweizer gemerkt, dass "fremde Richter" nicht nur Propaganda sind, sondern traurige Realität. 

Marcel Truffer

Schön zu sehen, wie sich links/grün gleich selber erledigt. Und eine wunderbare Steilvorlage für die Gegner des Unterwerfungsvertrags mit der EU. Keine Werbekampagne wäre erfolgreicher. Und erst noch kostenlos.

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