Gastkommentar

Debatte um AfD-Verbot: Intoleranz rettet nie die Demokratie

Die Bundesrepublik ist resilienter, als es der Alarmismus gegen den Rechtspopulismus suggeriert. Statt Observierung oder Verbote braucht es eine kritische Selbstreflexion der demokratischen Parteien.

Wolfgang Merkel 201 Kommentare 6 min
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Derzeit steigen viele Bürger aus der Zuschauerdemokratie aus, um auf die Strasse, in Parteien und zivilgesellschaftliche Vereinigungen zu gehen.

Derzeit steigen viele Bürger aus der Zuschauerdemokratie aus, um auf die Strasse, in Parteien und zivilgesellschaftliche Vereinigungen zu gehen.

Thomas Lohnes / Getty

Louis Antoine de Saint-Just wird auf dem Höhepunkt des jakobinischen Terrors der Satz zugeschrieben: «Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!» Wenig später fiel Saint-Just 1794 dem revolutionären Fallbeil zum Opfer. Der berühmte Imperativ des französischen Revolutionärs wurde oft zitiert und moduliert. Die in Westdeutschland populäre Formulierung «Keine Toleranz den Feinden der Toleranz» gehört seit den fünfziger Jahren zum Sprachschatz der wehrhaften Demokratie.

Der Begriff der «wehrhaften» oder «streitbaren» Demokratie wurde formuliert vom deutschen Staats- und Verfassungsrechtler Karl Löwenstein, der auf der Flucht vor den Nazis in die USA emigriert war. Löwenstein führte den Begriff als «militant democracy» in die politische Debatte ein. Löwensteins Überlegungen erleben etwa in der Debatte um ein AfD-Verbot gerade eine Renaissance.

Die Erinnerung an das Scheitern der Weimarer Republik begleitete die Beratungen zum Grundgesetz vor 75 Jahren, weshalb sich der Gedanke der demokratischen Wehrhaftigkeit in mehreren Artikeln des Grundgesetzes der Bundesrepublik niederschlug. Hans-Jürgen Papier sprach von «direkten Eingriffsbefugnissen gegenüber verfassungsfeindlichen Organisationen, Individuen und Parteien».

Wo liegen aber die Segnungen, Paradoxien und Fallstricke des Konzepts der «wehrhaften Demokratie»? Der Verfassungstheoretiker Hans Kelsen plädiert in seiner frühen Schrift «Vom Wesen und Wert der Demokratie» (1920) für einen radikalen weltanschaulichen Relativismus als Voraussetzung des demokratischen Gedankens: «Demokratie schätzt den Willen jedermanns gleich ein, wie sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, (. . .) gleichermassen achtet.» Selbst wenn eine Demokratie von ihren Feinden angegriffen, ausgehöhlt oder in ihrer Existenz bedroht wird, lautet Kelsens Antwort (1932) klar: Eine Demokratie, die sich mit Gewalt zu behaupten versuche, habe aufgehört, Demokratie zu sein.

Die rote Linie der Gewalt

In den 1950er Jahren wird Kelsen in seiner Abschiedsvorlesung in Berkeley vortragen, eine tolerante Demokratie könne nur in dem Masse tolerant bleiben, «wie sie friedliche Äusserungen anti-demokratischer Anschauungen nicht unterdrückt. Gerade durch solche Toleranz unterscheidet sich Demokratie von Autokratie.» Die rote Linie sei die Gewalt, nicht aber schon Existenz, Programmatik und Äusserungen antidemokratischer Parteien und einzelner Politiker. Kelsens Paradoxie-Verdacht lautet: In dem Versuch einer Regierung, die Demokratie gegen ihre intoleranten Feinde zu schützen, nähme diese selbst intolerante Züge an und würde ihren Feinden ähnlich. Ein Verbot der AfD, wie es heute in Deutschland diskutiert wird, wäre mit Kelsen nicht zu beglaubigen.

Der Antipode zu Kelsen in der Nachkriegsdebatte ist Karl Löwenstein. Er greift mit seiner «militant democracy» auf den umstrittenen Staatsrechtler Carl Schmitt zurück, der sich gegen Kelsens Wertrelativismus wandte. Wo Kelsen davor warnt, die Intoleranz der Demokratiefeinde mit intoleranten Mitteln zu bekämpfen, empfiehlt Löwenstein (1937) genau diese. Der «demokratische Fundamentalismus» und die «legalistische Blindheit» seien weder willens noch in der Lage zu erkennen, dass es gerade die Prinzipien und Verfahren der Demokratie seien, die den Demokratiefeinden als trojanisches Pferd dienten.

Die Demokratie muss bereit sein, auch grundsätzliche Prinzipien aufzugeben, um genau diese Prinzipien zu retten. Beide Positionen erscheinen heute weder politisch hinreichend (Kelsen) noch demokratietheoretisch legitimierbar (Löwenstein).

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist ausgewogener normiert in der wehrhaften, in der Regel mit Zurückhaltung gehandhabten Trias von Vereinigungsverbot, Verwirkung von Grundrechten und Parteiverboten. Parteiverbote wurden in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sechs Mal auf den Weg gebracht und nur zweimal durch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verhängt. Lediglich vier Anträge auf Verwirkung der Grundrechte wurden bisher gestellt. Kein einziger wurde vom Bundesverfassungsgericht positiv beschieden.

Jüngst wurde die Forderung auf Aberkennung der Grundrechte des völkischen Rechtsextremisten Björn Höcke (AfD) populär. Dieses Ansinnen mag im Falle Höckes substanziell begründbar sein. Aber eine Gefahr für die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des «Potenzialitätsarguments» des Bundesverfassungsgerichts daraus abzuleiten, hiesse die Stabilität unserer Demokratie zu unter- und die Bedeutung Höckes zu überschätzen. Das Potenzialitätsargument besagt, dass eine Partei, um letztlich verboten zu werden, auch das faktische Potenzial haben muss, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu gefährden. Für eine reine Symbolik darf eine solche einschneidende Verfassungsnorm nicht leichtfertig verschleudert werden.

Politischer Pluralismus

Wie aber ist der lauter werdende Ruf nach einem Verbot der AfD zu bewerten? Was wären die Kosten, was der Nutzen, welche die pragmatischen, welche die normativen Argumente? Pragmatisch wäre die Initiierung eines Verbotsverfahrens riskant. Das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts kann zwei bis drei Jahre dauern.

Ein sich hinziehendes Verfahren würde wie ein Konjunkturprogramm für die AfD wirken. Sie könnte sich in ihrer Lieblingsrolle als die von den «Systemparteien» verfolgte wahre Opposition präsentieren und weitere Proteststimmen auf sich ziehen. Würde am Ende das Bundesverfassungsgericht ein Verbot ablehnen, entstünde ein Legitimationszuschuss mit unübersehbaren politischen Folgen. Würde das Gericht die Partei verbieten, wären damit noch längst nicht ihre Wähler verschwunden.

Und hier beginnt die normative Frage. Ist das Verbot einer Partei, die im Bund auf 20 Prozent, in einzelnen ostdeutschen Bundesländern auf 30 Prozent der Wählerschaft kommen kann, demokratietheoretisch zu legitimieren? Würde nicht ein signifikanter Teil des Demos, von dem die letztinstanzliche Macht in einer Demokratie auszugehen hat, seiner gewählten Repräsentanz beraubt? Darf sich ein Gericht anmassen, den politischen Pluralismus der Gesellschaft paternalistisch einzuschränken?

Zwar entscheidet das Bundesverfassungsgericht, aber die Antragsteller wären letztlich doch die politischen Parteien in Regierung, Bundestag oder Bundesrat. Wenn aber politische Parteien Anträge auf Verbot einer Konkurrenzpartei stellen dürfen, beeinträchtigt dies den freien pluralistischen Wettbewerb. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Niedergang der Volksparteien eine beachtliche Zahl der Wähler aus ihrer einstigen engen Parteienbindung entlassen hat. Viele dieser Wähler haben enttäuscht die Parteien an den politischen Rändern als neue Repräsentanten gesucht und auf der Rechten in der AfD gefunden.

Auch wenn die demokratischen Parteien mit lauteren Motiven einen Verbotsantrag stellen würden, wäre es politikfern, zu vermuten, wettbewerbliche Erwägungen blieben aussen vor.

Kommt hinzu, dass ein AfD-Verbot der Demokratie einen wichtigen Vorteil entwenden würde. Der Mechanismus von Wahlen und Wahlniederlagen zwingt demokratische Parteien in der Regel, nachzudenken, was die Ursache dieser Wählerverluste sind. Warum wurden so viele Wähler gerade an eine rechtspopulistische Partei zweifelhaften demokratischen Zuschnitts verloren? Eine solch kritische Selbstreflexion würde den Antragstellern abgeschnitten. Nichts an Einsicht in die eigenen Schwächen wäre gewonnen. Verloren hätte die Demokratie, die Ursachen blieben, die unzufriedenen Wähler auch.

Auch wenn man der Meinung ist, die pragmatischen und normativen Kosten eines AfD-Verbots überstiegen die politischen Gewinne, darf man die Demokratie nicht ihren Feinden überlassen. Will man weder dem rabiaten Illiberalismus Löwensteins noch der hyperliberalen Selbstentwaffnung Kelsens folgen, muss man einen dritten demokratischen Weg suchen. Die Grundlage ist nicht ein oberflächliches «Wir müssen besser kommunizieren», sondern die Regierung muss effizienter und fairer regieren. Denn in Krisenzeiten verschiebt sich die politische Aufmerksamkeit der Bürger vom partizipatorischen Input zur Substanz des Outputs.

Massendemonstrationen ersetzen nicht gutes Regieren

Gefragt ist auch eine Bürgerschaft republikanischen Zuschnitts. Die Massenmobilisierungen auf den Strassen der Republik gegen den Rechtsextremismus zeigen einen republikanischen Moment an. Die Strasse vermag zwar die politische Agenda zu beeinflussen, bindende politische Entscheidungen werden aber von Parteien in staatlichen Institutionen getroffen. Massendemonstrationen ersparen nicht den langwierigen Marsch durch die träge gewordenen Institutionen. Wenn gutes Regieren, faire Gewinn- und Lastenverteilung in Zeiten von Krisen die staatliche Politik bestimmen und die Bürger aus der Zuschauerdemokratie aussteigen, um auf die Strasse, in Parteien und zivilgesellschaftliche Vereinigungen zu gehen, dann mögen Parteienverbote überflüssig werden.

Demokratien sind zerbrechlich, auch die deutsche. Aber sie ist nach 75 Jahren erfolgreichen Bestehens resilienter, als der diskursive Alarmismus gegen den Rechtspopulismus suggeriert. Demokratisches Engagement, gelassene Aufmerksamkeit kompetenter Bürger, Liberalitas und gutes Regieren dienen der Demokratie mehr als der anschwellende Bocksgesang von Observierung, Verdacht und Verbot.

Wolfgang Merkel war Direktor am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor für politische Wissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

201 Kommentare
T. R.

Es ist unglaublich, wie man sich immer wieder an "demokratiefeindlichkeit" der "rechtspopulisten" abarbeitet (damit die politischen kampfbegriffe der regierenden parteien übernimmt), ohne mit einem wort die demokratiefeindlichen momente eben dieser regierungsparteien auch nur zu erwähnen. Ja, vermutlich ist die AFD in teilen rechtsextrem. Aber sind die ampelparteien denn nicht in teilen linksextrem? (Von den Linken ganz zu schweigen). Was hat der fundamentalismus vieler Grüner und ihrer organisationen mit demorkratie zu tun? Inwiefern können die zum teil mehr als radikalen forderungen etwa der grünen und roten jugendorganisationen demokratisch gedeutet werden? Wie sind die bis an die grenzen der rechtsbeugung gehenden mißachtungen von verfassung und gesetzen zu beurteilen (nicht nur in der haushaltspolitik)?  Wo liegt die demokratische fairneß in der ausgrenzung einer legalen partei auf allen ebenen? Etc. p. p. Die ganze verbotsdiskussion ist im kern völlig undemokratisch, zielt sie doch darauf ab, das urdemokrtische recht - nämlich eine andere politik zu wählen - außer kraft. Wenn die volksfrontparteien ein repräsentationeproblem haben, dann sollten sie ihre positonen überprüfen oder verschwinden; genau das  ist der demokratische prozeß.

Alfons Steinberger

Wenn alle Macht vom Volke ausgeht, dann ist ein Verbot einer Partei, die 20 - 30% der Stimmen des Souveräns(!) auf sich vereint, demokratietheoretisch höchst problematisch. Denn dann geht die Macht nur von dem Teil des Volkes aus, dessen Ansicht genehm ist. Was "genehm" ist, wird dabei aber von irgendwem definiert. Und sobald irgendwer was definiert, was dem Souverän erlaubt ist, kann man eigentlich nicht mehr von einem Souverän sprechen.

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