Die unheimliche Macht der Schweizer Gewerkschaften

Die Gewerkschaften brachten die 13. AHV-Rente durch, im EU-Dossier sind sie eine Vetomacht – und das, obwohl sie immer weniger Mitglieder haben.

Christoph Eisenring 5 min
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Ganz im Element: Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, bei einer Kundgebung am Tag der Arbeit im Jahr 2022.

Ganz im Element: Pierre-Yves Maillard, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, bei einer Kundgebung am Tag der Arbeit im Jahr 2022.

Michael Buholzer / Keystone

In Deutschland legen aggressive Gewerkschaften gerade das Land lahm. In der Schweiz gehen die Syndikate subtiler zur Sache, feiern aber genauso grosse Erfolge. Mit der klaren Zustimmung des Volkes zur 13. AHV-Rente haben sie einen Coup gelandet. Und im EU-Dossier verfügen sie über ein faktisches Veto, was die Position der Schweiz bei den Verhandlungen mit Brüssel angeht.

Die jüngsten Erfolge sind erstaunlich, weil die Gewerkschaften eigentlich seit Jahrzehnten auf dem absteigenden Ast sind. Seit 1990 haben die Arbeitnehmervertretungen ein Viertel ihrer Mitglieder verloren. Nur einer von sieben Arbeitnehmern in der Schweiz macht noch mit.

Noch jeder siebte Arbeitnehmer ist in der Gewerkschaft

Gewerkschaftlicher Organisationsgrad in Prozent der Arbeitnehmer
Schweiz
OECD

Wie haben es die Gewerkschaften geschafft, ihre Macht trotz Mitgliederschwund zu erhalten? Gewerkschafter mögen zwar eine seltene Spezies geworden sein, doch die ausgehandelten Gesamtarbeitsverträge (GAV) gelten weiterhin für einen grossen Teil der Arbeitnehmer in der Schweiz, also auch für solche, die nicht Mitglied sind.

Die GAV regeln die Arbeitsbedingungen von 2 Millionen Personen. Sie decken damit die Hälfte aller Beschäftigten in der Schweiz ab, die überhaupt einem GAV unterstellt werden könnten – ein Wert, der seit der Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU sogar noch etwas gestiegen ist.

In der Schweiz sind gut drei Mal so viele Arbeitnehmer einem GAV unterstellt, wie Mitglieder in einer Gewerkschaft sind. Unter den Industriestaaten der OECD ist dieser Unterschied im Schnitt nur halb so gross.

Jedes vierte Mitglied verloren

Anzahl gewerkschaftlich organisierter Arbeitnehmender (in Tausend)

Schützenhilfe des Bundes

Die Gewerkschaften haben es also geschafft, relevant zu bleiben. Dazu beigetragen hat auch der Bundesrat. Er hat nämlich immer mehr GAV für allgemeinverbindlich erklärt. Das bedeutet, dass die Vertragsfreiheit ausser Kraft gesetzt ist, die sonst den Arbeitsmarkt prägt: Alle Unternehmen und alle Arbeitnehmer einer Branche werden in einen Vertrag gezwungen, auch die Aussenseiter, also Firmen, die nicht in einem Verband, und Arbeitnehmer, die nicht in der Gewerkschaft sind.

Diese Einmischung des Bundes in die Sozialpartnerschaft relativiert den Mythos des liberalen Schweizer Arbeitsmarktes. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Zahl der einem GAV zwangsweise unterstellten Arbeitnehmer auf gut 1 Million Personen verdreifacht. Laut dem Seco wäre der Grad der Abdeckung ohne bundesrätliche Allgemeinverbindlicherklärung nur halb so hoch.

Der Bundesrat greift den Gewerkschaften dabei künstlich unter die Arme: Eigentlich müsste für eine Allgemeinverbindlicherklärung mehr als die Hälfte der betroffenen Arbeitnehmer in der jeweiligen Gewerkschaft organisiert sein. Doch von 79 allgemeinverbindlich erklärten GAV ist der Bund in 51 Fällen von diesem Schwellenwert abgewichen. «Ausnahmsweise kann bei besonderen Verhältnissen vom Erfordernis der Mehrheit der beteiligten Arbeitnehmer abgesehen werden», heisst es im Gesetz. Dieser Passus ist somit von der Ausnahme zur Regel geworden.

Dass der Bund den Gewerkschaften so entgegengekommen ist, hat mit einem Ereignis zu tun: Im Juni 2002 hat die Schweiz die Personenfreizügigkeit mit der EU eingeführt. Um die Zustimmung der Gewerkschaften zu gewinnen, hat der Bundesrat «flankierende Massnahmen» ergriffen. Dazu gehört zum einen, dass es einfacher geworden ist, GAV allgemeinverbindlich zu erklären. Zum anderen kann er mit sogenannten Normalarbeitsverträgen Minimallöhne für gewisse Branchen und Regionen verordnen, die keinen GAV haben.

Die Gewerkschaften hatten mögliches «Lohndumping» ins Feld geführt, wenn Unternehmen aus der EU mit geringeren Löhnen auf den Schweizer Markt drängen würden. Man macht es sich jedoch zu leicht, die Schuld am immer stärker regulierten Arbeitsmarkt nur bei den Gewerkschaften zu suchen. Gerade binnenorientierte Firmen haben ebenfalls ein Interesse daran, sich ausländische Konkurrenz vom Leib zu halten. Allgemeinverbindliche GAV sind eine Möglichkeit dazu.

Gewerkschaftliche Lohnpolizei

Gestärkt hat die Gewerkschaften ausserdem, dass sie zusammen mit den Arbeitgebern die allgemeinverbindlichen GAV auch selbst überwachen. Die dem GAV unterstellten Firmen werden dabei mit Zwangsabgaben belastet, die sie in Form von Lohnprozenten an sogenannte paritätische Kommissionen abliefern müssen, die sich aus Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern zusammensetzen. Diese Vollzugskostenbeiträge für Lohnkontrollen sowie Weiterbildungskurse haben 2022 zu Einnahmen von 230 Millionen Franken geführt.

Rund um die GAV hat sich eine eigentliche Kontrollindustrie etabliert: Je nach Branche werden 5 bis 25 Prozent der inländischen Betriebe kontrolliert, bei den ausländischen ist die Überwachung noch engmaschiger. Die Kontrolle, dass Lohn- und Arbeitsbedingungen nicht unterboten werden, wird dabei oft den Gewerkschaften übertragen. Mitunter behandelt dabei die gewerkschaftliche «Lohnpolizei» die Firmen schikanös. Die Eidgenössische Finanzkontrolle hat 2022 zudem festgestellt, dass 8 Prozent der Firmen ohne ersichtlichen Grund mehrfach überprüft würden und dass es bei den Kontrollen an Transparenz fehle.

Die Gewerkschaften wehren sich in den neuen Verhandlungen mit der EU nun gegen alles, was die Kontrollbürokratie zurückstutzen würde. Heute müssen sich Firmen aus dem Ausland acht Tage vor ihrem Einsatz in der Schweiz anmelden, damit man sie kontrollieren kann. Zudem müssen sie eine Kaution hinterlegen, damit im Fall einer Busse auch Geld da ist.

Die EU wehrt sich gegen diese bürokratischen Schikanen. Die Gewerkschaften malen dagegen erneut die Erosion des Lohnschutzes an die Wand, sollte die Schweiz den Wünschen der EU nachgeben. Sie werfen dem Bundesrat deshalb vor, Teile der flankierenden Massnahmen in den Verhandlungen preiszugeben: «Der vom Bundesrat eingeschlagene Weg ist für uns nicht gangbar», schrieb kürzlich der Schweizerische Gewerkschaftsbund.

Dies ist keine leere Drohung, denn die Gewerkschaften sind im EU-Dossier eine Vetomacht. Weil die SVP ein neues Abkommen mit der EU in jedem Fall ablehnt, braucht es die Gewerkschaften, soll es beim Volk eine Chance haben. Deshalb haben die Gewerkschaften in diesem Dossier einen Einfluss, der weit über ihrer eigentlichen Gewichtsklasse liegt.

Als es darum ging, die SVP-Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung zu bodigen und damit die Personenfreizügigkeit zu retten, hatten die Bürgerlichen sogar in ein neues Sozialwerk eingewilligt, um das Engagement der Gewerkschaften für die Bilateralen zu erhalten: die Überbrückungsrente für Arbeitnehmer ab 60.

Die gewonnene Abstimmung über die 13. AHV-Rente ist nun aber ein gewerkschaftlicher Erfolg, der das Überbrückungsgeld überstrahlt. Hartnäckigkeit scheint sich dabei auszuzahlen. Dies zeigt sich auch bei den Mindestlöhnen. Vor zehn Jahren hat das Schweizervolk einen nationalen Mindestlohn noch mit einer satten Mehrheit von 76 Prozent abgelehnt. Doch die Gewerkschaften liessen nicht locker: Mittlerweile gibt es in fünf Kantonen Mindestlöhne sowie in den Städten Zürich und Winterthur.

Im EU-Dossier werden die Gewerkschaften den Preis für ihre Zustimmung hochschrauben, weil sie um ihre Vetomacht wissen. Allerdings müssen sie aufpassen, dass sie ihr Blatt nicht überreizen. Wenn der Arbeitsmarkt immer stärker reguliert wird, müssen sich auch die grössten Anhänger des Abkommens mit der EU die Frage stellen, ob dessen Nutzen nicht zu gering ist, wenn gleichzeitig vom liberalen Schweizer Arbeitsmarkt nur noch wenig übrigbleibt.

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