Gastkommentar

Wegducken statt standhalten – die westlichen Demokratien üben sich erneut in Verhaltensmustern der Appeasement-Politik der dreissiger Jahre

Putins Angriffskrieg wie auch der Hamas-Terror haben den Westen auf dem falschen Fuss erwischt. Es gibt eine Tradition der Unterschätzung totalitärer Aggressoren, angesichts deren sich die Frage stellt, ob es einen strukturellen Hang von Demokratien zum Appeasement gibt.

Richard Herzinger 473 Kommentare 6 min
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Sollte die Ukraine nach über zwei Jahren heroischer Gegenwehr dem verstärkten Angriffsdruck des russischen Aggressors nicht mehr standhalten können, wäre dies das katastrophale Resultat eines neuerlichen historischen Versagens der westlichen Demokratien – mit ähnlich verheerenden Konsequenzen wie bei der Appeasement-Politik in den dreissiger Jahren.

Zwar hat der Westen seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die gesamte Ukraine erhebliche Anstrengungen unternommen, um das überfallene Land finanziell und mit militärischer Ausrüstung zu unterstützen. Doch hat er der Ukraine dringend benötigte Waffensysteme vorenthalten und ihr zugesagtes Kriegsgerät zu spät, in zu geringem Umfang oder gar nicht geliefert. So konnten sich die Invasoren nach anfänglichen schweren Rückschlägen regenerieren und sich zu neuen Angriffswellen formieren.

Hinter diesem westlichen Versäumnis steckte das falsche Kalkül, die russische Aggressionsenergie werde sich angesichts des ukrainischen Widerstands über kurz oder lang erschöpfen und der Kreml werde sich dann kompromissbereit zeigen müssen. Diese Verkennung des wahren Ausmasses des russischen Vernichtungswillens hat eine lange, fatale Vorgeschichte. Spätestens mit dem Beginn der Aggression Russlands gegen die Ukraine 2014 hätte der Westen realisieren müssen, dass Putins Verbrecherstaat keiner Rationalität zugänglich ist und daher weder ein wirtschaftlicher noch ein sicherheitspolitischer «Partner» sein kann. Doch weil dies nicht geschah, traf es die westlichen Staatenlenker weitgehend unvorbereitet, als der Kreml 2022 mit seinem genozidalen Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine tatsächlich Ernst machte.

Angst und Bewunderung

Ähnlich überrumpelt zeigte sich die demokratische Welt von dem Massaker der Hamas am 7. Oktober, hinter dem die Islamische Republik Iran steht. Wie man die imperialen Weltneuordnungspläne der Moskauer Machthaber lange Zeit als leere propagandistische Rhetorik abgetan hat, so weigerte man sich insbesondere in Europa, die apokalyptisch-extremistische Ideologie und die Vernichtungsankündigungen des mit Moskau verbündeten Teheraner Regimes sowie seiner terroristischen Stellvertretertruppen gegen Israel beim Wort zu nehmen.

Damit fielen die westlichen Demokratien in Verhaltensmuster der Appeasement-Politik der dreissiger Jahre zurück. Wobei die Geschichte der Beschwichtigung und Anbiederung an aggressive autoritäre Regime nicht erst mit der Machtergreifung Hitlers begann. Schon die Diktatur Benito Mussolinis wurde in den westlichen Demokratien lange Zeit bis weit in die bürgerliche Mitte hinein idealisiert – gespeist aus der Angst vor der kommunistischen Revolution, aber auch, weil beträchtliche Teile der westlichen Eliten selbst mit einer autoritären Lösung der inneren Konflikte ihrer Gesellschaften liebäugelten.

Die Priorisierung des kurzfristigen ökonomischen Vorteils vor vermeintlich «weltfremder» demokratischer Moral erzeugt einen Werterelativismus.

Doch westliche Leisetreterei gab es nicht nur gegenüber dem Faschismus und Nationalsozialismus – sie wurde schon früh auch gegenüber der Sowjetunion praktiziert. Nachdem zuvor bereits Grossbritannien seine Beziehungen mit Moskau «normalisiert» hatte, wuchs in den USA Anfang der dreissiger Jahre der Druck einflussreicher Unternehmer auf die Regierung, den Weg für lukrative Handelsbeziehungen mit dem Sowjetstaat frei zu machen. Nur zu gerne glaubte man den Zusicherungen Stalins, er verfolge keine weltrevolutionären Absichten mehr und wünsche sich aufrichtig friedlichen Handel mit der kapitalistischen Welt.

Als der britische Journalist Gareth Jones die Wahrheit über den Holodomor, den sowjetischen Hungermord in der Ukraine 1932/33, enthüllte, taten die Regierungen der grossen westlichen Demokratien dies als Greuelpropaganda ab, die den Prozess der Annäherung an Moskau stören könnte. Das westliche Schweigen ermöglichte es der Sowjetführung, dieses genozidale Verbrechen über viele Jahrzehnte hinweg zu leugnen und zu vertuschen.

Angesichts dieser langen Tradition der Unterschätzung und Beschönigung totalitärer Aggressoren stellt sich die Frage, ob es einen strukturellen Hang der Demokratien zum Appeasement gibt. In der Tat sind es eine Vielzahl von Faktoren, die liberale Gesellschaften für das Zurückweichen vor aggressiven autoritären Mächten und für die Selbsttäuschung über deren wahre Absichten anfällig machen.

Da sind zunächst die Prämissen einer freien Wirtschaft, zu deren Entfaltung es offener Märkte und eines möglichst uneingeschränkten Welthandels bedarf. Um autoritäre Aggressoren einzudämmen, müssen jedoch Restriktionen in den Wirtschaftsbeziehungen, etwa durch Sanktionen, in Kauf genommen werden. So geraten, wie es scheint, die Bedürfnisse des Marktes und die ethischen Maximen der Demokratie miteinander in Konflikt. Doch diese Entgegensetzung erweist sich bei näherem Hinsehen als kurzschlüssig. Denn Investitionen in Staaten mit Willkürregimen können sich unversehens als Desaster erweisen – wie sich jetzt am weitgehenden Zusammenbruch des «Russlandgeschäfts» infolge des russischen Angriffskriegs gezeigt hat.

Verständnis für die Henker

Die Priorisierung des kurzfristigen ökonomischen Vorteils vor vermeintlich «weltfremder» demokratischer Moral zieht häufig einen Werterelativismus nach sich, der postuliert, man dürfe nichtwestlichen Kulturen nicht «unsere» normativen Massstäbe «aufzwingen». Dieses scheinbar von Respekt vor kultureller Vielfalt zeugende Argument wird gerne von Wirtschaftsführern vorgeschoben, wenn es ihnen in Wahrheit um ungehinderte Geschäftsbeziehungen mit Despotien geht.

Paradoxerweise findet sich dieser das Profitstreben camouflierende Kulturrelativismus spiegelbildlich bei Kräften wieder, die damit gegenteilige Motive verfolgen. Die selbstkritische Aufarbeitung der Verbrechen des europäischen Kolonialismus ist für die modernen westlichen Demokratien essenziell. Doch wenn linke Antikapitalisten und «Postkolonialisten» mit dem Hinweis auf vergangene westliche Verbrechen mörderische Regime im sogenannten «globalen Süden» exkulpieren, stellen sie die Lehren aus der kolonialistischen Unterdrückung auf den Kopf.

Dabei gleicht diese Haltung verblüffend der führender westlicher Politiker in den dreissiger Jahren gegenüber NS-Deutschland. Für den Revanchismus Hitlers brachten sie Verständnis auf, da Deutschland durch den Versailler Vertrag tief «gedemütigt» worden sei. In ähnlicher Weise wird heute etwa die brutale imperialistische Politik des chinesischen Regimes dadurch in ein milderes Licht getaucht, dass man auf die einstige Demütigung Chinas durch die europäischen Kolonialmächte verweist.

Eine weitere Stärke der liberalen Demokratien, die in der Konfrontation mit dem Autoritarismus zur Schwachstelle wird, ist ihre berechtigte Abscheu vor dem Krieg. Aus ihr folgt eine Neigung zum Pazifismus, der eigentlich die konsequente Schlussfolgerung aus der liberalen Vision ist, den Krieg als voraufklärerisches Relikt aus den zwischenstaatlichen Beziehungen zu verbannen. So ehrbar aber eine authentische pazifistische Haltung sein mag – durchhalten lässt sie sich nur unter Ausblendung der Frage, wie man sich Mächten unbewaffnet erwehren soll, die Krieg, Vernichtung und brutale Unterwerfung anderer Völker als ihren eigentlichen Daseinszweck betrachten, wie dies bei Putins Russland der Fall ist.

«Frieden» eignet sich zudem wie kaum ein anderes Wort für den propagandistischen Missbrauch durch Kräfte, die ganz anderes im Sinne haben als die gewaltfreie Regelung der menschlichen Verhältnisse. So gaben sich die Nationalsozialisten in den ersten Jahren ihrer Herrschaft als inbrünstige Verteidiger des Weltfriedens aus, um die westliche Öffentlichkeit über ihre wahren Absichten zu täuschen. Mit ihrer verlogenen «Friedens»-Rhetorik gelang es der NS-Propaganda, den Westen derartig einzulullen, dass er auf rechtzeitige Aufrüstung verzichtete und Hitler die «friedliche» Annexion Österreichs, des Sudetenlandes und schliesslich des übrigen tschechischen Gebiets ungestraft durchgehen liess. Die nur allzu verständliche Sehnsucht der westlichen Demokratien nach Erhaltung des Friedens führte zur Verleugnung und damit zur Vergrösserung der realen Kriegsgefahr.

Vernebelungsstrategie

Noch konsequenter als das NS-Regime machte der sowjetische Totalitarismus den Ruf nach «Frieden» zum Kernstück seiner ideologischen Vernebelungsstrategie. Ob es der Pakt mit Hitler 1939 mit der daraus folgenden Annexion Ostpolens und des Baltikums oder ob es die Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1956 und Prag 1968 sowie der Bau der Berliner Mauer 1961 waren – stets gaben die kommunistischen Führer ihre Gewaltpolitik als «Friedenssicherung» gegen die vermeintlichen finsteren Kriegsabsichten des westlichen «Imperialismus» aus.

Dementsprechend unterwanderten sie während des Kalten Kriegs systematisch «Friedensbewegungen» in den westlichen Demokratien. Und in diesem Sinne spekulieren heute Propagandisten Putins von links und rechts nicht ohne Erfolg auf diffuse Kriegsängste und pazifistische Reflexe in weiten Teilen der demokratischen Öffentlichkeit. Demagogisch machen sie den Westen für eine drohende «Eskalation» in der Ukraine verantwortlich und unterminieren damit die demokratische Widerstandsbereitschaft gegen Russlands völkermörderische Aggression.

Dafür nutzen sie die Meinungsfreiheit aus, die eines der kostbarsten Güter einer freiheitlichen Demokratie, zugleich aber auch deren Achillesferse ist. Ermöglicht sie es doch den Desinformationsapparaten autoritärer Mächte, ihre zerstörerischen Botschaften unter dem Deckmantel der freien Rede in die demokratischen Gesellschaften einzupflanzen. Gegen diesen Missbrauch zeigt sich die Öffentlichkeit der freien Welt bis jetzt völlig unzureichend gewappnet.

Heisst das nun aber, dass die pluralistischen Demokratien von ihren liberalen Grundsätzen abrücken müssten, um sich gegen autokratische Mächte zu behaupten? Im Gegenteil: Die Tendenz zum Nachgeben gegenüber dem neuen Autoritarismus ist dem schwindenden Bewusstsein für den unschätzbaren Wert und die überlegene Kraft dieser Grundsätze geschuldet. Auf diese eigene Stärke gilt es sich wieder intensiv zu besinnen. Um den Ansturm des neuen Autoritarismus abzuwehren, müssen die liberalen Demokratien nicht nur ihre militärischen, sondern auch ihre ideellen Abwehrkräfte massiv stärken.

Richard Herzinger lebt als freier Publizist in Berlin. Seit kurzem ist seine eigene Website online: «Herzinger – hold these truths».

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Wolfgang Krug

Das Paradebeispiel für westlichen Defätismus ist Scholz. Er steckt buchstäblich in Putins Tasche. Deutschland: die Züge fahren nicht, die Flieger fliegen nicht, die Industrie wandert ab, das Land ist in Liquidation. Dass die Ukraine für uns alle den Kopf hinhält, begreifen die Zauderer und Angsthasen nicht. Am verächtlichsten: Scholz.

Jürg Simeon

Danke, ich hoffe etliche Foristen lesen diesen Artikel in der Hoffnung, dass sie ihr Denken, ihre Haltung resp. Nichthaltung erkennen. Die Schwäche der Demokratien ist auch ihre Stärke. Die Demokratien zögern zuerst, diskutieren, suchen nach Lösungen. Die Diktaturen haben einen Startvorteil, sie befehlen. Man sah dies typisch im zweiten Weltkrieg. Dann aber sind sie im Vorteil, dank der besseren Wirtschaft, Entscheidungen werden breiter abgestüzt. Durch das Internet ist russische Propaganda wirksamer geworden, Trolls selbst bei der NZZ möglich, die Ängstlichen eine leichte Beute. Wir haben die Ukraine bis jetzt mit dem kleinen Finger unterstützt, es ist höchste Zeit den Daumen zu aktivieren!