Erklärt

Putin steht in Russland 2024 erneut zur Wahl – gibt es eine ernsthafte Opposition? Eine Videoanalyse

Wladimir Putin tritt bei den Wahlen 2024 ohne nennenswerten Gegenkandidaten zu seiner fünften Präsidentschaftskandidatur an. Warum es die Opposition in Russland so schwer hat.

Isabelle Pfister, Michelle Amstutz, Markus Ackeret
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Video-Skript

Am 17. März 2024 wird Wladimir Putin zum fünften Mal zum russischen Präsidenten gewählt. Und ja, wir wissen das auch schon vor dem 17. März ‒ weil es keinen Gegenkandidaten gibt.

Aber warum eigentlich nicht? Es befürworten wohl kaum alle 144 Millionen Russinnen und Russen den aktuellen Präsidenten.

Markus Ackeret: Sie machen halt die Faust im Sack und sagen sich: Ich kann sowieso nichts dagegen tun. Also muss ich jetzt halt einfach damit leben, dass der wiedergewählt wird.

Als Putin 2012 wiedergewählt wurde, waren viele Menschen auf den Strassen Russlands zu sehen. Und jetzt? Jetzt ist die Faust im Sack, und die Strassen sind leer.

Was ist mit der Opposition in Russland passiert?

Je mehr sich der Kreml unter Putin radikalisiert, desto weniger sichtbar wird die Opposition. Wir zeigen, wie Putin mit Gesetzesänderungen in den letzten zwölf Jahren die Basis für sein Regime der Angst gelegt ‒ und damit die Opposition beinahe komplett unterdrückt hat.

Markus Ackeret: Es geht insgesamt natürlich um Machterhalt um jeden Preis. Man will für immer jeden politischen und gesellschaftlichen Prozess kontrollieren können.

Wir beginnen unsere Analyse im Jahr 2012, als Wladimir Putin zur Wiederwahl antritt ‒ nachdem er schon von 2000 bis 2008 Präsident der Russischen Föderation war.

Seine Kandidatur stösst bei vielen Russinnen und Russen auf Unmut, den sie schliesslich auch auf der Strasse kundtun. Die Opposition ist laut und sichtbar. Noch. Denn: Die Massenproteste rund um die Wahlen 2012 sind der Anfang vom Ende der Versammlungsfreiheit. Sie war zwar schon vorher eingeschränkt ‒ jede Demonstration brauchte eine Bewilligung der lokalen Behörden ‒ aber durch die Proteste verschärft sich die Situation.

Jetzt drohen den Demonstrantinnen und Demonstranten hohe Geldstrafen. Gleichzeitig wird die Liste von Beschränkungen und möglichen Verstössen immer länger. Und alle paar Jahre kommen neue Verschärfungen dazu.

Die Proteste 2012 führen zu einer weiteren Neuerung: Wenn es nach der Regierung geht, ist die Bevölkerung gar nicht wegen der Politik oder wegen Putin unzufrieden, sondern weil der Westen die Russinnen und Russen manipuliert.

Dieser «böse ausländische Einfluss» trägt in Russland seither den Namen иностранный агент, übersetzt heisst das: ausländischer Agent. Nichtkommerzielle Nichtregierungsorganisationen, kurz NKO genannt, müssen sich jetzt als «ausländische Agenten» ausweisen, wenn sie Zuwendungen aus dem Ausland erhalten. Was genau als «Zuwendung aus dem Ausland» zählt, ist nirgends konkret definiert.

Markus Ackeret: Mittlerweile geht es auch offiziell im Gesetz gar nicht mehr um einen Nachweis von ausländischer Finanzierung. Es reicht schon ausländische Beeinflussung. Und was ist das schon? Das kann sehr vieles sein. Es geht eigentlich nur noch darum, Leute zu brandmarken, die eine aus Sicht des Staates falsche Meinung vertreten und entsprechend dann als Beeinflusser gelten.

Seit 2017 können die Behörden ausländische Medien und Organisationen in Russland als ausländische Agenten klassifizieren. Seit 2020 können die Behörden auch Privatpersonen registrieren.

Das Jahr 2020 markiert einen Bruch. Da ist zum einen die Verfassungsänderung: Jetzt ist klar, dass Putin für weitere zwei präsidiale Amtszeiten zugelassen ist ‒ er könnte also noch bis 2036 russischer Präsident bleiben.

Zum anderen werden weitere Gesetze radikal verschärft, das Strafmass wird immer brutaler, der Spielraum für die Opposition vernichtend klein. Die Pandemie ist für Putin der perfekte Vorwand für ein absolutes Versammlungsverbot. Ein Verbot, das bis zum heutigen Tag steht. Wer es trotzdem wagt zu demonstrieren, riskiert nicht nur den gewaltsamen Arrest, sondern auch das Straflager.

Markus Ackeret: Seither kennt die Repression in dem Sinne fast keine Grenzen mehr. Es wird alles unter dem Aspekt der nationalen Sicherheit, der Abwehr ausländischer Bedrohung, behandelt.

Welches absurde Ausmass die Repression seit 2020 angenommen hat, zeigt die Liste der ausländischen Agenten. Inzwischen reicht die schwammige Begründung der «organisatorischen oder methodischen Unterstützung aus dem Ausland» für eine Registrierung; die Liste wird seither länger und länger. Seit Kriegsausbruch wird sie jeden Freitag aktualisiert.

Bis heute wurden über 900 ausländische Agenten eingetragen, unter ihnen Musikerinnen der aktivistischen Punkband Pussy Riot, Medienunternehmen wie die Deutsche Welle, ganz zu schweigen von zahlreichen unbekannten Privatpersonen.

Markus Ackeret: Was es für den Staat zu einem beliebten Instrument macht, ist, dass es Leute in eine Gruppe einteilt. Und wenn man mal zu dieser Gruppe gehört, spielt es eigentlich gar keine Rolle mehr, was man sich als Individuum noch zuschulden kommen lässt aus Sicht des Staates oder was man für Fehler macht, wie man sich auch verhält, wie man sich vielleicht zu schützen versucht. Das ist gar nicht mehr relevant, sondern man wird in diese Gruppe eingeteilt und nachher als Gruppe behandelt.

Das bedeutet auch: Wer einmal als ausländischer Agent registriert ist, fällt automatisch unter weitere Gesetzesverschärfungen. Dass jemand von der Liste gestrichen wird, passiert kaum ‒ ausser die jeweilige Organisation hat sich aufgelöst.

So gibt es beispielsweise Greenpeace oder einzelne Zweigstellen des Roten Kreuzes nicht mehr in Russland, weil sie wegen des Status des ausländischen Agenten nicht mehr so wirken konnten, wie sie das wollten.

Ein nächster Einschnitt folgt mit dem Krieg gegen die Ukraine. Ab dem 24. Februar 2022 wird die Repression noch stärker, Kritik an der Invasion ist verboten. Putin möchte das Bild des unangefochtenen Staatsoberhaupts wahren. Er verschärft die Zensurgesetze: Die neuen Paragrafen sehen Strafen für die Diskreditierung der Armee sowie das Verbreiten von Falschnachrichten über die Armee vor ‒ ein effektives Mittel, um die Leute zum Schweigen zu bringen.

Unter dem Vorwand der inneren Sicherheit weitet die Duma auch die Gesetzgebung gegen «Verräter» aus. Zum Beispiel gilt die «Gefährdung der Staatssicherheit» neu als Hochverrat. Die Strafe: lebenslange Haft. Was genau als «Gefährdung der Staatssicherheit» zählt, ist nicht definiert.

Markus Ackeret: Was alle diese Gesetze auszeichnet, ist ihre willkürliche Anwendung. Das sind alles sehr weit auslegbare Gesetze. Und das erleichtert es den Behörden, gegen missliebige Personen immer irgendetwas zu finden, wenn man dann mal etwas finden will.

In Russland gibt es also immer mehr Gesetze, die stetig verschärft werden und die jeglicher Opposition die Arbeit praktisch verunmöglichen. Die Opposition hat nicht nur wegen der Gesetze kaum Spielraum übrig, sondern auch wegen des allgemeinen Misstrauens in der Gesellschaft.

Markus Ackeret: Es gibt ja auch mittlerweile recht viele Leute, die andere anschwärzen, denunzieren. Und das führt natürlich dazu, dass die Leute viel, viel weniger gewillt sind, mit Fremden über ihr Befinden und über ihre Gedanken zu sprechen. Und das erst recht in einem nicht geschützten Raum.

Viele schweigen also. Und die meisten, die nicht schweigen, sind aktuell im Exil oder im Gefängnis. Während die Oppositionellen im Gefängnis ein gewisses Prestige-Image haben, verlieren ehemals laute Stimmen der Opposition innerhalb Russlands ihren Ruf. Denn:

Markus Ackeret: Sie sind entfernt von der russischen Wirklichkeit, verlieren ein bisschen das Gespür dafür, was wirklich unter der Oberfläche vorgeht und was das bedeutet, was an der Oberfläche sichtbar ist. Und entsprechend ist ihr Einfluss einfach beschränkt.

Oft können sie nur indirekt Einfluss ausüben. Ein Beispiel dafür ist der ehemalige Moskauer Politiker und heutige Exil-Youtuber Maxim Katz. Der inzwischen in Tel Aviv lebende Katz hat Anfang des Jahres einen Aufruf gestartet:

«(They need 2500 signatures from 40 different regions.) What if my viewers from Russia visit Nadezhdinʼs headquarters to leave their signatures?»

Boris Nadeschdin wollte am 17. März der Gegenkandidat Putins sein. Wie viel Einfluss Katz’ Aufruf via Youtube hatte, ist nicht belegbar. Aber: Nadeschdin hat es geschafft, innerhalb weniger Tage 200 000 Unterschriften zu sammeln. Die Bilder der Menschenschlangen vor den provisorischen Wahlbüros gingen um die Welt.

Markus Ackeret: Das war eigentlich das Besondere. Dass dann die Leute hingegangen sind und diese Unterschriften geleistet haben. Das ist deshalb natürlich zusätzlich ‒ gerade vor dem Hintergrund dieser Angst, die in der Bevölkerung durchaus herrscht, wenn man eben anderer Meinung ist ‒ durchaus ein Zeichen gewesen, weil man sich ja nicht nur da hinstellt und dadurch schon etwas signalisiert, sondern man gibt ja sogar tatsächlich seinen Namen, seine ganzen Daten liefert man dem Staat aus und übergibt ihm quasi eine Art Datensatz über die Leute, die diese Meinung vertreten. Und das brauchte schon etwas Mut.

Nadeschdin hat am Ende 105 000 Unterschriften eingereicht, damit hätte er das Soll von 100 000 Unterschriften für eine Kandidatur erreicht. Kurzzeitig hat es so ausgesehen, als hätte Putin doch einen ernst zu nehmenden Gegenkandidaten am 17. März. Doch die Wahlkommission hat nur 95 000 der Stimmen für gültig befunden, eine Registration Nadeschdins hat sie entsprechend abgelehnt. Die angeblich formalen Gründe sind ‒ wie so oft ‒ nicht nachvollziehbar.

Markus Ackeret: Einerseits ist es vielleicht von der Furcht getrieben, dass wenn man mal irgendwo etwas zulässt, dass dann ein Stein ins Rollen kommt, der dann nicht mehr zu kontrollieren ist. Man will so eine Dynamik gar nicht erst zulassen, die dann unter Umständen doch unten ausser Kontrolle geraten könnte.

Der Kontrollwahn des Kremls erreicht am 16. Februar 2024 seinen vorläufigen Höhepunkt: Russlands bekanntester Oppositioneller, Alexei Nawalny, stirbt im Straflager ‒ mutmasslich durch Mord.

Mit dem Ableben Nawalnys verliert die russische Opposition ihr bekanntestes Gesicht und eine politische Figur, die viele Kreml-Kritiker wohl gerne als Nachfolger Putins gesehen hätten.

Der Kreml hat Nawalnys Tod als Randnotiz im Staatsfernsehen verkündet. Trotzdem haben im ganzen Land Unterstützerinnen und Unterstützer Blumen und Kerzen in Gedenken an Nawalny niedergelegt. Am 1. März haben sich Tausende Menschen rund um die Kirche versammelt, in der Nawalny beigesetzt wurde ‒ eine Art indirekter, aber legaler Protest gegen den Kreml.

Markus Ackeret: Das ist spontan erfolgt und brauchte ebenfalls Mut, weil auch dort die Leute kontrolliert wurden. Auch dort gab es Festnahmen. Man konnte sich da relativ leicht aus Sicht der Polizei gegen die Gesetze verhalten. Das ist gerade in der jetzigen Zeit ein sehr beachtliches Zeichen, weil eben der Mut, den das erforderte, den musste man erst mal aufbringen und die Angst auch überwinden und die Konsequenzen, die das mit sich bringt, im Auge behalten.

Alexei Nawalny war und bleibt ein Symbol der russischen Opposition. Er hat sich nie Angst anmerken lassen, auch nicht nach dem Giftanschlag 2020. Er ist 2021 wieder nach Russland zurückgekehrt, wo er noch am Flughafen festgenommen wurde.

Nach seinem Tod hat seine Ehefrau, Julia Nawalnaja, angekündigt, die Arbeit ihres Mannes fortzusetzen. Sie reiht sich damit in die Liste der Exil-Oppositionellen ein. Die Gesetze sind aktuell so scharf und die Strafen so hoch, dass Nawalnaja in Russland nicht frei leben und wirken könnte.

Markus Ackeret: Es gibt natürlich eben noch ein paar wenige Politiker, die in Russland geblieben sind und oppositionelle Ansichten vertreten. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten treten die ab und zu irgendwo auf, in kleineren Runden, oder äussern sich über ihre Kanäle in den sozialen Medien.

Nur sorgt der Kreml mit allen Mitteln dafür, dass die Oppositionellen mundtot gemacht werden. Dabei geht er nicht nur gezielt gegen die lauten Kritiker vor, sondern eben auch gegen die stillen.

Putins Regime der Angst hat vor allem in den letzten vier Jahren dafür gesorgt, dass in Russland lieber geschwiegen als protestiert wird. Der Druck auf die russische Gesellschaft hat seit Beginn des Angriffskrieges im Februar 2022 noch einmal zugenommen.

Markus Ackeret: Dass man aktiv dazu gezwungen wird, sich positiv zu äussern, sich unterstützend zu äussern, zu dem, was die Politik macht. Und das ist natürlich noch ein zusätzlicher Schritt in Richtung der Kontrolle von allem und auch des Zwangs zur aktiven Beteiligung an dem, was passiert.

Der Druck auf die russische Bevölkerung wird auch in Putins fünfter Amtszeit als Präsident nicht kleiner werden. Vielmehr wird er alles dafür tun, auch die letzten kritischen Stimmen und Gedanken zu vertreiben ‒ egal wie viele Gesetze er dafür noch verschärfen muss.