Europa muss rasch aufrüsten, um den Frieden zu erhalten – das wird uns teuer zu stehen kommen. Aber es gibt keine Alternative, wenn wir weiter in Sicherheit leben möchten.
Er hat den Europäern einen schönen Schrecken eingejagt. Der gerne forsch auftretende französische Präsident Emmanuel Macron hat diese Woche in Paris erklärt, der Einsatz westeuropäischer Bodentruppen in der Ukraine sei nicht ausgeschlossen.
Der Satz schoss wie eine Schockwelle durch den Kontinent. Eigene Truppen in der Ukraine? Selbst kämpfen im blutigen Krieg gegen die Russen? Das kann, das darf doch nicht sein. Für einen Augenblick sahen viele das Privileg in Gefahr, an das sich Westeuropa so sehr gewöhnt hat: Krieg nur noch aus sicherer Distanz zu kennen.
Wie gerne würden wir dieses Privileg als zivilisatorischen Fortschritt bewahren, für alle Ewigkeit. Aber der brutale Angriff Russlands auf die Ukraine hat diese Friedensgewissheit jäh zerstört.
Falls der französische Präsident aufrütteln wollte, so tat er dies mit seinem flotten Spruch auf sehr ungeschickte Weise. Er musste dafür sofort viel Kritik einstecken, im In- und Ausland. Denn damit entblösste sich Europa wieder einmal als uneiniger Haufen ohne Anführer – die vielbeschworene deutsch-französische Achse fällt mit dem schweigsamen Scholz und dem redseligen Macron praktisch komplett aus.
Westeuropa hat sich mit den fast einhellig ablehnenden Reaktionen als Kontinent entlarvt, der nichts so scheut wie den Gedanken, für seine eigene Freiheit zu kämpfen. Putin im fernen Moskau wird davon genau Notiz genommen haben.
Abschreckung ist nur Abschreckung, wenn sie glaubwürdig ist. Genau damit hat Europa ein riesiges Problem. Das hat nicht an erster Stelle mit dem Präsidentschaftsanwärter Donald Trump zu tun – jenem Mann, der schon während seiner ersten Präsidentschaft öffentlich Zweifel an der Bündnistreue der USA schürte und vor zwei Wochen Putin explizit dazu einlud, europäische Nato-Mitglieder anzugreifen, die nach Trumps Gusto nicht genug in die Wehrbereitschaft der Nato investierten.
Das Hauptproblem ist auch nicht die durch zahlreiche kriselnde Rüstungsprojekte bewiesene europäische Unfähigkeit, in der Verteidigungspolitik effizient zusammenzuarbeiten. Das ist eher der Normalzustand in einem Bündnis, das kein Bundesstaat ist. Die Mitgliedstaaten haben ihre eigenen Interessen, die EU ist primär ein Vehikel, um diese auf Kosten anderer zu erreichen. Deshalb ist die EU laut den Verträgen richtigerweise nicht für die Verteidigung zuständig.
Das Grundproblem ist vielmehr: Die vor über dreissig Jahren durch das Ende des Kalten Kriegs ermöglichte Friedensdividende war grossartig. Doch diese schöne Zeit ist seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine definitiv Geschichte. In Europa herrscht wieder Krieg, und jedes Land muss seine Sicherheit mit grösseren Anstrengungen verteidigen.
Die Verteidigungshaushalte aller westlichen Staaten sind bis vor Kriegsbeginn auf historisch einmalig tiefe Niveaus heruntergefahren worden. Das eingesparte Geld floss überwiegend in wachsende Sozialausgaben. Eindrücklich zeigten dies die Kieler Ökonomen Christoph Trebesch und Johannes Marzian an der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz: Während der Anteil der Verteidigungsausgaben an den Staatshaushalten der G-7-Länder nach dem Zweiten Weltkrieg von rund 30 Prozent unter 10 Prozent sank, hat sich der Anteil der Sozialausgaben auf über 40 Prozent mehr als verdoppelt.
Selbst ehemals weltweit führende Militärnationen wie Frankreich und Grossbritannien haben seit dem Ende des Kalten Kriegs ihre Streitkräfte ausgehungert. Während Grossbritannien zur Mitte der achtziger Jahre 5,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts in sein Militär steckte, waren es 2022 noch 2,2 Prozent des BIP. In Frankreich schrumpften die Ausgaben im gleichen Zeitraum von 3,2 auf 1,9 Prozent. Deutschland brachte 2022 1,4 Prozent vom BIP für das Militär auf, in der Schweiz waren es bloss 0,8 Prozent. Die Folgen sind für alle sichtbar: unterbesetzte Truppenbestände, eingemottete Panzer, fluguntüchtige Kampfflugzeuge, pannenanfällige Flugzeugträger und Munitionsvorräte, die nach ein bis zwei Wochen Krieg komplett verschossen wären.
Nun braucht es wieder ein Umsteuern, und zwar rasch und energisch. Im letzten Jahr stiegen die Verteidigungsausgaben im durch den Ukraine-Krieg aufgeschreckten Westeuropa laut dem Think-Tank IISS um 4,5 Prozent. Doch sie betrugen im Durchschnitt immer noch bloss 1,6 Prozent des BIP. Die Nato-Staaten kamen zusammen knapp auf die schon vor einem Jahrzehnt vorgesehenen 2 Prozent. Das wird nicht mehr genügen. Die europäischen Staaten sollten sich wie früher mindestens 3 Prozent als Zielmarke setzen, um der Herausforderung von Putins Imperialismus standzuhalten.
Das bedeutete für Europa eine Erhöhung der Verteidigungshaushalte um mehr als 50 Prozent, und zwar nicht einmalig, sondern jährlich wiederkehrend. Die Dimensionen sind gewaltig: Eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben um 1 Prozent des BIP bedeutete allein für die kleine Schweiz fast 8 Milliarden Franken pro Jahr, für Deutschland rund 40 Milliarden Euro.
Sind die Bürger auf dieses Opfer vorbereitet? Mitnichten. Statt über einen höheren Verteidigungshaushalt stimmen die Schweizer Bürger an diesem Wochenende über eine überflüssige Erhöhung der staatlichen Altersrenten um 4 bis 6 Milliarden Franken pro Jahr ab. Auch im übrigen Europa wachsen die Sozialprogramme überall munter weiter. Von einem Bewusstsein, dass der durch die Friedensdividende genährte Boom der Sozialausgaben vorbei ist, fehlt jede Spur.
Wenn das so weitergeht, gefährdet Europa seine eigene Sicherheit in fahrlässiger Weise. Denn nur durch Abschreckung kann es sich den neuen russischen Imperialismus vom Leib halten. Ein mächtiges, wehrhaftes Europa wird Putin nicht angreifen. Ein verschlafener, naiver Kontinent wäre dagegen in grosser Gefahr. Deshalb müssen Europas Politiker schnell umsteuern. Folgende Schritte sind nötig:
Brutaler und klarer als mit Russlands Angriff auf die Ukraine kann die neue Bedrohungslage gar nicht demonstriert werden. Westeuropa darf sich nach zwei Jahren Krieg nicht daran gewöhnen, es muss konsequent darauf reagieren. Sonst ist plötzlich nicht nur die Friedensdividende vorbei, sondern auch eine historisch einmalige Phase von Frieden und Prosperität. Auch wenn es teuer ist – es lohnt sich, dem drohenden Rückfall in die Barbarei des Krieges durch eine entschlossenere Abschreckung der Aggressoren vorzubeugen.
Herr Rásonyi hat selbstverständlich mit jedem Wort recht. Der Gedanke, Krieg sei ein Anachronismus, sitzt bei vielen so fest, dass sie auf diesen Kommentar mit der unpassenden Kritik "Kriegstreiberei" reagieren, bequem ausklammernd, dass nur Putin der Kriegstreiber ist und die Ukraine sich gegen einen imperialistischen Überfall wehrt, mit dem übrigens auch wir gemeint sind. Deshalb spielt Scholz dem Kreml in die Hände mit seiner Weigerung, die stärkste vorhandene Waffe zu liefern. Die "Friedensfreunde" kommen sich grossartig vor, wenn sie Verhandlungen fordern, aber Putin sieht sich als Sieger und versteht unter Verhandlungen die Kapitulation der Ukraine. Unsere Moskau-Anwälte wären dazu bereit. Wir echten Kriegsgegner nicht!
Anlässlich zahlreicher Friedenstauben hier im Forum eine gute Gelegenheit, an den von gleicher Seite gern als Russland-Freund vorgeführten Helmut Schmidt zu erinnern. Der Nato-Doppelbeschlus zur Stationierung atomare Mittelstreckenraketen in D war eine von ihm 1977 lancierte Initiative, für die er sich gegen grossen politischen Widerstand einsetzte, und die letztlich einen entsprechenden beidseitigen Abrüstungsvertrag zur Folge hatte. Zu propagieren, Putin sei mit guten Worten in Schach zu halten, ist entweder unglaublicher Naivität, oder einer russlandfreundlichen Agenda geschuldet.