Interview

In der Schweiz bröckelt der gesellschaftliche Kitt: «Identifiziert sich diese Elite noch mit dem Land und seinen Institutionen?»

Der Historiker Oliver Zimmer sieht den Gemeinsinn schwinden. Dies sei einem Liberalismus geschuldet, der die Institutionen aus dem Blick verloren habe. Zimmer nimmt die Eliten aus Wirtschaft und Politik in die Pflicht.

Christoph Eisenring, Thomas Fuster 198 Kommentare 7 min
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Macht sich Gedanken über das, was die Schweiz zusammenhält: der Historiker Oliver Zimmer.

Macht sich Gedanken über das, was die Schweiz zusammenhält: der Historiker Oliver Zimmer.

Karin Hofer / NZZ

Herr Zimmer, Sie beschäftigen sich als Historiker seit Jahren mit der Schweiz. Was ist die Essenz dieses Landes?

Wohl der Föderalismus, die halbdirekte Demokratie und die Idee, dass der Bürger den Staat ausmacht. Dazu kommt ein ordnungspolitisches Bewusstsein der Bevölkerung, dass man also für Wettbewerb und Markt eintritt. Das kennt man in anderen Ländern kaum.

Es heisst oft, der gesellschaftliche Kitt im Land bröckle. Stimmt das?

Ja, es gibt Anzeichen, dass sich der Gesellschaftsvertrag auflöst.

Was macht diesen Gesellschaftsvertrag aus?

Es gibt drei Säulen: Erstens einen Bürgerstaat, der auf Föderalismus und Subsidiarität basiert. Zweitens eine Elite, welche die Grenzen ihrer Souveränität in Parlament und Regierung respektiert. Und drittens die Identifikation der Elite mit den Institutionen dieses Gemeinwesens – man könnte auch von einem institutionellen Patriotismus sprechen. Sind die drei Säulen intakt, übernehmen die Bürger im Gegenzug Verantwortung und handeln ordnungspolitisch.

Nennen Sie ein Beispiel für solche Verantwortung.

Die Initiative zu «6 Wochen Ferien für alle» wurde 2012 klar abgelehnt. Im Ausland rieb man sich die Augen und verstand nicht, warum ein Volk gegen mehr Ferien votiert. In der Schweiz aber begriffen die Leute, dass sie Mehrausgaben hereinholen müssen.

Und heute fehlt solche Verantwortung? So stösst die Idee einer 13. AHV-Rente auf breite Zustimmung.

Ja, weil die Elite ihre Vorbildfunktion oft nicht mehr wahrnimmt. Die Identifikation mit den Institutionen bröckelt. Es gibt eine gewisse Nonchalance, gerade bei der Debatte über ein institutionelles Abkommen mit der EU. Jetzt müsste das Parlament ernsthaft debattieren über die Grenzen seiner Macht und seine Verpflichtung gegenüber jenen, die es repräsentiert. Man müsste reflektieren, ob man mit einer institutionellen Annäherung einen Point of no Return schafft. All dies findet nicht statt. Ich frage mich: Identifiziert sich diese Elite noch mit dem Land und seinen Institutionen?

Warum erodiert die Identifikation?

Vielleicht weil man vergessen hat, wie stark der bisherige Erfolg der Schweiz sich den genannten Institutionen verdankt. Man sieht nicht mehr, dass unsere Flexibilität zu Rahmenbedingungen geführt hat, die oft besser sind als in der EU. In der Schweiz gibt es Steuerkonkurrenz, in der EU dominiert die Subventionskultur. Da wundere ich mich, warum aus der Wirtschaft nicht mehr Gegenwehr kommt.

Viele Wirtschaftsvertreter argumentieren, zur Verteidigung des Wohlstands müsse Souveränität abgegeben werden.

Es überrascht nicht, dass einige Sektoren so argumentieren. Und es überrascht nicht, dass sich viele Firmen aufgrund der Personenfreizügigkeit gern aus dem riesigen EU-Pool an Arbeitskräften bedienen. Wenn man die Happy Hour ausruft, wollen viele profitieren. Doch was gewissen Firmen hilft, ist nicht unbedingt gut für das Land, seinen Wohlstand und Zusammenhalt. Ich habe den Eindruck, dass ein Teil unserer Elite die Schweiz nur noch als Wirtschaftsraum sieht, nicht mehr als Ort mit einer Kultur, Geschichte und Eigenheit.

Was würde mit dem Gesellschaftsvertrag passieren, wenn das EU-Abkommen, wie es heute vorliegt, unterzeichnet würde?

Es käme zu einem massiven Souveränitätsverlust und zu einer weiteren Erosion des Gesellschaftsvertrags. Denn die EU-Position ist klar. Die EU hat ihre Spielregeln und ihr Verständnis einer Rechtsgemeinschaft. Sie gibt dem Europäischen Gerichtshof, dem EuGH, die oberste Entscheidungsmacht. Er ist neben der Kommission der Treiber der Integration. Dagegen legitimiert sich in der Schweiz die Rechtsgemeinschaft vor allem demokratisch. Diese Differenz gilt es zu akzeptieren.

Und diese Differenz kann nicht überbrückt werden?

Genau. Deshalb ist eine automatische Rechtsübernahme mit dem EuGH als oberstem Gericht nicht kompatibel mit unseren Institutionen und unserer Wirtschaftsverfassung. Die Schweiz verlöre ihre Flexibilität. Sie begäbe sich auf einen Prozess der europäischen Staatsbildung – das offenkundige und legitime Ziel der EU.

Die Befürworter einer EU-Anbindung sagen, man könnte ja weiterhin Referenden durchführen.

Das kann man nicht ernst nehmen. Wenn die Schweiz anders abstimmen würde, als dies die EU will, würde Brüssel – sekundiert vom Schweizer Parlament – die Daumenschrauben anziehen. Und die Schweiz geriete in dieselbe absurde Situation wie Irland, das mehrmals über denselben EU-Vertrag abstimmen musste, bis das Ergebnis der EU passte.

Im Zuge der Globalisierung ist die ökonomische Elite – etwa in den Konzernleitungen – internationaler geworden. Sie interessiert sich kaum noch für nationale Belange.

Das ist so. Tatsache ist aber auch, dass die politischen Eliten ebenfalls grosse Lücken zu haben scheinen bezüglich Geschichte und Staatskunde. Man denke etwa an die peinliche Veranstaltung zu 1848 im Bundesparlament mit Clowns, die sich über die Schweiz lustig machten. Oder an die zeitgeistig-substanzlosen Diskussionsveranstaltungen zu 1848 im Landesmuseum. Das war bezeichnend für das Fehlen von Ernsthaftigkeit und historischem Bewusstsein.

Internationaler geworden sind nicht nur die Firmenleitungen. Auch 40 Prozent der Bevölkerung haben einen Migrationshintergrund und nicht dieselbe Sozialisation wie frühere Generationen.

Die Schweiz war bisher erfolgreich beim Integrieren der Zugezogenen. Heute ist das infrage gestellt, weil Integrieren schwieriger wird, wenn mehr Leute kommen. Die Aufgabe der Politiker wäre es umso mehr, den Zugewanderten die Stärken unseres Gemeinwesens zu erklären.

Und das tun sie zu wenig?

Wenn sich die Elite nur noch begrenzt identifiziert mit unseren Institutionen und die Geschichte nicht mehr ernst nimmt, dann darf man sich nicht wundern, wenn die Zugezogenen das Land nur noch als Wirtschaftsraum betrachten. Sie sagen sich dann: Man verdient mehr Geld hier, Infrastruktur und Landschaft sind top – aber sonst ist es einfach Europa, wie überall sonst.

Es fehlt die Verankerung?

Im Zuge der Globalisierung kam es zur Unterscheidung zwischen den Somewheres, also den Irgendwo-Menschen, und den Anywheres, den Überall-Menschen. Letztere kommen ins Land, zahlen ihre Steuern, und das war’s. Diesen Trend spürt man auch in der Schweiz mit ihrer im internationalen Vergleich extrem hohen Zuwanderung.

Was wäre die Alternative?

Anstatt EU-Zentrismus und Wachstum in die Breite wäre ich für ein demokratisiertes Modell Singapur. Wenn schon Weltoffenheit, dann bitte konsequent. Man holt sich die besten Leute weltweit, steuert die Zuwanderung selber, ohne Rücksicht auf den Pass der Bewerber. Ich habe mein halbes Leben im Ausland verbracht. Der Weltoffenheitswahn unseres Establishments hat etwas Provinzielles. Man sitzt seit Jahrzehnten in diesem kleinen Land und glaubt, diese Situation durch Teilhabe an etwas Grösserem kompensieren zu müssen. Es ist aber nicht provinziell, einen anderen Weg zu gehen. Provinziell ist, wer partout nicht ausscheren will.

Ein Beispiel?

Viele Kantonsvertreter setzen sich kaum noch ein für Steuerkonkurrenz, Subsidiarität und halbdirekte Demokratie. Ich finde es einen Skandal, dass die Konferenz der Kantone kein Ständemehr einfordert bei der Abstimmung über ein EU-Abkommen. Es macht den Anschein, als verstünden sich die Regierungsräte als Agenten des Bundes und seiner Direktiven – fast schon wie im französischen Modell.

Kommen wir von der EU zurück zur Abstimmung vom 3. März. Laut Umfragen ist die Zustimmung zur 13. AHV-Rente auch bei bürgerlichen Wählern hoch. Das ist erklärungsbedürftig.

Das Interessante an dieser Abstimmung ist in der Tat nicht die Haltung der Linken, die sich eine Vergrösserung ihrer Klientele erhoffen. Erklärungsbedürftig sind die Befürworter unter den an sich bürgerlichen Wählern. Ökonomisch verhalten sich diese kurzfristig rational und maximieren ihren Nutzen. Wenn man 60 oder älter ist, gibt es rational kaum ein Argument gegen eine 13. AHV-Rente. Man kriegt dann noch 25 Jahre jeweils 2000 Franken mehr pro Jahr. Man muss ordnungspolitisch schon sehr diszipliniert denken, dass man da nicht zugreift.

Eine mögliche Erklärung ist, dass der Staat jüngst ziemlich freigebig mit Milliarden umgegangen ist, etwa gegenüber Banken und Stromkonzernen. Da sagt manch einer: «Jetzt bin ich einmal dran.»

Ja, das ist plausibel, aber sehr kurzfristig gedacht. Deshalb ist ein Gesellschaftsvertrag so wichtig. Die schöne Idee dahinter: Man ist solidarisch und übernimmt Verantwortung, wenn die anderen das auch tun. Doch die ordnungspolitische Weitsicht des Stimmbürgers wurde bisher als selbstverständlich betrachtet, quasi als Naturgesetz.

Wie kann man die Weitsicht des Souveräns stärken?

Die Vorbildfunktion der Elite ist in der Schweiz viel wichtiger als in Frankreich oder Deutschland. Einerseits kreieren wir mit unserer direkten Demokratie ein skeptisches Volk, eines, das den angeblich Wissenden und Weisen widerspricht. Anderseits schaffen wir eine Nähe zu den Eliten, die volksnah kommunizieren müssen, wollen sie sich Gehör verschaffen. Wenn sich das Establishment in Politik oder Wirtschaft ordnungspolitisch fragwürdig verhält, kann das schnell negative Folgen haben.

Wenn die Elite Vorbild sein will, gehört dazu auch eine gewisse Bodenständigkeit. Im Zuge der Globalisierung werden in der Schweiz zuweilen enorme Löhne gezahlt. Der Novartis-Chef hat 2023 über 16 Millionen Franken verdient. Braucht es da staatliche Leitplanken?

Ich bezweifle, dass staatliche Regulierung hilft, da die Firmenlenker dann woanders hingehen. Und es ist nicht ein kaum zu rechtfertigender Lohn bei guter Leistung, der das Vertrauen unterminiert, sondern es sind Leute, die enorm viel verdienen, obwohl sie auf der ganzen Linie versagt haben.

Hinzu kommt das Nomadentum vieler Manager, die nach wenigen Jahren weiterziehen.

Die global agilen Manager sind Anywheres: Sie gehen dorthin, wo es den besten Vertrag gibt. Es gibt aber auch noch einige wenige Somewheres unter den Wirtschaftslenkern, die zu den Institutionen stehen.

Ihre Sympathien liegen klar bei den Somewheres, weil sie den Gesellschaftsvertrag aufrechterhalten?

Es gibt zwei Arten von Liberalismus. Der eine orientiert sich strikt am Individuum, ist im Grunde ahistorisch. Der andere Liberalismus berücksichtigt auch das Gemeinwesen und damit die gewachsenen Institutionen wie den Sozialstaat, die Demokratie oder die Infrastruktur. Dieser zweite Liberalismus ist der nachhaltigere.

Aber es scheint, dass die individualistische Art des Liberalismus den politischen Wettbewerb gewinnt.

Ja, dagegen muss man kämpfen. Der rein individualistische Liberalismus ist eine destruktive Kraft. Der Liberalismus der Somewheres ist sich dagegen bewusst, dass er auf einem Fundament von Institutionen steht. Edmund Burke hat gesagt, die Gesellschaft sei eine Partnerschaft zwischen Toten, Lebenden und Ungeborenen. Sie ist also mehr als das Hier und Jetzt. Wir stehen auf den Schultern von Generationen. Diese haben Fehler gemacht, es sind keine Engel. Aber sie haben in diesem Land auch Institutionen geschaffen, von denen wir profitieren.

Für mehr demokratische Teilhabe

cei./tf. Der in Thalwil geborene Oliver Zimmer hat über 20 Jahre lang in Grossbritannien gelebt. Er ist denn auch schweizerisch-britischer Doppelbürger. Von 2005 bis 2021 war Zimmer Geschichtsprofessor an der Universität Oxford. 2022 kehrte er in die Schweiz zurück. Er ist Research Director beim Zürcher Forschungsinstitut Crema (Center for Research in Economics, Management and the Arts) sowie Senior Fellow am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Sein jüngstes Buch «Mehr Demokratie wagen» hat er zusammen mit dem Ökonomen Bruno S. Frey geschrieben. Darin plädieren sie dafür, eine moderne Demokratie zu schaffen, in der nicht die Gebildeten und Profipolitiker den Ton angeben.

198 Kommentare
S. B. H.

Sehr gutes Interview. Ich bin 62 und werde im März zur 13. AHV-Rente NEIN stimmen, weil ich die links-populistische Initiative als Zumutung für die kommenden Generationen empfinde. 

Christoph Henrici

Hervorragendes Interview! Die Schweiz ist tatsächlich im Sog einer abgehobenen Elite und einer bürokratisch diktatorischen EU, die undemokratischer nicht sein könnte. 

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