Kommentar

AHV-Ausbau: Schweiz, wie sozialistisch willst du werden?

Die 13. AHV-Rente für alle ist masslos. Doch wenn der Staat mit dem Geld unsinnig um sich wirft, muss er sich nicht wundern, wenn die Ansprüche laufend steigen.

Katharina Fontana 492 Kommentare 6 min
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Illustration Simon Tanner / NZZ

Pierre-Yves Maillard weiss, wie man Geschichten erzählt. Er kenne eine Rentnerin, sagte der Gewerkschaftschef jüngst an der Albisgütli-Tagung der SVP, die nur noch ein Zimmer in ihrem Haus mit einem Elektro-Öfeli heizen könne, da ihr das Geld für die Tankfüllung fehle. Die Frau habe ihr ganzes Leben gearbeitet und zwei Kinder grossgezogen. Und nun habe sie kein Geld, um ihr Haus zu heizen. Ergänzungsleistungen erhalte sie auch keine, weil sie eben ein kleines Haus besitze. Deshalb brauche es die 13. AHV-Rente. Die Geschichte geht ans Herz. Alte Leute sollten nicht allein in ihrem Haus sitzen und frieren und jeden Franken umdrehen müssen.

Auch Matthias Müller hat ein Beispiel. Es sei falsch, Sergio Ermotti eine 13. AHV-Rente zu finanzieren, sagt der Präsident der Jungfreisinnigen, der nicht nur nichts von Maillards Initiative für eine 13. AHV-Rente hält, sondern seinerseits das Rentenalter auf 66 Jahre anheben will. Wer möchte Müller widersprechen? Auch wenn man die finanziellen Verhältnisse des UBS-Chefs Ermotti nicht näher kennt, ist anzunehmen, dass er dereinst auch ohne Zusatzrente gut über die Runden kommen wird.

Im Abstimmungskampf, der am 3. März an der Urne entschieden wird, geht es meist um Zahlen. Die Gewerkschaften rechnen vor, um wie viel das Leben für die Rentner teurer geworden sei: Mieten, Prämien, Lebensmittel. Der Bundesrat rechnet vor, wie viel eine 13. AHV-Rente kosten würde: bald einmal 5 Milliarden jährlich. Die Medien rechnen vor, dass es den Rentnern heute finanziell besser gehe als den Jungen und sie keinen Grund zum Jammern hätten. Das wiederum bringt die Pensionierten in Rage: Sie finden es ehrenrührig, als Gruppe von Profiteuren dargestellt zu werden, die sich ihre Kreuzfahrten von den Jungen finanzieren lassen. Schliesslich sei man auch einmal jung gewesen und habe in die Sozialwerke eingezahlt.

Das Steuergeld wird verpulvert

Doch es geht um weit mehr als bloss um Zahlen. Viele Bürger fühlen sich vom Staat offenbar nicht gerecht behandelt. Um einen NZZ-Leserbriefschreiber zu zitieren: Man habe kein Geld für alte Menschen, «aber Milliarden für die EU, für die Auslandhilfe, das Asylwesen, die EDV-Misswirtschaft, Garantien für Hochseeschiffe und so weiter». Diese Haltung zieht sich bis weit in die bürgerlichen Kreise hinein.

Das bringt etliche Politiker in eine schwierige Lage, denn die Kritik, dass der Staat nach allen Seiten grosszügig Geld verteile, trifft leider zu. Wie will man glaubhaft die Giesskanne der 13. AHV-Rente bekämpfen, wenn man andernorts ebenfalls zur Giesskanne greift? Ein Beispiel: Die Mitte und die Grünliberalen lehnen die 13. AHV-Rente zwar ab, doch gehören sie zusammen mit den Linken zu den eifrigsten Befürwortern einer Subventionierung von Familien. Geht es nach ihnen, sollen demnächst alle Eltern für die Krippenbetreuung Geld vom Bund erhalten, egal, ob sie mit 6000 Franken im Monat durchkommen müssen oder Sergio Ermotti heissen. Die neue Sozialleistung würde die Allgemeinheit geschätzt eine Milliarde Franken pro Jahr kosten, Tendenz stark steigend. Gibt es irgendeinen vernünftigen Grund, warum der Staat Paare mit 10 000 oder 20 000 Franken Monatseinkommen unterstützen soll? Wer so leichtfertig den Sozialstaat ausbaut und das Steuergeld verpulvert, muss sich nicht wundern, wenn die Ansprüche auch von anderer Seite wachsen.

Gleichzeitig ist offensichtlich, dass dieser Weg des masslosen Geldverteilens in die Irre führt. Und er passt auch nicht wirklich zur hiesigen Mentalität. Die Schweiz verstand sich lange als eine Art Genossenschaft, in der jeder etwas gibt und jeder etwas bekommt und in der niemand die Allmend stürmt und plündert. Auch heute zählt die Schweiz noch nicht zu jenen Ländern, wo man sich beim Staat hemmungslos bedient und holt, was es zu holen gibt – bis die Kasse irgendwann leer ist. Der eine oder andere libertäre Zeitgenosse mag die Vorstellung ja reizvoll finden, dass den Sozialwerken möglichst schnell das Geld ausgehe, der ausgreifende Wohlfahrtsstaat ans Ende komme und Katharsis und Läuterung einträten. Viel wahrscheinlicher ist hingegen, dass die Schweiz, wenn sie bei den Ausgaben einfach so weitermacht, in eine lähmende Schuldenwirtschaft gerät und die Belastung für den Mittelstand erdrückend wird.

Mit dem AHV-Ausbau würde man einen grossen Schritt in diese Richtung gehen. Die Gewerkschaften haben die Frage elegant offengelassen, wer die Milliardenbeträge für die soziale Wohltat bezahlen soll. Sie behaupten unverfroren, dass die AHV-Kasse so gut gefüllt sei, dass sich die Zusatzrente problemlos einführen und die ersten paar Jahre bezahlen lasse. Wer sich den AHV-Haushalt nüchtern anschaut, sieht, dass dem keineswegs so ist und das Sozialwerk im Handumdrehen finanziell ausbluten würde. Müsste die Schweiz ab 2026 allen Pensionierten eine Zusatzrente zahlen, wäre das Sozialwerk bereits 2027 im Milliardenminus; 2033 läge das Defizit bei 7 Milliarden. Der AHV-Ausgleichsfonds könnte 2033 nicht einmal mehr die Hälfte der Jahresrenten garantieren.

Schleichende Enteignung

Es ist klar, was die Folge wäre: Um die AHV nicht untergehen zu lassen, müssten entweder die Lohnbeiträge oder die Mehrwertsteuer steigen oder beides. Dabei ist die letzte Rettungsaktion zugunsten der AHV noch nicht lange her. Erst vor vier Jahren wurden die Lohnabgaben erneut erhöht, und auf Anfang 2024 stieg die Mehrwertsteuer ein weiteres Mal. Auch wenn die Schweiz von den Spitzensätzen, die in vielen EU-Ländern gelten, noch einiges entfernt ist, kann man keineswegs zufrieden sein. Die Leute werden auch hierzulande in kleinen Schritten enteignet und müssen alle paar Jahre ein bisschen mehr von ihrem Einkommen abgeben. Dieses Geld kommt nie mehr zurück, die Belastung wird nie mehr sinken. Das ist nichts anderes als schleichender Sozialismus. Das kann nicht der Weg der Schweiz sein.

Zudem geht es dem Grossteil der Rentner anständig bis gut. Die meisten können – auch dank ihrer Leistung und Sparsamkeit – ein angenehmes Leben führen. Von den insgesamt 2,5 Millionen Altersrentnern wohnt ein Drittel im Ausland; in Portugal, Serbien oder Thailand ist man noch weniger auf eine Zusatzrente angewiesen als in der Schweiz. Nicht wenige Ältere sind zudem in der komfortablen Lage, jeden Monat Geld zur Seite zu legen und ihr Vermögen zu vergrössern. Die 13. AHV-Rente würde bei ihnen also nicht ausgegeben, sondern dürfte auf dem Konto und früher oder später bei den Erben landen, die sich über 50 000 Franken oder mehr zusätzlich sicher freuen würden.

Es ist auch nicht so, dass die Schweiz die bedürftigen Rentner im Stich lässt. Für jene, die im Alter nur wenig Geld zur Verfügung haben, gibt es die Ergänzungsleistungen (EL), und es ist schlicht nicht einsichtig, warum dieses System plötzlich nicht mehr genügen soll. Mag sein, dass einzelne Gemeinden es den alten Leuten gerne schwermachen, ihren Anspruch auf EL einzulösen, und das ist schändlich. Doch wenn es beim Vollzug hapert, muss man dort ansetzen und nicht eine 13. AHV-Rente für alle einführen. Auch das Argument, dass die Kantone und Gemeinden unterschiedlich grosszügig seien, spricht nicht gegen die EL. Tatsächlich erhalten im Kanton Appenzell Innerrhoden ein Drittel so viele Pensionierte Ergänzungsleistungen wie in Basel-Stadt, wo es rund 20 Prozent sind. Das heisst aber noch nicht, dass das System mangelhaft ist und deshalb die AHV ausgebaut werden muss. Vielleicht leben in Appenzell auch einfach mehr Leute, die ihrer betagten Mutter Geld fürs Heizen geben – man nennt das Familiensolidarität.

Unbeliebt, aber unumgänglich

Das Absurde an der AHV-Abstimmung ist, dass man ernsthaft über einen Ausbau diskutiert statt darüber, wie sich das Sozialwerk überhaupt sichern lässt. Matthias Müller und seine Jungfreisinnigen zeigen mit ihrer Renteninitiative die Richtung vor: Das Alter für die Pensionierung muss schrittweise auf 66 Jahre erhöht und dann an die Lebenserwartung gekoppelt werden. Mehrere europäische Länder, darunter Finnland und Schweden, machen vor, wie es geht. Die Initianten bekommen wohl keinen Beliebtheitspreis, doch ihr Begehren ist absolut richtig. Die Leute leben länger, und die Bevölkerung besteht nicht zur Hauptsache aus Bauarbeitern und Pflegerinnen, denen man ein früheres Rentenalter gönnt. Früher oder später wird man auch ausserhalb der FDP anerkennen müssen: Der AHV geht das Geld aus, das Rentenalter muss erhöht werden.

Die Schweizerinnen und Schweizer waren bei den Finanzen und der sozialen Sicherheit lange Zeit konservativ eingestellt und lebten das, was man heute gerne als nachhaltig bezeichnet. Die AHV-Abstimmung wird zeigen, ob dem noch immer so ist. Oder ob man sich neu als «Club Med»-Land versteht und das Buffet räumt, solange noch etwas da ist.

492 Kommentare
Jürg Simeon

Die Stärke der Schweiz liegt auch im masshalten, in einer gewissen Nüchternheit.  Der Vorschalg zur 13. AHV Rente ist das Gegenteil davon. Ich bin überrascht wie viele Rentner die eigene Gier, Abzockerei schön reden.  Da kommen Sätze wie "Ich habe das ganze Leben lang gearbeitet", "die anderen bedienen sich auch" usw. Ich hoffe die jüngeren Jahrgänge gehen abstimmen gegen diese unsinnige finanzielle Belastung die schnell durchschlägt und hoffe aufs masshalten der Rentner.  

Jean Claude Hügli

Die 13. AHV wäre unnötig, wenn man endlich die sog. Heiratsstrafe abschaffen würde. Warum erhalten verheiratete Rentner nur rund 75 % ihrer Rente, währenddem unverheiratete Paare, die ebenfalls in nur einem Haushalt leben, die volle Rente bekommen? Das ergibt einen Unterschied zu Lasten der Verheirateten von immerhin rund 1200 Franken monatlich. Hinzu kommt auch der steuerliche Nachteil infolge der höheren Progression, weil die Einkommen der verheirateten Paare addiert werden und damit auch mehr Steuern anfallen. Auch hier sind unverheiratete Paare wesentlich besser gestellt, weil sie separat und somit zu einem tieferen Progressionssatz zur Kasse gebeten werden. Hier hätte man also ansetzen müssen und die Forderung einer 13. AHV wäre vom Tisch. Ich verstehe sowieso nicht, warum trotz des heutigen Genderwahns, also Gleichheit für alle in allen Bereichen, noch immer eine derartige Diskriminierung von verheirateten Paaren möglich ist.

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