Kommentar

Die AHV-Abstimmung wird zum Prüfstein für das Erfolgsmodell der Schweiz

Die Einstellung der Schweizer zum Staat erlebt einen radikalen Wandel. Selbst die AHV gilt für viele nur noch als Selbstbedienungsladen.

Albert Steck 4 min
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Bei der Abstimmung um die 13. AHV-Rente stehen Milliarden auf dem Spiel. Im Kern aber geht es um die Frage, welches Land die Schweizerinnen und Schweizer wollen.

Bei der Abstimmung um die 13. AHV-Rente stehen Milliarden auf dem Spiel. Im Kern aber geht es um die Frage, welches Land die Schweizerinnen und Schweizer wollen.

Peter Klaunzer / Keystone

«Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.» Diesen Satz sprach John F. Kennedy bei seiner Antrittsrede als amerikanischer Präsident vor gut 60 Jahren. Die Worte bringen das Selbstverständnis einer erfolgreichen Demokratie auf den Punkt. Gerade wir Schweizer sind stolz auf unser eigenverantwortliches Handeln. Im Gegenzug profitieren wir von demokratischen Freiheiten, die weltweit wohl einmalig sind.

Bisweilen werden die Schweizer auch belächelt für ihren ausgeprägten Bürgersinn: Wie ist es möglich, dass ein so reiches Land das Begehren nach mehr Ferien abschmettert? Effektiv verwarf das Stimmvolk im Jahr 2012 die Initiative «6 Wochen Ferien für alle» mit einem wuchtigen Nein-Anteil von 67 Prozent.

Verlockungen für einen Ausbau des Sozialstaates stiessen beim Souverän stets auf Skepsis. So kamen bisher neun verschiedene Vorlagen für höhere AHV-Leistungen an die Urne: Keine einzige erzielte eine Mehrheit. Zuletzt schickte das Volk 2016 die Initiative «AHV plus» bachab. Eine satte Mehrheit lehnte es damals ab, die Renten um 10 Prozent zu erhöhen.

Ist dieses typisch schweizerische Staatsverständnis gerade am Kippen? Am 3. März steht die Vorlage für eine 13. AHV-Rente zur Abstimmung. Laut ersten Umfragen stösst das Anliegen auf breite Sympathie bis ins bürgerliche Lager hinein – trotz den enormen Kosten von 5 Milliarden Franken pro Jahr.

Fatale Anspruchshaltung

Die derzeitige Rentendebatte steht als Sinnbild für einen Mentalitätswandel: Die Frage, was man für sein Land tun kann, kümmert immer weniger. Stattdessen greift eine fatale Anspruchshaltung um sich. Ungeniert macht man die hohle Hand beim Staat. Dieser hat für das eigene Glück zu sorgen. Dafür bezahlen sollen aber gefälligst die anderen, zum Beispiel «die Wirtschaft» oder «die Reichen».

Häufig hört man als Erklärung: «Wenn der Bund den Grossbanken mit Milliarden unter die Arme greift, so liegt auch ein Zustupf für die Rentner drin.» In der Tat erwecken diese Rettungsprogramme den – falschen – Eindruck, der Staat könne beliebig viel Geld aus seinem Füllhorn verteilen. Auch die exzessiven Managerboni haben den Sinn für das Gemeinwesen beschädigt. Als das Stimmvolk 2013 die «Abzocker-Initiative» mit grosser Mehrheit annahm, war dies ein Warnsignal.

Der gesellschaftliche Kitt geht allmählich verloren – und damit die Hemmung, dem Staat auf der Tasche zu liegen. Ob wir nun in einer städtischen Wohnung leben oder Bio-Fleisch essen: Stets fliessen im Hintergrund Steuergelder. Wie töricht wäre es folglich, das Geschenk einer höheren Rente auszuschlagen?

Dass die AHV gar nicht genügend Geld dafür hat, scheint viele Leute nicht zu kümmern. Später, so die Überzeugung, können wir ja immer noch die Steuern erhöhen. Vergessen wird dabei allerdings, was das Schweizer Erfolgsmodell ausmacht: Den Wohlstand verdanken wir der florierenden Wirtschaft, den unzähligen neu geschaffenen Arbeitsplätzen mit den weltweit höchsten Löhnen.

Übermässige Steuern zerstören aber genau diesen Motor. Auch die AHV kann nur jenen Wohlstand verteilen, der zuvor erarbeitet wurde. Wenn die Lohnabzüge steigen, dann lohnt sich die Arbeit weniger. Somit wird es attraktiver, das Pensum zu reduzieren und mehr Freizeit zu konsumieren – womit auch die Einnahmen des Staates erodieren.

Der ausgeprägte Bürgersinn hat die Schweiz stark gemacht. Die Landsgemeinden, wie hier in Glarus, haben ihn gefördert. Geht dieses Staatsverständnis gerade verloren?

Der ausgeprägte Bürgersinn hat die Schweiz stark gemacht. Die Landsgemeinden, wie hier in Glarus, haben ihn gefördert. Geht dieses Staatsverständnis gerade verloren?

Keystone

Solche wirtschaftlichen Gründe führten damals zur Ablehnung von sechs Wochen Ferien. Doch es scheint, als würden sich mehr und mehr Leute darum foutieren. «Ich habe mein ganzes Leben in die AHV eingezahlt», lautet ein beliebtes Argument. «Deshalb will ich mein Geld wieder zurückbekommen.» Nur ist diese Logik falsch, denn die AHV basiert, anders als ein Sparschwein, auf dem Prinzip der Solidarität zwischen Jung und Alt. Jede Generation verdient sich ihre Rente dadurch, dass sie eigene Nachkommen grosszieht, welche ihnen dereinst den Ruhestand finanzieren. Die rekordtiefe Geburtenrate schadet somit der AHV.

Die Krux mit der Giesskanne

Warum aber missverstehen immer mehr Bürgerinnen und Bürger staatliche Institutionen wie die AHV als Selbstbedienungsladen? Paradoxerweise hängt dies just mit dem Ausbau der sozialen Wohlfahrt zusammen. Der Kreis der Profiteure aus der staatlichen Umverteilung ist über die Jahre ständig gewachsen. Je zahlreicher sie sind, desto grösser wird auch ihre politische Macht, um sich zulasten einer Minderheit – in diesem Fall der Jungen – weitere Vorteile zuzuschanzen.

Das ist die unerbittliche Logik des Giesskannenprinzips: Man verteile das Geld möglichst breit, dann werden an der Urne auch mehr Stimmbürger Ja sagen. Dass effektiv nur ein kleiner Teil der Rentner wirklich arm ist, spielt plötzlich keine Rolle mehr. Dieses süsse Gift der Subventionen bläht den Staatsapparat auf und lähmt die Eigeninitiative der Menschen. Schon heute gehen von 100 Franken, die der Staat insgesamt aufwendet, 40 Franken in Sozialtransfers.

In einer Vollkasko-Gesellschaft werden die Bürger dazu erzogen, das Heil für all ihre Probleme beim Staat zu suchen. Ein solches Land ist aber nicht dasjenige, von dem Kennedy träumte. Zum Schluss seiner Rede erklärte er: «Fragt, was wir gemeinsam tun können für die Freiheit des Menschen.» Bei der kommenden AHV-Abstimmung geht es um sehr viel Geld. Wichtiger aber noch ist die Frage, in was für einem Land wir künftig leben wollen.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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