Kommentar

Die Zweistaatenlösung ist ein ferner Traum

Washington und Brüssel dringen auf die Gründung eines palästinensischen Staates. Sie liegen damit auf der richtigen Seite der Moral und der falschen Seite der Realität. Israel hat andere Prioritäten – mit guten Gründen.

Peter Rásonyi 230 Kommentare 5 min
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Illustration Simon Tanner / NZZ

Noch sprechen im Gazastreifen die Waffen. Doch wenn diese dereinst zum Schweigen kommen, soll ein neuer Friedensprozess für den Nahen Osten zur Gründung eines palästinensischen Staates führen. So sieht es jedenfalls der Aussenbeauftragte der Europäischen Union, Josep Borrell. Zu diesem Zweck präsentierte er zu Wochenbeginn einen Friedensplan in zehn Punkten.

Ähnlich wie Borrell äussert sich der amerikanische Präsident Joe Biden, der seit Wochen unermüdlich eine Zweistaatenlösung fordert. Auch die Regierungen wichtiger arabischer Staaten wie Ägyptens, Jordaniens, Saudiarabiens oder der Vereinigten Arabischen Emirate stimmen zu: Es brauche endlich eine Zweistaatenlösung, damit Frieden im Nahen Osten einkehre.

Vortäuschen von Handlungsfähigkeit

Aber warum haben die Palästinenser bei so viel Einhelligkeit nicht schon längst ihren eigenen Staat, nachdem die Staatengemeinschaft seit mehr als dreissig Jahren darüber debattiert und verhandelt hat? Viele Kommentatoren scheinen die Antwort und den Schuldigen zu kennen: Israel sperrt sich gegen die Gründung eines palästinensischen Staates in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Dieses Faktum lässt sich leicht belegen, rühmt sich doch ausgerechnet der langjährige israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu damit, ebendiese Entwicklung verhindert zu haben – und weiterhin zu blockieren.

Warum also das neue Gerede von einer Zweistaatenlösung? Natürlich wissen auch die EU-Aussenminister und das State Department, dass sie nicht unmittelbar bevorsteht. Dass die westlichen Spitzenpolitiker dennoch diesen Schritt vehement fordern, hat primär mit ihren eigenen Interessen zu tun: Die Vision von zwei Staaten, in denen Israeli und Palästinenser friedlich nebeneinander leben, einen respektvollen Dialog und einen vorteilhaften wirtschaftlichen Grenzverkehr pflegen, ist ein wundervoller Kontrast zum täglichen Töten und Terrorisieren, das mit dem Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober und dem darauf folgenden Gaza-Krieg einen traurigen Höhepunkt erreicht hat.

Wer diese Vision propagiert, steht automatisch auf der richtigen Seite der Moral, zumindest in Europa und Amerika. Er suggeriert Entschlossenheit und Handlungsfähigkeit angesichts eines weltweit vielbeachteten Krieges, der jeden Tag Tod und Zerstörung bringt. Das ist eine attraktive Position für Politiker, die sich ihren Wählern präsentieren müssen – erst recht in einem «Superwahljahr». Besonders Biden braucht eine positive Vision für die Palästinenser, nachdem sein klarer Beistand für Israel viele linke Wähler gegen ihn aufgebracht hat.

Gleichzeitig nützt das Dringen auf eine Zweistaatenlösung paradoxerweise auch dem israelischen Regierungschef Netanyahu. Es gibt ihm Gelegenheit, sich in Israel als zuverlässigen Verteidiger der Interessen der nationalen Sicherheit zu präsentieren. Denn Netanyahu weiss genau, dass nach dem Schock des 7. Oktober der Grossteil der Israeli hinter seiner Obstruktionspolitik gegen einen palästinensischen Staat steht. Gleichzeitig gibt ihm die Debatte über die Zweistaatenlösung Gelegenheit, von der Wut der Bevölkerung auf seine Regierung abzulenken, welche das Land nicht vor dem schlimmsten Terroranschlag in der jungen Geschichte Israels hat schützen können.

Fortschreitende Marginalisierung der Palästinenser

Die Hamas konnte im Gazastreifen relativ ungestört ihr mörderisches Arsenal aufbauen, weil Israel und seine Armee 2005 aus dem Gebiet abgezogen waren und es der palästinensischen Selbstverwaltung überlassen hatten. Dieser Schritt wird heute von vielen in Israel als Fehler und Ursache für die Bedrohung durch die Hamas gesehen.

Die Bereitschaft, in noch viel grösserem Umfang einen analogen Schritt im Westjordanland zu machen, ist deshalb gering. Israel beansprucht die möglichst direkte Kontrolle über die eigene Sicherheit, auch im Westjordanland. Es gibt derzeit keine andere regionale Macht, welche diese Sicherheit garantieren könnte.

Lange ist das auch gutgegangen. Nach dem Ende der zweiten Intifada 2005 und besonders in der zweiten Regierungszeit Netanyahus ab 2009 fokussierte sich das Land darauf, die eigene Sicherheit durch intensive Geheimdiensttätigkeit, militärische Kontrolle im Westjordanland, den Bau hochtechnologischer Sperranlagen an den Grenzen sowie die Entwicklung des Raketenabwehrsystems Iron Dome zu verstärken.

Nadelstichartige Terroranschläge und Raketenangriffe auf israelisches Territorium gab es weiterhin, aber im grossen Ganzen ging die Rechnung auf. Israel wiegte sich in relativer Sicherheit, die Wirtschaft blühte, die Bevölkerung wuchs. Die Anliegen der benachbarten Palästinenser rückten immer weiter in den Hintergrund, sowohl im regionalen wie im geopolitischen Kontext. Zuletzt folgten im Rahmen der Abraham-Abkommen gar bedeutende Schritte der bilateralen Normalisierung mit arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko, selbst mit der regionalen Grossmacht Saudiarabien rückte ein Abkommen in Griffweite.

Zurück zur trügerischen Ruhe vor dem 7. Oktober

Der 7. Oktober hat diese trügerische Ruhe jäh zerstört. Die von Netanyahu geprägte Doktrin, Sicherheit lasse sich auch ohne Frieden mit den Palästinensern durch eigene Stärke garantieren, ist an der blutigen Realität des Hamas-Terrors zerplatzt. Das Vertrauen in die eigenen Geheimdienste, in Grenzsperren und Hightech-Überwachungssysteme ist angeschlagen. Sollte Israel zu dem Schluss kommen, dass dies nicht mehr reicht und es für die eigene Sicherheit ein Friedensabkommen mit den Palästinensern benötigt, könnten Verhandlungen zu einer Zweistaatenlösung eine Perspektive erhalten.

Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Netanyahu sieht wie viele Israeli gerade in einem unabhängigen palästinensischen Staat, in dem viele Bewohner das Existenzrecht Israels ablehnen, die grösste Bedrohung. Als Alternative zur Zweistaatenlösung gilt für sie, weiterhin auf Abschreckung, militärische und technologische Überlegenheit, neue und bessere Grenzanlagen und noch mehr Überwachung und Repression durch die israelischen Sicherheitskräfte zu setzen. Die derzeit zu beobachtende Sprengung von Gebäuden am Rand des Gazastreifens, die zum Bau einer von Netanyahu erwähnten Pufferzone dienen könnte, ist ein Hinweis in dieser Richtung. Israel würde damit im Wesentlichen zum Zustand vor dem 7. Oktober zurückkehren, ebenso zur täglichen Normalität von Misstrauen, Hass und Tod auf beiden Seiten.

Besonders in Europa und den USA wollen viele diese Perspektive nicht akzeptieren. Sie stemmen sich gegen die trostlose Realpolitik und forcieren die seit drei Jahrzehnten gescheiterte Idee der Zweistaatenlösung von neuem. Doch wenn sie es ernst meinen, sollten sie darauf hinwirken, zunächst die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Das beginnt mit der Sicherheit Israels. Nur wenn diese garantiert ist, könnte das Land vom Rückzug der sicherheitspolitischen Kontrolle über die palästinensischen Gebiete überzeugt werden – das gilt erst recht nach der Katastrophe des 7. Oktober. Eine erzwungene Gründung eines palästinensischen Staates gegen den Willen Israels, wie sie Borrell suggerierte, ist völlig abwegig.

Wer ausser Israel könnte für Sicherheit sorgen?

Nur schon auf diese erste Frage gibt es derzeit kaum realistische Antworten. Die USA als Schutzmacht Israels können nicht an die Stelle Israels als Besatzungsmacht treten und den Aufbau eines palästinensischen Staates begleiten, dafür sind sie in der Region zu verhasst. Zudem haben die USA mit China und Russland wichtigere geopolitische Herausforderungen.

Naheliegender wäre eine Schutzmacht aus arabischen Staaten, welche die Sicherheit in der Region garantiert. Darauf könnte der Westen mit Anreizen und diplomatischem Druck hinwirken. Doch trotz hochtrabenden Forderungen nach einer Zweistaatenlösung drängt sich bis anhin kein arabischer Staat vor, Truppen nach Palästina zu schicken und Verantwortung zu übernehmen. Und könnte Israel ehemaligen Erzfeinden wirklich seine Sicherheit anvertrauen? Würden diese auf palästinensische Terroristen schiessen, um Juden zu schützen?

Und das ist erst der Anfang. Neben der Sicherheitslage müsste auch der politische und wirtschaftliche Aufbau gefördert werden. Würden autokratische Regionalmächte wie Saudiarabien demokratische Wahlen in Palästina organisieren? Würden sie dessen wirtschaftliche Interessen oder doch nicht eher ihre eigenen voranstellen? Wer könnte endlich eine effiziente und integre Selbstverwaltung im Westjordanland und im Gazastreifen aufbauen? Und wie könnte selbst eine kooperative israelische Regierung nötige Konzessionen wie etwa die Aufgabe eines Teils der Siedlungen im Westjordanland innenpolitisch durchsetzen?

Die Zweistaatenlösung ist moralisch, wirtschaftlich und politisch die überlegene Vision für die palästinensischen Gebiete. Nur so ist nachhaltiger Frieden vorstellbar. Doch ihre Verwirklichung wird auf lange Zeit ein schöner Traum bleiben.

230 Kommentare
Wolfgang Krug

Was die Palästinenser mit einem eigenen Staat anfangen, dazu konnte man die Generalprobe vor dem 7. Oktober sehen: Sie rüsten auf, um einen Terrorangriff durchzuführen. Ihre eigene Bevölkerung ist der Hamas vollkommen gleichgültig. Sie hat nur ein Ziel: Israel in die Knie zu zwingen. Ihr Wehklagen um die Opfer des Krieges ist Heuchelei, sie opfert sie leichten Herzens für ihren Hass und Vernichtungsfeldzug. Wäre das anders, wenn sie einen Staat hätten? Nein, das sah man an Gaza. Ihre Agenda ist rein negativ, Töten, Töten. Wo haben Islamisten jemals eine gesunde, positive Zivilisation geschaffen? Nirgends.

L. M.

Wieso schwafeln die Linken weiterhin von einer Zweistaatenlösung? Ich verstehe das nicht. Die Palästinenser wollen keine Zweistaatenlösung. Zweistaatenlösung würde die Bereitschaft voraussetzen, mit dem Nachbarn in Frieden zu leben. Die Palästinenser wollen nicht mit ihrem Nachbarn in Frieden leben. Thema durch. Es kann für uns im demokratischen, freien Westen nur eine Haltung geben: wir stehen hinter der einzigen Demokratie im Nahen Osten.  Das Schicksal der Demokratiefeinde ist nicht unser Problem. Die Demokratiefeinde sollen selber ihre Probleme lösen. Wir müssen stattdessen alles unterstützen, was sich gegen die Demokratiefeinde engagiert. DAS ist Moral - nur Demokratie garantiert einigermassen Moral in der Realität des echten Lebens.