Gastkommentar

Erzählen, wie es gewesen ist – Arbeit an der Geschichte in einer entzauberten Welt

In einer Zeit schneller Wahrheiten, in der das postfaktische «Wissen» (oder das ideologische Immer-schon-gewusst-Haben) um sich greift, hat die Geschichtsschreibung einen schweren Stand. Zwar kennt die Historie viele Antworten nicht, stellt dafür aber die richtigen Fragen.

Bernd Roeck 96 Kommentare 6 min
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Chronisten im vormodernen Europa hatten keinen Zweifel daran, dass allein Gott den Gang der Geschichte bestimmt. Der Herr galt als Autor von drei grossen Büchern, über die er sich seinen Menschen mitteilte: der Bibel, der Natur und eben – der Geschichte. Himmelserscheinungen und andere Naturphänomene standen stets im Verdacht, Kommentare des Herrn zu Gegenwärtigem zu sein oder Kommendes zu prophezeien. Ein Erdbeben mochte den nahenden Tod eines Potentaten ankündigen, ein übers Firmament irrender Komet verhiess Wirren auf Erden.

Der Gang der Geschichte selbst erschien als Schauspiel, dessen Regisseur Gott war. Sie zeigte die guten Folgen guten Handelns, das als Lohn Siege und Kronen einbrachte. Und sie stellte die schlimmen Konsequenzen böser Taten vor Augen. Das Ende der ganzen Weltveranstaltung stand fest. Wie es sich gestalten würde, liess sich in der Offenbarung nachlesen. Bekanntlich kommt mit dem Jüngsten Tag absolute Gerechtigkeit über die Menschen. Die schlechten erwartet Verdammung, die guten ewige Seligkeit.

Eine Masse denkender Bakterienwesen

Noch Hegel vertrat die Auffassung, die «Welt des Wollens» sei nicht dem Zufall überlassen. Die «Begebenheiten der Völker» würden von einem letzten Zweck beherrscht. Dass die göttliche Vernunft in der Weltgeschichte wirke, hielt Hegel für eine Wahrheit, die keines Beweises bedürfe. Sie selbst sei «Bild und Tat der Vernunft». Kriege und Katastrophen nimmt er als Herausforderungen, die den Weltgeist nur dazu veranlassten, Neues und Besseres hervorzubringen. Unbeirrt ziehe er seinem Ziel zu – einem Paradies, in dem Freiheit herrsche und Rationalität alles Handeln bestimme.

Schon Jacob Burckhardt hatte für solche Träumereien nur Sarkasmus übrig. In den «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» schreibt er: «Dieses kecke Antizipieren eines Weltplanes führt zu Irrtümern, weil es von irrigen Voraussetzungen ausgeht.»

Es kann harte Lesearbeit sein, die Ursachen eines Konflikts – man denke etwa an die Gewalteskalation in Israel und Gaza – zu verstehen.

Im Verlauf des neuzeitlichen Säkularisierungsprozesses – der «Entzauberung der Welt», von der Max Weber spricht – stahl sich Gott allmählich aus der Geschichte. Ludwig Feuerbach machte aus dem Schöpfer des Menschen dessen Geschöpf, eine blosse Projektion menschlicher Phantasie. Und Hegels Widerpart Schopenhauer beschrieb die Menschheit als Masse denkender Bakterienwesen auf der erstarrten Rinde einer im Raum schwebenden Feuerkugel, wo sie «sich drängen, treiben, quälen, rastlos und schnell entstehend und vergehend, in anfangs- und endloser Zeit».

Das Bild scheint unserer Moderne mit ihren Kriegen und Krisen eher zu entsprechen als der Optimismus Hegels und seiner Erben.

Nicht erst seit Auschwitz fällt es schwer zu glauben, dass ein guter, allwissender, allmächtiger Gott die Geschichte in seinen sanften Händen hält. Die These des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama, nach dem Untergang der Sowjetunion hätten Demokratie und Liberalismus für immer gesiegt und das Ende der Geschichte sei gekommen, war nichts als Nachglimmen längst verglühter Hegel-Ideen. Und ob das Ende gut sein wird oder furchtbar, eine menschengemachte Katastrophe, weiss niemand. Lässt sich doch nicht einmal das Wetter für mehr als ein paar Tage mit Gewissheit voraussagen. Und Geschichte ist viel komplizierter als das Wetter.

Global geweiteter Blick

Vorerst hat sich die Geschichtsschreibung im Chaos des Schopenhauerschen Bakteriengewimmels zurechtzufinden. Der Auflösung traditioneller universalhistorischer Modelle entspricht die Ausfächerung der Themen historischer Forschung zu unüberschaubarer Vielfalt. Historie, das ist alles, so weit die Überlieferung reicht: Erfahrungen und Wissen der Menschen seit den Anfängen im Zwielicht des Mythos. Sie handelt vom Alltag des Volkes, rekonstruiert Geschlechterbeziehungen, geht den Schicksalen von verfolgten, gequälten, dem Tod geweihten Aussenseitern nach und erforscht selbst Träume. Der Blick hat sich ins Globale geweitet. Die grossen alten Themen, etwa die Geschichte von Staaten oder Biografien, werden darüber nicht vernachlässigt.

Vor 200 Jahren brachte Leopold von Ranke seine Sicht des Amtes der Historie mit einem heute vielzitierten Satz auf den Punkt: Sie solle nicht über die Vergangenheit richten und nicht belehren, vielmehr bloss sagen, «wie es eigentlich gewesen» sei. Schon diese Aufgabe ist nicht leicht zu erfüllen. Noch schwieriger ist es, zu erklären, warum etwas war. Der Philosoph Michel Serres bemerkt, Geschichte sei der «Ort der grossen Ursachen ohne Effekt, der gewaltigen Wirkungen aus nichtigen Gründen, der starken Folgen aus schwachen Ursachen, der strikten Effekte aus zufälligen Gründen».

Nimmt man Gottes Ratschluss aus der Geschichte und lässt ihr ein offenes Ende, kann die Macht blinden Zufalls – unbeabsichtigten Geschehens ohne jeden höheren Zweck – überragend sein. Der Historiker Jack Goldstone zum Beispiel erlaubte sich als Gedankenexperiment die winzige Modifikation des Geschehens in der Schlacht am Boyne, als der Protestant Wilhelm von Oranien am 11. Juli 1690 über seinen katholischen Rivalen Jakob siegte. Eine Kugel, die Wilhelm an der Schulter verletzte, hätte, um weniges tiefer, das Herz getroffen und ihn getötet. Die paar Zentimeter könnten gewaltige Bedeutung gehabt haben: Wäre der König gefallen, so Goldstone, wäre England katholisch geblieben, Frankreich zur europäischen Führungsmacht aufgestiegen und hätte die industrielle Revolution nicht stattgefunden. Wie wahrscheinlich ein solches Szenario ist, sei dahingestellt.

Kontrafaktische Spielereien wie diese können unterhaltsam sein, als besonders seriös gelten sie nicht. Dabei sind Versuche, tatsächliche Kipppunkte des Geschehens zu bestimmen, nicht minder spekulativ. Niemand weiss, ob Europas Geschichte anders verlaufen wäre, hätte Napoleon am 18. Juni 1815 bei Waterloo gesiegt. Dass damals tatsächlich eine «Weltminute» tickte, wie Stefan Zweig in seinen «Sternstunden der Menschheit» meint, ist keineswegs sicher. England hätte vielleicht erneut eine Koalition gegen den Imperator geschmiedet, um das Kräftegleichgewicht auf dem Kontinent wiederherzustellen.

Was Historiografie vermittelt, sind niemals Wahrheiten, wie sie etwa die Physik kennt. Penible Quellenkritik kann dennoch ziemlich genaue Vorstellungen davon vermitteln, was gewesen ist und welche Ursachen es hatte. Etwas historisch erklären heisst dann, eine auf Fakten gegründete Geschichte zu erzählen. Sie hat mit all dem Unberechenbaren, von dem Serres spricht, die Rechnung zu machen.

Nicht zuletzt deshalb sind manche historischen Bücher so dick und gibt es viele davon. In Abraham Lincolns Sterbehaus in Washington ist ein Bücherturm aufgeschichtet, über drei Stockwerke hoch, umkreist von einer Wendeltreppe: Bücher über Bücher, etwa 7000, alle nur über den Präsidenten und seine Zeit. Das Monument aus Papier und Pappe ist Symbol für die Komplexität historischer Forschung, selbst wenn sie nur mit dem Denken, Tun und Sterben eines einzigen Mannes umgeht.

Zu vielen anderen Themen liessen sich ganze Gebirge aus Büchern aufschichten. Es kann harte Lesearbeit sein, die Ursachen eines Konflikts – man denke etwa an die Gewalteskalation in Israel und Gaza – zu verstehen. Differenzierte Sichtweisen sind zudem im erregten öffentlichen Diskurs nicht leicht zu vermitteln. Die sozialen Netzwerke und Talkshows bevorzugen knappe Statements, nicht umständliche Erzählungen. Geschichte ist aber nicht einfach schwarz oder weiss. Übrigens wird oft übersehen, dass der Versuch, ein Geschehen zu erklären, nicht heissen muss, es auch zu legitimieren.

Aus der Geschichte lernen?

Zwar wiederholt sich Vergangenes niemals eins zu eins. Vergleiche, mögen sie auch Grenzen haben, vermitteln Einsichten in Allgemeineres: Wie Imperien aufsteigen und warum sie zerfallen. Wie Macht funktioniert. Warum Kriege ausbrechen und wie man Frieden schliesst. Wie Demokratie stirbt.

Ein Beispiel dafür, dass aus solchem Wissen Handlungsoptionen abgeleitet wurden, bietet die Reaktion auf die Subprime-Krise. Politikern und Ökonomen standen damals die verheerenden Folgen des New Yorker Börsencrashs vom 24. Oktober 1929 vor Augen: Konkurse, Arbeitslosigkeit, politische Radikalisierung. Ben Bernanke, damals Chef der amerikanischen Notenbank, hatte schon Jahre zuvor geschrieben: «Die Grosse Depression verstehen ist der Heilige Gral der Makroökonomie.» Anders als in der späten Weimarer Republik, als die deutsche Regierung ungeachtet der Krise bei ihrem Sparkurs blieb und eine Deflationspolitik verfolgte, setzten Regierungen und Zentralbanken jetzt auf niedrige Zinsen und milliardenschwere Konjunkturprogramme. So versuchte man, die Fehler von damals zu vermeiden.

Die Geschichte hält viele nützliche Lehren bereit. Allzu oft ist jedoch die Feststellung berechtigt, die Menschen hätten nichts aus ihr gelernt. Autoritarismus gewinnt rund um den Globus Zustimmung. Verbrecher in Anzug oder Uniform brechen Kriege vom Zaun. Schwadroneure mit ausgeprägtem PR-Talent gewinnen Stimmen mit Parolen, die uns schon in Reden von Faschisten und Nazis begegneten . . .

Man könnte so fortfahren. Und doch gibt es auf die Frage, ob sich wirklich aus der Geschichte lernen lässt, als Antwort allein die Gegenfrage: Aus was denn sonst?

Bernd Roeck ist emeritierter Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Aus seiner Feder stammt der 1300-seitige Band: «Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance» (2018).

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Herbert Schultz-Gora

Dank an Autor und Redaktion für diesen aufrüttelnden Kommentar. Könnten die Menschen aus der Geschichte lernen, würden die Männer sagen "ja, da ist wohl ein Krieg, aber hingehen tun wir nicht, weil da muss man SCHIESSEN oder wird ERSCHOSSEN... wozu soll das gut sein... ich bin doch kein (Selbst-) MÖRDER." Den (einfachen) Menschen haben Kriege nie was gebracht außer Leid und Zerstörung. Fährt man ins Elsass, faßt man sich an den Kopf, wie dort von Deutschen/Preussen und Franzosen um die Vorherrschaft gerungen wurde. Der Leidtragende war der Elsässer und der sagt "ich kann besser Französisch als Deutsch, aber mit mei'm Elsässisch komm' ich in Baden-Württemberg und der Pfalz zurecht". "Was Historiografie vermittelt, sind niemals Wahrheiten, wie sie etwa die Physik kennt. Penible Quellenkritik kann dennoch ziemlich genaue Vorstellungen davon vermitteln, was gewesen ist und welche Ursachen es hatte. Etwas historisch erklären heisst dann, eine auf Fakten gegründete Geschichte zu erzählen" schreibt der Autor. Das liegt natürlich daran, daß Historiker nicht die Kenntnisse in Psycho- und Sozio-Dynamik und in Psychotraumatologie haben, wie es dem heutigen Kenntnisstand der Psychiatrie und Psychotherapie entspricht. Wer nicht weiß, wie und warum die Uhr "tickt", kann sie kaum regulieren oder reparieren. Aber wer die Dinge erklären kann, dem droht Unbill, denn... "Übrigens wird oft übersehen, dass der Versuch, ein Geschehen zu erklären, nicht heissen muss, es auch zu legitimieren."

Berthold Grabe

Geschichtsschreibung in Deutschland unterliwgt seit der Nazizeit ideologischen Vorgaben, dss hat sich 45 nicht geändert. Massen an drittklassigen Historikern mühten sich unterwürfig ab, die Geschichte anhand der Niederlage als eine kontinuierliche Entwicklung zu fälschen durch ideologische Vorbedingungen und ähnlich wie bei der Kirche wurden dagegenstehende Erkenntnisse und Fakten ignoriert, für unbedeutend erklärt und unterdrückt. Bis britische Historiker den ideologischen Popanz durchbrachen. Heute ist klar, das die Hälfte der Interpretationen schlicht gefälscht ist, auf der die deutsche Staatsdoktrin gegründet ist. Was weder den Holocaust in seiner verbrecherischen Dimnension beeinträchtigt noch das verbrecherische Nazsystem rehabilitiert. Wohl aber die heutige Doktrin als reine Phantasie entlarvt, die nur einem Zweck dient, den Machterhalt der Kreise zu sichern, die sich fröhlich als Täter betätigten und im Grunde, nur mit weniger Gewalt, sich heute kaum weniger verlogen und unmoralisch verhalten und damit die aktuelle politische Situation geschaffen haben. Und sie wehren sich, in dem sie der Fata morgana noch ein neues Narrativ hinzufügen, die vermeintlich rechtsradikale Bedrohung, die schlicht nicht existent ist. Denn längst weis die Mehrheit im Lande, das man der Regierung nichts mehr glauben kann, das es unmöglich geworden ist bei ihr zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden und somit es unmöglich geworden ist objektive Wahlentscheidungen zu treffen.