Interview

Herr Somin, müsste man nach Ihrer Logik in der Schweiz auch 50 Millionen Menschen leben lassen?

Die Forderung ist radikal: Der Wissenschafter Ilya Somin plädiert für die weltweite Personenfreizügigkeit. Wer die innerstaatliche Mobilität befürworte, könne logisch zu keinem anderen Schluss kommen.

Christoph Eisenring 7 min
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Wenn in Zürich «Oper für alle» gegeben wird, rückt man auf dem Sechseläutenplatz ohne Murren zusammen.

Wenn in Zürich «Oper für alle» gegeben wird, rückt man auf dem Sechseläutenplatz ohne Murren zusammen.

Christian Beutler / Keystone

Herr Somin, Sie sind als Kind mit Ihren Eltern aus der Sowjetunion in die USA geflüchtet. Hat Ihr Plädoyer für freie Einwanderung mit Ihrer persönlichen Geschichte zu tun?

Nein, vielmehr habe ich mich damit beschäftigt, weshalb Menschen in den USA oder der Schweiz von einem Gliedstaat oder Kanton in einen anderen ziehen. Die internationale Migration ist eine Variante dieser Abstimmung mit den Füssen, die noch viel stärker wirkt.

Wie meinen Sie das?

Die Gewinne an Freiheit und Wohlstand sind bei internationaler Migration ungleich grösser, als wenn die Menschen von Basel nach Zürich ziehen.

Wenn Sie sagen, dass die Gewinne so riesig seien, weshalb wurde Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt und gewinnen nationalistische Parteien wie die AfD oder Fratelli d’Italia Wahlen?

In der Politik haben schlechte Ideen zunächst oft die Oberhand. So etwa, dass die Frau sich dem Mann unterordnen sollte. Auch die Sklaverei wurde lange von einer Mehrheit befürwortet. Unsere Beschränkungen der Zuwanderung sind nicht viel anders als die Rassentrennung.

Das müssen Sie erklären.

Wir machen die Zuwanderung davon abhängig, wer man ist und welche Eltern man hat. Das ist diskriminierend. Asylbewerbern werden am Arbeitsmarkt zudem oft Hürden in den Weg gelegt. Damit sind sie weniger produktiv, als sie sein könnten. Derzeit kommt es etwa an der Südgrenze der USA zu unschönen Szenen, weil es für die Menschen aus Südamerika kaum möglich ist, legal einzureisen. Die Ablehnung der Zuwanderung heizt das noch an.

Ilya Somin, Professor an der George Mason University in Fairfax, Virginia.

Ilya Somin, Professor an der George Mason University in Fairfax, Virginia.

PD

Sie meinen, dass das Abdrängen in die Illegalität die Situation verschlimmert?

Es kommt mir vor wie zu den Zeiten der Prohibition in den USA, als Alkohol verboten war, was der Kriminalität und mafiösen Strukturen Tür und Tor öffnete. Dies führt zu einem Teufelskreis, weil die Einwanderungshürden dann noch höher gesetzt werden. Sinnbildlich dafür ist Trumps Mauer an der Grenze zu Mexiko.

In der Schweiz hat die Bevölkerung innert 20 Jahren von 7,2 auf 9 Millionen zugenommen. Weshalb sollte ein Land nicht die Geschwindigkeit der Einwanderung drosseln können?

Zentrale Planung ist generell eine schlechte Idee. Um es mit einer Analogie zu versuchen: Weshalb sollte die Regierung in Washington wissen, wie viele Menschen in Kalifornien oder in Texas leben sollten? Die Regierung weiss auch nicht, welche Immigranten besonders produktiv, innovativ oder unternehmerisch sein werden. Wenn die zentrale Lenkung auf dem Arbeitsmarkt so gut funktioniert hätte, wäre die Sowjetunion sehr erfolgreich gewesen.

Sie sagen also, man könne nicht gleichzeitig für innerstaatliche Freiheit sein, aber gegen zwischenstaatliche?

Alle Argumente, die gegen internationale Migration angeführt werden, wie die Überforderung der Wohlfahrtssysteme oder die Verwässerung kultureller Werte, kann man gegen interne Migration anführen. Wenn wir letztere zulassen, müssten wir von der Logik her auch die internationale Wanderung erlauben.

Müsste man nach Ihrer Logik in der Schweiz auch 50 Millionen oder noch mehr Menschen leben lassen?

Die Zahl sollte von den freien Märkten und der Zivilgesellschaft bestimmt werden. 50 Millionen Menschen werden aber nicht in die Schweiz ziehen – eben weil sie ein kleines Land ist und es keine Wohnungen und Arbeitsplätze für sie gäbe. Und in der Tat hat die Freizügigkeit in der EU zu nichts dergleichen geführt, auch wenn es grosse Wohlstandsunterschiede zwischen den Nationen gibt.

Sie sind aber sogar für die weltweite Freizügigkeit. Sagen Sie damit, dass die kulturelle Nähe keine Rolle dabei spielen soll, wen man ins Land lässt?

Zu Recht verlangt man von Regierungen, dass sie die Rede- und Meinungsfreiheit akzeptieren. Die Regierung sollte nie zum Schiedsrichter über die «richtigen» Werte in einem Land werden. Konsequenterweise sollte sie das dann aber auch nicht in Bezug auf die Werte tun, die die Einwanderer verkörpern. Es gibt im Westen keinen Fall, in dem Immigranten die liberale Demokratie unterminiert haben. Dagegen gibt es diverse Fälle, in denen einheimische Nationalisten einem Land geschadet haben, jüngst in Russland oder der Türkei.

Ich dachte nicht an Wahlen, sondern jüngst zum Beispiel an Proteste gegen die Juden oder Israel in zahlreichen europäischen Städten, die auch mit dem importierten Antisemitismus zu tun haben.

Zumindest in den USA sind die Unterschiede zwischen den Werten nicht so riesig, wie man meinen könnte. Lässt man Einwanderer arbeiten, konvergieren ihre Werte rasch zu denjenigen der Einheimischen. In den USA unterstützt zum Beispiel die Mehrheit der Muslime die gleichgeschlechtliche Ehe.

Was viele Einheimische in der Schweiz stört, ist, dass auch wegen der Einwanderung die Mieten stark anziehen. Welche Lösung sehen Sie?

In vielen Ländern ist es fast unmöglich, Häuser zu bauen, weil die Zonenpläne so restriktiv sind. Dies erschwert es auch Einheimischen, dorthin zu ziehen, wo sie am produktivsten sind. Vor gut hundert Jahren kamen jeden Monat Tausende nach New York. Dabei hielt der Bau von Hochhäusern mit der Bevölkerungsentwicklung Schritt. Es ist also möglich.

Aber wenn die Einheimischen keine Verdichtung wollen?

Viele Wähler erkennen nicht, dass eine restriktive Zonenplanung zu teuren Wohnungen führt – auch für sie. Wir sollten nicht wegen Politikversagen im Wohnungsbau die Einwanderungspolitik restriktiver gestalten. Es gilt, die Eigentumsrechte zu stärken, so dass die Menschen auf ihrem Grund und Boden mehr Wohnungen bauen können.

Aber was machen wir mit dem zunehmenden Druck, der auf der Infrastruktur lastet, wenn immer mehr Personen kommen? Was machen wir mit den vollen Schulen und Bahnen?

Migration kreiert zusätzlichen Wohlstand für die Eingewanderten, höhere Gewinne für die Firmen, die sie einstellen, aber auch mehr Chancen für die Einheimischen. Man kann einen Teil dieses zusätzlichen Wohlstands nutzen, um die Infrastruktur zu stärken. Ich bin überzeugt: Die zusätzlichen Kosten für die Infrastruktur sind viel niedriger als die zusätzliche Produktivität der Einwanderer.

Eine Befürchtung lautet, dass Migration immer mehr Migration nach sich zieht, denn Einwanderer brauchen Ärzte, Schulen usw., wofür wiederum Arbeitskräfte nötig sind. Müsste ein Land nicht in der Lage sein, diesen sich selbst verstärkenden Prozess zu stoppen?

Das sehe ich anders. Die Welt ist kein Nullsummenspiel: Es ist nicht so, dass die Einwanderer den Einheimischen etwas wegnehmen. Diese Leute kommen aus einem Land, wo sie weniger produktiv waren, in die Schweiz, wo sie mehr Wert schaffen. In den USA und in Europa tragen Einwanderer zudem überproportional viel zur Innovation bei. Die Erfinder der ersten Impfungen gegen Covid-19 haben einen Migrationshintergrund, so auch die Gründer von Biontech in Deutschland.

Sollten wir dann nicht wenigstens kontrollieren, welche Fähigkeiten die Migranten mitbringen, wie das Kanada oder Australien mit ihren Punktesystemen machen?

Nochmals: Staaten sind schlecht, wenn es darum geht, den Arbeitsmarkt zu planen. Auch ein Punktsystem hilft nicht vorauszusehen, welche Qualifikationen genau in der Zukunft gefragt sind. Kommt dazu, dass Einwanderer im Gastland oft neue Fähigkeiten erwerben, die sie dann gewinnbringend einsetzen. Schliesslich schaffen selbst Einwanderer mit geringer Ausbildung Wohlstand, und sei es nur, dass sie den Einheimischen, die etwas besonders gut können, mühsamere Arbeiten abnehmen.

Wenn Einwanderer in die Schweiz kommen, ist das, als träten sie einem Klub bei, dessen Mitglieder gewisse Werte teilen. Weshalb sollten die Einheimischen nicht sagen dürfen, wer in diesem Klub willkommen ist und wer nicht?

Die Klub-Analogie funktioniert nicht. Wenn man sagt, dass die Regierung dieselbe Macht haben sollte wie der Besitzer eines Klubs, dann führt das zu einem totalitären Staat.

Wie bitte?

Ein privater Klub kann zum Beispiel sagen, er sei nur offen für christliche oder muslimische Mitglieder, für Republikaner oder Demokraten. Für private Klubs ist fast alles erlaubt, es gibt ja keinen Zwang, die Mitgliedschaft ist freiwillig. Eine Regierung hat dagegen ein Macht- und Gewaltmonopol über ein bestimmtes Gebiet, das sie sorgsam einsetzen muss.

Aber es ist ja nicht einfach der totalitäre Staat, der befiehlt, sondern in der Schweiz haben die Bürger via direkte Demokratie das Sagen.

Aber auch in der Demokratie darf man die Menschen nicht auf Basis ihres Geschlechts, Alters, ihrer Rasse oder sexuellen Orientierung diskriminieren. Übertragen auf Migranten heisst das, dass man Menschen nicht wegen des Geburtsortes benachteiligen sollte.

In der Schweiz hat die öffentliche Infrastruktur einen Wert von 350 Milliarden Franken. Wenn ein Einwanderer kommt, hat er unmittelbaren Zugang dazu, ohne einen Franken beigetragen zu haben. Dass das Unmut auslöst, ist doch nachvollziehbar?

Genau dasselbe passiert aber jedes Mal, wenn in der Schweiz ein Kind geboren wird. Es hat auch nichts dazu beigetragen. Das Neugeborene oder seine Eltern zahlen auch keine Gebühr. Das Problem ist bei Migranten sogar geringer, weil sie meist als Erwachsene kommen und damit unmittelbar einen Beitrag leisten können, sobald sie arbeiten.

Das Neugeborene kommt ja nicht freiwillig und kann deshalb für allfällige Kosten auch nicht aufkommen, der Einwanderer dagegen schon.

Aber wenn jemand freiwillig von Genf nach Zürich zieht, hat er zur Infrastruktur in der Stadt Zürich auch nichts beigetragen. Trotzdem kämen wir nicht auf die Idee, ihn mit einer zusätzlichen Abgabe zu belegen.

Auch wenn Sie die Klub-Analogie ablehnen: Die Schweiz hat ein ausgebautes Wohlfahrtssystem. Milton Friedman sagte, man könne entweder einen Wohlfahrtsstaat oder freie Einwanderung haben, aber nicht beides gleichzeitig.

Milton Friedman war keineswegs gegen Einwanderung. Er fand sogar illegale Migration gut, weil diese Personen keine Sozialleistungen beziehen.

Aber seine Logik leuchtet ein: Attraktive Sozialsysteme ziehen Einwanderer an, was den Staat überfordern kann.

Die Evidenz für die USA und diverse europäische Länder ist aber eine andere: Die meisten Migranten steuern mehr zur Finanzierung des Staates bei, als sie an Leistungen von ihm beziehen. Und es gibt eine einfache Lösung: Man erlaubt Migranten den Zugang zu den Sozialsystemen erst nach einigen Jahren. Als Milton Friedman darauf aufmerksam gemacht wurde, sagte er, dass er daran schlicht nicht gedacht habe.

Klassisch liberaler Rechtsgelehrter

Der Jurist Ilya Somin ist im Alter von fünf Jahren mit seiner Familie aus der Sowjetunion in die USA emigriert. Der 50-Jährige unterrichtet an der George Mason University, westlich der Hauptstadt Washington. Die GMU ist bekannt für ihre beiden Ökonomie-Nobelpreisträger James Buchanan und Vernon Smith. Somin hat zudem einen Lehrstuhl beim libertären Cato Institute inne. Das Gespräch basiert auf seinem jüngsten Buch: «Free to Move: Foot Voting, Migration, and Political Freedom» (Oxford University Press, 2022).

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