Kommentar

Über die Schweizer Geschichte soll man streiten: wie historische Aufarbeitung gelingt – und wie nicht

Der kritische Blick auf die Vergangenheit ist in Mode. Das ist eine Chance – wenn dabei ein verhängnisvoller Fehler vermieden wird.

Giorgio Scherrer 63 Kommentare 6 min
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Massimo Biondi musste lange auf eine Entschuldigung warten. Als Knaben steckten ihn die Stadtzürcher Behörden ins Heim, fast seine gesamte Jugend verbrachte er dort. Er wurde geschlagen, eingesperrt und zum Kriminellen erklärt. Seine Betreuer wollten sich an ihm vergehen, seine Zürcher Vormundin beschied ihm derweil: «So schlimm wird es schon nicht sein.»

Es dauerte allerdings mehr als ein halbes Jahrhundert, bis Biondi, der heute 78 Jahre alt ist, eine offizielle Anerkennung jenes Leids erhielt, das ihm als Kind zugefügt wurde.

Erst im vergangenen September hat die Stadt Zürich die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen um Verzeihung gebeten und eine Aufarbeitung der städtischen Versorgungspolitik angekündigt. Zehn Jahre nachdem der Bund dasselbe auf nationaler Ebene getan hat. Und über vierzig Jahre nachdem die Praxis in der Schweiz ihr Ende fand.

Es ist ein Schritt, der zum Zeitgeist passt: Historische Aufarbeitung – und der Ruf danach – hat Konjunktur, nicht nur in Zürich. Fälle sexuellen Missbrauchs, Medikamentenversuche, fragwürdige Adoptionen aus Übersee, Verstrickungen in den Sklavenhandel: Die Schweiz stellt sich seit einigen Jahren den schwierigsten Kapiteln ihrer Vergangenheit – und das ist gut so.

Der Aufarbeitungstrend ist der endgültige Abschied vom mythisch-verklärenden Blick auf die Schweizer Vergangenheit, der noch bis in die 1990er dominierte. Und er ist eine einmalige Chance, endlich das zu entwickeln, was dem Land noch immer fehlt: eine eigenständige Kultur der historischen Aufarbeitung. Eine, in der produktiver Streit und das Lernen für die Zukunft im Zentrum stehen.

Ein Land ohne Erinnerungskultur

Lange verfügte die moderne Schweiz über keine Erinnerungskultur, die diesen Namen verdiente. Und in gewisser Hinsicht tut sie dies bis heute nicht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich kritische Journalisten und Autoren zwar immer wieder, die Trutzburg der Schweizer Selbstmythologisierung zu sprengen. Figuren wie Alfred Häsler («Das Boot ist voll»), Niklaus Meienberg («Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S.») oder Mariella Mehr (mit Texten über ihre Jugend in «Kinder der Landstrasse») versuchten das zu provozieren, was weder Politik noch Geschichtswissenschaft wollten: eine Debatte über Themen, die das Selbstbild der Schweiz infrage stellten. Themen wie die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg oder die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.

Statt dass man sie als Pioniere würdigte, wurden sie jedoch als Nestbeschmutzer beschimpft.

Die eigentliche erinnerungspolitische Wende kam erst in den 1990ern, und zwar auf Druck aus dem Ausland. Wegen des Umgangs mit «nachrichtenlosen Vermögen» von während des Holocaust verfolgten Jüdinnen und Juden stand die Schweiz in der Kritik. Die Unabhängige Expertenkommission (UEK) Schweiz-Zweiter Weltkrieg wurde eingesetzt. Und mit den Kontroversen um ihren Schlussbericht begann das Suchen der Schweiz nach einer zu ihr passenden Kultur der historischen Aufarbeitung.

Seitdem stellen sich grundlegende Fragen zum Umgang mit sogenannt «belasteter» Vergangenheit: Soll sie möglichst vergessen und übertüncht werden – weil Geschichte schliesslich vor allem für erbauliche Anekdoten bei der Albisgütli-Tagung da ist? Oder soll man sie dafür benutzen, um kommenden Generationen kollektiv ein schlechtes Gewissen einzuimpfen für all die Untaten ihrer Vorfahren?

Beides ist Unsinn – aber das sind die Extreme, zwischen denen sich erinnerungspolitische Debatten seither bewegen.

Lehren aus der Vergangenheit

Der erste Versuch, diese Extreme zu überbrücken, war die zweite UEK der Schweizer Geschichte: jene zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die 2014 ihre Arbeit aufnahm. Sie nahm sich den Komplex vor, der jahrzehntelang einen blinden Fleck im liberalen Bundesstaat darstellte: die rechtlich fragwürdige Versorgung Zehntausender «Devianter» in Heimen, Anstalten und Psychiatrien, die bis in die 1980er anhielt.

Ehemalige «Verdingkinder», Opfer von Zwangssterilisationen und «Kinder der Landstrasse» waren in die Aufarbeitung eingebunden, wurden zu öffentlichen Figuren – und sorgten dafür, dass die historische Forschung die Bodenhaftung behielt.

Heute sind ihre Schicksale allgemein bekannt – das Wissen darüber wurde verbreitet in Spielfilmen, Lehrmitteln und Ausstellungen. Weitere Forschungsprojekte dazu spriessen wie Pilze aus dem Boden; jenes in Zürich ist nur das letzte Beispiel. Statt dass das Thema als abgeschlossen gilt, ist eine grössere Debatte in Gang gekommen.

Die zuweilen gehässige, aber insgesamt wichtige Kontroverse über das Mandat der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb) wäre zum Beispiel ohne diese geschichtliche Perspektive eine andere gewesen. Nicht zufällig war es denn auch ein ehemaliges Heimkind – der Unternehmer Guido Fluri –, das darin zur zentralen Figur avancierte.

Auch das Zürcher Selbstbestimmungsgesetz, das beeinträchtigten Menschen weitgehende Rechte zusichert, oder die voranschreitende Modernisierung der Psychiatrie sind geprägt von dem, was in den vergangenen zehn Jahren historisch aufgearbeitet wurde.

Weitere Lehren wären noch zu ziehen, etwa bei der Modernisierung des Schweizer Heimwesens oder den fürsorgerischen Unterbringungen (FU) – jenem Instrument, mit dem jemand gegen seinen Willen in die Psychiatrie eingewiesen werden kann. Doch auch wenn die Diskussionen darüber noch keine Resultate gezeitigt haben, ist doch heute schon klar: Ohne historische Perspektive, ohne einen nüchternen Blick auf die Fehler von früher werden sie nicht auskommen.

Genau darum ist die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen letztlich so exemplarisch: Auf sie folgte bisher kein Hickhack und kein Gefühl der Abgeschlossenheit, sondern ein neues Problembewusstsein. Dafür, wie schnell in der Schweiz der Grundsatz der Freiheit vergessengehen kann. Und dafür, welch unrühmliche Rolle die Behörden dabei einnehmen können.

Wie Aufarbeitung gelingt – und wie nicht

So gut wie bei den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen läuft es nicht überall. Zu oft werden Aufarbeitungsprojekte noch immer als das Ende der Diskussion betrachtet – oder es werden dabei Forschung und Politik auf ungute Art und Weise vermischt. Und auch die Verfechter eines unkritischen und verklärten Geschichtsbildes befinden sich in einem erbitterten Abwehrkampf.

Historische Aufarbeitung bleibt ein riskantes Unterfangen, für alle Beteiligten. Die betroffenen Institutionen müssen die Schuldfrage diskutieren, sich aber nicht in ihr verlieren. Die Geschichtswissenschaft muss den Betroffenen Raum gegeben, aber Forschung nicht mit Aktivismus verknüpfen. Sie muss die Einordnung nicht scheuen, aber auch klar benennen, was sich historisch nicht mehr eruieren lässt.

Vor allem aber müssen alle Beteiligten den Anschein der Voreingenommenheit vermeiden. Wirkt es, als seien die Resultate politisch vordefiniert, dann ist eine Aufarbeitung vorbei, bevor sie begonnen hat. Denn egal, wie gut oder schlecht die Forschung dann ist: Der Verdacht bleibt kleben, die Resultate verlieren an Glaubwürdigkeit – und das Hickhack beginnt.

Die Stadt Zürich hat diesbezüglich eine durchmischte Bilanz. So entschied sie sich etwa 2021 dafür, eine Reihe als rassistisch taxierter «Mohrenkopf»-Inschriften in der Altstadt präventiv abzudecken. Und das, noch bevor eine historische Aufarbeitung stattgefunden hatte – als sei schon klar, was diese ergeben werde.

Die Folge: ein unproduktives Hickhack zwischen Politikern, Denkmalschutz und Historikern, das auch nach Abschluss der Forschungsarbeiten anhält. Statt die Inschriften und deren Aufarbeitung als Anlass für eine Debatte mit offenem Ausgang zu nehmen, wurde deren Resultat quasi behördlich vorweggenommen. Nur weg mit der belasteten Vergangenheit: Das schien die Haltung zu sein.

Im Aufschrei darüber gingen dann wiederum die interessanten Resultate des Forschungsberichtes vergessen.

Das muss nun, bei der Aufarbeitung der städtischen Versorgungspolitik, anders sein: Die Politik soll erst Lehren ziehen, wenn Einigkeit über die Faktenbasis besteht. Die historische Forschung soll derweil kritisch und unbequem sein, die Vergangenheit aber nicht wie einen Gerichtsprozess behandeln.

Und am wichtigsten: Das Ziel muss nicht Einigkeit sein. Es braucht keine neue Meistererzählung der Schweizer Geschichte, die sich diesmal um Verbrechen statt Erfolge dreht. Was es braucht, ist eine Kultur der Aufarbeitung. Und zwar eine, die die Lehren der Vergangenheit ins Zentrum stellt.

Es braucht Streit

Wie genau diese Lehren aussehen sollen, wird dabei stets umstritten sein – und das ist gut so. Was zeigt uns die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen? Dass staatliche Fürsorge das Problem ist, weil sie ohne Kontrolle zu Übergriffen neigt – oder dass die Schweiz zur Ausgrenzung von sozialen Randgruppen tendiert?

Darauf können die Historikerinnen und Historiker keine abschliessende Antwort geben. Diese müssen die Schweizerinnen und Schweizer schon selbst finden. Und dafür braucht es Streit.

Die Aufgabe der Forschung ist es, dafür die Faktenbasis und den Kontext zu liefern. Jene der Politik ist es, die Forschung nicht zu verpolitisieren – und sie nicht zu diskreditieren, nur weil ihr die Resultate nicht passen. So wie das etwa bei der UEK Schweiz-Zweiter Weltkrieg von rechts versucht wurde.

Uneinig über die Lehren für die Zukunft – aber einig darin, dass es sie gibt; ohne Zweifel an historischen Fakten – aber mit einem gesunden Streit über deren Bedeutung: So könnte eine Kultur der Aufarbeitung aussehen.

Realität ist sie noch nicht. Aber der Trend geht in die richtige Richtung, und der Umgang mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen macht schon einmal vor, wie es geht. Oder wie es das ehemalige Heimkind Massimo Biondi sagt: «Es ist ein Anfang.»

63 Kommentare
Jürg Simeon

Aufarbeitung ist häufig politisch vordefiniert, meistens von links. Heute kommt noch eine aktivistisch eifernde wokeness dazu, die Mohrenköpfe lassen grüssen, der Sklavenhalter Escher auch. Das grosse Problem liegt auch darin, dass man aus heutiger Sicht, aus sicherer Distanz den grossen Moralisierer spielt, wie bei der Schweiz im zweiten Weltkrieg. Das Überdenken was kann in Zukunft besser gemacht werden ist grundsätzlich begrüssenswert und sich bei echten Missständen zu entschuldigen auch.

T. M.

Ich bin Deutscher. In meinem Land existiert eine ausgeprägte "Erinnerungskultur". Wobei kaum jemand der sicht-und hörbaren Akteure über Erinnerungen an die Kolonialzeit, den zweiten Weltkrieg und die Shoa verfügt. Anstatt  mit Erinnerungen müsste man also denklogisch mit "Gedenken " arbeiten.  Aber das nur nebenbei. Unsere Gedenkkultur arbeitet mit der Vermittlung von Schuldgefühlen und dem Dogma des "Nie wieder ". Unsere Politik wird auf der Negativfolie Adolf Hitlers entworfen und wir sollen "den Anfängen wehren". Auch wenn man aus der Geschichte lernen sollte, wird sie sich nicht wiederholen.  Wir Deutsche aber halten unsere Schuldgefühle für Moral und leisten Abbitte. Wenn man so will, tun wir Buße ohne Aussicht auf Vergebung. Solch eine Form der Aufarbeitung nenne ich krank.