«Jedes Jahr wird die Gesetzesflut grösser»: Fünf Irrtümer über die Regulierungswut in der Schweiz

Neujahr ist die Zeit für neue Regeln – jedes Jahr treten Hunderte davon in Kraft. Doch wer ist dafür verantwortlich, und wo wird am meisten vorgeschrieben? Ein Zürcher Forschungsteam hat dies untersucht.

Daniel Gerny 7 min
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Das Bundeshaus in Bern mit der Statuengruppe der drei allegorischen Figuren Helvetia, Exekutive und Legislative.

Das Bundeshaus in Bern mit der Statuengruppe der drei allegorischen Figuren Helvetia, Exekutive und Legislative.

Gaëtan Bally / Keystone

Ab 1. Januar werden Frauen wie Männer erst im Alter von 65 Jahren pensioniert. Es ist die politisch bedeutsamste Rechtsänderung für das kommende Jahr – aber es ist bei weitem nicht die einzige. Über 400 neue Verfassungs-, Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen treten am Montag in Kraft. Das Neujahr wird so zum Sinnbild des ausufernden Staates mit seiner angeblichen Regulierungswut.

Doch wie entwickelt sich das Recht tatsächlich weiter? Kerstin Noëlle Vokinger, Professorin für Recht und Medizin an der Universität Zürich, und David Schneider, wissenschaftlicher Mitarbeiter an Vokingers Lehrstuhl, wollten es genau wissen. Tausende von Erlassen aus den letzten 50 Jahren (1972 und 2022) haben sie zu diesem Zweck untersucht. Sie wollten herausfinden, wie sich der Gesetzgebungsprozess verändert – und wer für die wachsende Regelungsdichte verantwortlich ist. Dabei stiessen sie auf viele erwartbare Resultate, aber auch auf einige Überraschungen.

Irrtum Nummer 1: Es gibt immer mehr Gesetze

Die Zahl der Bundesgesetze bleibt praktisch konstant

Entwicklung der Zahl in Kraft stehender Erlasse, nach Erlassform
Andere Erlassformen
BV, BG, BB
Internationale Rechtstexte
Verordnungen

Erstaunlich aber wahr: Die Zahl der in Kraft stehenden Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse hat zwischen 1972 und 2022 kaum zugenommen – um nur gerade gut 13 Prozent. Heute sind gut fünfzig Gesetze mehr in Kraft, als dies vor 50 Jahren der Fall war. «Das hat uns überrascht», sagt Kerstin Noëlle Vokinger. «Wir konnten uns zunächst, ehrlich gesagt, keinen Reim darauf machen.» Wie lässt sich dies mit der angeblichen Gesetzesflut in Einklang bringen?

Tatsächlich gibt es verschiedene Ursachen. Die vielleicht wichtigste: Es verschwinden auch Gesetze, ohne dass es auffällt: «Wir nehmen sehr deutlich wahr, wenn ein neues Gesetz in Kraft tritt», erklärt Vokinger. Dass alte Gesetze wegfallen, realisiert dagegen kaum jemand. Das Bundesgesetz über verdeckte Ermittlungen war beispielsweise jahrelang ein grosses Politikum. Seit 2013 ist es nicht mehr in Kraft, weil das Thema inzwischen in der eidgenössischen Strafprozessordnung geregelt ist.

Dennoch täuscht der Eindruck nicht, dass es immer mehr Vorschriften und Regeln gibt – sie finden sich allerdings längst nicht alle in Gesetzen: Während pro Jahr etwa ein zusätzliches Gesetz in Kraft tritt, kommen 8 neue Verordnungen hinzu. Demokratiepolitisch ist dies nicht unproblematisch, weil Parlament und Volk hier nicht mitreden können. So zum Beispiel bei der Festsetzung der Medikamentenpreise, wie Vokinger ausführt: Obwohl diese die Bürgerinnen und Bürger stark betreffen, wird fast alles auf Verordnungsstufe geregelt.

Auffällig ist zudem, dass die Zahl der völkerrechtlichen Erlasse regelrecht explodiert ist. Darin widerspiegeln sich auch die Globalisierung und die Internationalisierung des Rechts. Doch dieser Effekt dürfe nicht überbewertet werden, sagt Schneider: Nicht alle Staatsverträge bedürften eines gesetzlichen Nachvollzugs auf nationaler Ebene. Etwa wenn es darum gehe, die Details von Projekten in der Entwicklungszusammenarbeit oder Doppelbesteuerung zu regeln.

Irrtum Nummer 2: Früher verfasste man kürzere Gesetze

Das typische Gesetz hat 4661 Wörter

Durchschnittliche Zahl der Wörter pro Erlass, nach Themengebiet
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9

Die folgende Formulierung aus einem real existierenden Gesetzestext ist selbst für Fachleute eine Zumutung (der nächste Absatz kann auch übersprungen werden):

«Erstellt der Betrieb sowohl Wohnungen nach Absatz 1 wie auch solche nach Absatz 2, so wird der Höchstanteil von 33 Prozent reduziert um den Wert, der sich daraus ergibt, dass der Quotient aus der Fläche der Wohnungen nach Absatz 1 und der Summe der Flächen der Wohnungen nach den Absätzen 1 und 2 mit 13 Prozent multipliziert wird.»

Dieses verschachtelte Monstrum befindet sich im Zweitwohnungsgesetz (ZWG) und ist in Juristenkreisen seit Jahren beliebtes Beispiel für die Absurditäten aus dem eigenen Berufsleben. Für Nichtjuristen ist es ein Beleg dafür, dass Gesetze immer komplizierter und länger werden.

Die Zahlen von Vokinger und Schneider belegen dies – zumindest was die Länge betrifft: Im Schnitt wird jedes Gesetz pro Jahr um 39 Wörter länger. Das entspricht etwa 0,3 Artikeln pro Erlass und pro Jahr. Ein typischer Gesetzesartikel weist heute im Schnitt 67 Wörter auf. Die oben aufgeführte Bestimmung aus dem ZWG umfasst allein nicht weniger als 51 Wörter – obwohl es sich nur um einen einzigen Absatz handelt.

Gesetze und ihre Bestimmungen werden vor allem deshalb länger, weil die zu regelnden Materien komplizierter werden – insbesondere wenn es um technische Aspekte geht. Aber auch das Gesundheitswesen gehört zu den Gebieten, bei denen es schwierig ist, Gesetzestexte ohne Fachkenntnis überhaupt noch zu verstehen.

Umso interessanter ist es, dass nicht alle älteren Gesetze kürzer sind – im Gegenteil: Einige der Erlasse vom Beginn des vorletzten Jahrhunderts sind sogar besonders lang: So zum Beispiel das Zivilgesetzbuch (ZGB) oder das Obligationenrecht (OR). Die beiden Gesetze tragen mit dazu bei, dass Erlasse aus dem Bereich Privatrecht mit durchschnittlich 9222 Wörtern fast doppelt so lang sind wie ein Schweizer Durchschnittsgesetz (4661 Wörter).

Schneider und Vokinger haben dafür eine mögliche Erklärung: Weil die Materie vor hundert Jahren weniger komplex war und es in gewissen Lebensbereichen einen klaren Bedarf für eine Lösung gab, sei die Gesetzgebung tendenziell einfacher gewesen. Derart ausführliche Gesetze wie das ZGB, die mit fast tausend Artikeln verschiedenste Lebensbereiche regeln, seien heute kaum mehr denkbar.

Irrtum Nummer 3: Volk und Parlament geben in der Schweiz den Takt vor

Die Verwaltung löst die meisten Gesetzesprojekte aus

Initiierung eines Erlasses durch Verwaltung, Parlament, Bundesrat und Volk
Auslöser
Zahl der Erlasse

In der Schweiz mit ihrer direkten Demokratie hat das Volk das letzte Wort. Spoiler: Diese Aussage trifft zwar zu, doch es ist nur die halbe Wahrheit. Den Takt gibt nicht das Volk vor – und auch nicht das Parlament. Vokinger und Schneider haben 447 Gesetzgebungsprojekte und Verfassungsrevisionen analysiert, bei denen die Botschaften dazu digital vorlagen. Sie wollten wissen, wer die Erlasse initiiert hat.

Der wahre Taktgeber ist die Exekutive: Erstaunlich ist dabei vor allem das Ausmass ihres Einflusses. Die Verwaltung hat 255 aller untersuchten Gesetzesprojekte angerissen, also mehr als 60 Prozent. Nimmt man die Verordnungen hinzu, die bei dieser Fragestellung aus technischen Gründen nicht berücksichtigt werden konnten, wird erst recht deutlich, wie gross die Übermacht der Verwaltung ist.

Das Parlament hat mit Motionen und parlamentarischen Initiativen nur gut halb so viele Gesetzesprojekte lanciert wie die Exekutive. Und das Volk stand mit 26 Volksinitiativen sogar nur in gut 5 Prozent aller Fälle am Anfang. Ganz am Schluss stehen allerdings die Kantone: Von 447 Gesetzesprojekten haben sie nur gerade 9 ausgelöst.

Irrtum Nummer 4: Der Staat bestimmt immer stärker, was auf unseren Teller kommt

Die Milchwirtschaft über alles: Betrachtet man die fünf Rechtsgebiete mit der grössten Regelungsdichte, so lag das Lebensmittelrecht 1972 mit grossem Abstand vorne. 44 Erlasse betrafen die Gebiete Milch, Milchprodukte, Speiseöle und Speisefette. In 41 weiteren Erlassen ging es um Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände. Doch das sind längst vergangene Zeiten.

Inzwischen ist der Lebensmittelbereich aus den Top 5 der wichtigsten Rechtsgebiete so gut wie verdrängt. Dafür gibt es heute 234 Erlasse zum Thema Berufsbildung. Das Inkrafttreten des Berufsbildungsgesetzes hat im Jahr 2002 einen Schub von Verordnungen zu den einzelnen Berufen ausgelöst – eine Folge der Technisierung in diesem Bereich.

Das sagt viel über die Lebensrealität in der Schweiz. Und es gibt eine erstaunliche Parallele zu den Konsumausgaben: Im gleichen Zeitraum gingen auch die Ausgaben der Schweizer Haushalte für Nahrungsmittel stark zurück: 1970 betrug der Anteil an den gesamten Konsumausgaben noch knapp über 30 Prozent. 2019 waren es unter 10 Prozent – Ausdruck einer Gesellschaft, für die Nahrungsmittel zum Selbstläufer geworden sind.

Vokinger erwartet allerdings, dass das Lebensmittelrecht in den kommenden Jahren wieder an Bedeutung gewinnen wird. Der Trend zu gesunden und nachhaltig produzierten Lebensmitteln dürfte sich auch in der Gesetzgebung niederschlagen, meint sie.

Irrtum Nummer 5: Neuerungen werden immer schwieriger

Von über 2000 auf unter 500 Tage

Entwicklung der durchschnittlichen Zeit zwischen den Revisionen

Viel ist die Rede von Blockaden in der Politik, von Reformstau und von der Schwierigkeit, das Rechtssystem rasch anzupassen. Doch betrachtet man die Zahlen, so scheint das genaue Gegenteil der Fall. Die Dynamik in der Gesetzgebung hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Revisionen und Reformen sind heute um ein Vielfaches häufiger als vor 50 Jahren.

Während die durchschnittliche Zeit zwischen Revisionen im Jahr 1972 noch 2378 Tage betrug, hat sich dieser Abstand im Jahr 2022 auf 219 Tage verkürzt. Dieser Trend gilt für alle Erlasstypen – also für die Bundesverfassung, Gesetze und Verordnungen. Es ist also keineswegs so, dass dem Bundesrat und dem Parlament keine Revisionen mehr gelingen. Im Gegenteil: Sie scheinen so häufig, dass die Zeit für echte Reformen fehlt.

Gut möglich, dass auch diese Entwicklung auf die immer komplexer werdende Materie, die zunehmende Internationalisierung und den technologischen Wandel zurückzuführen ist. Und dennoch: Die starke Häufung von Revisionen in den letzten 50 Jahren deutet auf ein Qualitätsproblem hin. In Juristenkreisen wird dies seit langem kritisiert. Die Zahlen von Vokinger und Schneider scheinen den Befund zu bestätigen.

Manche Erlasse erweisen sich gar als so ungeeignet, dass sie revidiert werden müssen, noch bevor sie zur Anwendung kommen. Ein Beispiel dafür ist die Bestimmung über Organisationsverbote im Nachrichtendienstgesetz. Schon kurz nach dem Inkrafttreten stellte sich heraus, dass die Vorschrift nicht praktikabel war. Inzwischen ist der Fehler behoben worden – eine Revision, die man sich hätte sparen können.

Solche Fälle sind die Ausnahme. Doch es stellt sich die Frage, ob die vielen Gesetzesprojekte und -revisionen ihr Ziel überhaupt erreichen. «Wahrscheinlich nur teilweise», vermuten Vokinger und Schneider – und sehen darin die Fragestellung für ein nächstes Forschungsprojekt: Nötig seien vertiefte Analysen zum Erfolg der Erlasse: Erreichen sie die gesetzgeberischen Ziele? Und wie oft treten unerwünschte Nebenwirkungen auf?

Kerstin Noëlle Vokinger, David Schneider: Entwicklung in der Gesetzgebung und Gesetzesqualität 1972 bis 2022, Zürich 2023.