Gastkommentar

Der Totengräber der Nachkriegsordnung: Was Putin mit dem Angriffskrieg schon jetzt erreicht hat

In der Ukraine herrscht militärisches Patt. Doch seit dem Beginn der Invasion 2014 ist es Russland gelungen, die Weltordnung im Sinn revisionistischer Kräfte zu destabilisieren.

Andreas Umland 453 Kommentare 7 min
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Natalia Kowshik trauert bei der Beerdigung um ihren Ehemann Hennadi, der bei den Kämpfen in der Ostukraine gefallen ist. Charkiw, 16. Februar 2023.

Natalia Kowshik trauert bei der Beerdigung um ihren Ehemann Hennadi, der bei den Kämpfen in der Ostukraine gefallen ist. Charkiw, 16. Februar 2023.

Vadim Ghirda / AP

Zum Ende des zehnten Kriegsjahres in der Ukraine ist das Ergebnis des russischen Angriffs auf das vorgebliche «Brudervolk» für den Kreml ambivalent. Auf der einen Seite steht ein Image-Desaster als vermeintliche militärische Supermacht. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde schnell zu einer internationalen Blamage für Russlands Führung, Armee und Rüstungsindustrie. Auch führte Moskaus Feldzug zum Verlust der westlichen Partner, von Märkten und von Investoren. Diese und andere Rückschläge werden nicht voll absehbare regionale, geopolitische und ökonomische, ja womöglich sogar innenpolitische Folgen für Russland haben.

Auf der anderen Seite stehen eine Reihe teils ignorierte, teils unterschätzte Ergebnisse der russischen Ukraine-Politik, welche die internationale Ordnung sowie den Westen insgesamt nachhaltig geschwächt haben. Zwar hat Russlands Grossinvasion in der Folge des 24. Februar 2022 auch zu einer partiellen Konsolidierung der zuvor in sich gespaltenen westlichen Allianz geführt. Sowohl die Nato als auch die EU sind im Lichte der russischen Bedrohung enger zusammengerückt. Die in Aussicht gestellte EU-Integration nicht nur der Ukraine, sondern auch der Moldau und von Georgien bedeutet für die europäische Wertegemeinschaft einen bedeutenden Schritt nach vorne.

Fünf Risse in der Weltordnung

Trotz diesen und ähnlichen teilweise positiven Wirkungen ist der weltpolitische Flurschaden der russischen Invasion enorm. Obwohl dieser nicht das primäre Ziel des Kremls war, ist anzunehmen, dass er als Sekundäreffekt durchaus in Moskaus Sinn ist. Profitieren doch auch derzeitige und potenzielle künftige revisionistische Akteure rund um den Globus von Russlands ordnungspolitischer Subversion. Die russische Unterwanderung des Weltsicherheitssystems schwächt den Westen wie das Völkerrecht und stärkt – zumindest in den Nullsummenkalkulationen Putins – Russland selbst, seine antiwestlichen Bündnispartner sowie weitere revisionistisch eingestellte Akteure weltweit.

Das Schlimmste am Krieg ist natürlich der Tod von Zehntausenden von ukrainischen Soldaten und Zivilisten sowie die Verwüstung weiter Teile des Landes. Die beunruhigendsten transnationalen Auswirkungen dürfte Russlands Ukraine-Abenteuer für das internationale Sicherheitssystem haben, das sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs etablierte. Zwar hat es seit 1945 in der ganzen Welt immer wieder Kriege mit hohen Opferzahlen gegeben. Die russische Eroberung der Ukraine seit 2014 und insbesondere seit 2022 besitzt aber im Vergleich dazu in der Summe einiger spezifischer Eigenheiten eine neue Qualität.

Die völkermörderische Intention von Russlands Invasion der Ukraine drückt sich in vielerlei massenterroristischen Kriegsformen aus.

Erstens attackierte Russland 2014 ein bis dahin vollkommen friedliches und militärisch impotentes Land, das auf keine Art und Weise provoziert hatte. Die Dramatik der innen- und aussenpolitischen Reorientierungen der Ukraine 2014 war weit geringer, als dies von Russland und seinen Apologeten im Ausland propagandistisch dargestellt wurde. Die ukrainische Minderheitenpolitik gegenüber ethnischen Russen war vor Kriegsbeginn tolerant. Der ukrainische Rechtsextremismus ist bis heute im europäischen Vergleich schwach. Das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine lag nicht im Widerspruch zu Russlands Freihandelsabkommen mit der Ukraine.

Der mögliche Nato-Beitritt der Ukraine, um den es ein grosses Lamento gab und gibt, lag 2014 in ferner Zukunft und liegt es noch. Der Logik dieser populären Aggressionsapologetik gemäss hätte Russland längst seine Truppen aus der Republik Moldau zurückziehen müssen, ist Moldau doch seit 1994 offiziell blockfrei. Nichtsdestoweniger unterhält Moskau auf moldauischem Staatsterritorium seit dreissig Jahren einen nicht anerkannten transnistrischen Satellitenstaat.

Vice versa hätte Russland – folgt man der Logik der Kreml-Versteher – Finnland in Reaktion auf dessen Nato-Mitgliedsantrag 2022 angreifen müssen. Nach der Öffentlichwerdung von Helsinkis Beitrittsabsicht war abzusehen, dass die Nato dem finnischen Begehren weit eher als dem ukrainischen Wunsch nach Mitgliedschaft stattgeben wird. Die russisch-finnische Grenze ist zwar nicht ganz so lang wie die russisch-ukrainische. Sie ist jedoch ebenfalls von beträchtlicher Länge und verdoppelte 2022 nahezu den Gesamtumfang der Nato-Aussengrenze zu Russland.

Zudem hat der finnische Beitritt Putins Geburtsstadt St. Petersburg in eine prekäre strategische Lage gebracht. Die zweite russische Hauptstadt befindet sich nunmehr sowohl im Westen vonseiten Estlands als auch im Nordosten vonseiten Finnlands in unmittelbarer Nato-Nähe. Diese neue Situation um die Stadt an der Neva macht den finnischen Nato-Beitritt verteidigungstechnisch bedrohlicher für Russland als ein potenzieller ukrainischer Beitritt in (vermutlich ferner) Zukunft. Dennoch blieb eine materielle russische Reaktion auf Eintrittsgesuch und -prozess Finnlands aus.

Die Uno auf den Kopf gestellt

Zweitens hatte die russische Invasion sowohl 2014 als auch 2022 nicht nur eine temporäre Okkupation eroberter Gebiete zum Ziel. Sie führte auch zu deren – aus russischer Sicht – endgültiger und vollständiger Annexion, zunächst der ukrainischen Krim und später von vier weiteren Regionen auf dem südostukrainischen Festland. Ein derart ungeschminkter Expansionskrieg zwecks Erweiterung des eigenen Staatsterritoriums auf Kosten eines international anerkannten Nachbarlandes ist seit 1945 so gut wie nicht mehr vorgekommen.

Drittens ist die russische Invasion seit 2022 nicht nur ein Angriffs-, sondern auch ein Vernichtungskrieg. Er zielt auf die Abschaffung der Ukraine als unabhängiger Staat und die Auslöschung der ukrainischen Nation als einer von Russland separaten Kulturgemeinschaft.

Die völkermörderische Intention Moskaus drückt sich in einer Reihe massenterroristischer Kriegsformen aus: vielfache absichtliche Bombardierung ziviler Infrastruktur, gezielte Vernichtung ukrainischer Kulturinstitutionen wie Kirchen und Bibliotheken, massenhafte Schleusung ukrainischer Zivilisten durch sogenannte Filtrationslager, willkürliche Misshandlung und Tötung von Hunderten von Zivilisten und Kriegsgefangenen, Massendeportation Zehntausender begleiteter und unbegleiteter Kinder, Russifizierungskampagnen in den besetzten Gebieten, Umerziehungslager für minder- und volljährige Ukrainer und weiteres.

Diese klar genozidale Vorgehensweise ist keineswegs einmalig nach 1945. Sie ist jedoch in dieser Form bislang von keinem ständigen Mitglied des für die Stabilität der internationalen Rechtsordnung mit zuständigen Uno-Sicherheitsrates ausserhalb seines Staatsgebiets praktiziert worden.

Damit im Zusammenhang steht eine vierte Besonderheit des Ukraine-Krieges – Russlands gezielte Nutzung seines 1991 von der Sowjetunion geerbten Uno-Sicherheitsratssitzes zur diplomatischen Begleitung eines Vernichtungskrieges und Absicherung unverblümter Gebietsannexionen. Mit dieser Vorgehensweise hat Russland seit 2014 die Funktion der Uno auf den Kopf gestellt. Einst geschaffen, um Völkerrecht und insbesondere staatliche Grenzen, staatliche Integrität und Souveränität zu schützen, sind die Vereinten Nationen in Russlands Händen zu einem Erfüllungsgehilfen geworden.

Ein kurioser Nebenaspekt ist, dass die Ukraine 1945 als damalige Sowjetrepublik einer der Gründer der Uno war, die Vorgängerrepublik des heutigen Russland, die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR), jedoch nicht. Trotzdem schliesst der Nachfolgestaat der RSFSR, die Russische Föderation, heute fünf gewaltsam annektierte Regionen eines Gründungsmitglieds der Uno offiziell in ihr Staatsgebiet ein. Vor diesem Hintergrund wundert es kaum, dass Russland im April 2022 Kiew bombardierte, als der Uno-Generalsekretär in der Stadt war. Antonio Guterres musste sich in einem Luftschutzkeller vor in seiner unmittelbaren Nähe einfliegenden Raketen eines ständigen Mitglieds des Uno-Sicherheitsrates in Sicherheit bringen.

Tragikomische Tragik

Die weitreichendsten Folgen von Moskaus Verhalten für das Weltsicherheitssystem hängen mit einer fünften Besonderheit, dem nuklearpolitischen Aspekt des russischen Expansions- und Vernichtungskriegs gegen die Ukraine, zusammen. Das Verhalten aller Akteure in dieser Konfrontation ist vom russischen Besitz beziehungsweise ukrainischen Nichtbesitz von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen geprägt. Die Ukraine selber wie auch der Westen und der Rest der Welt kalkulieren ihre Handlungen und Signale im Lichte unverhohlener Drohungen Moskaus, seine Nuklearwaffen einzusetzen, und Kiews Unvermögen, dem Paroli zu bieten.

Der welthistorisch skandalöseste Aspekt dieser Konstellation ist, dass der seit 1970 geltende Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV) Russlands Atomwaffenbesitz erlaubt, der Ukraine jedoch einen Erwerb oder Bau von Kernwaffen verbietet. Ähnlich den paradoxen Effekten des russischen Uno-Sicherheitsratssitzes hat Moskau den Sinn des NVV auf den Kopf gestellt. Als Instrument zur Friedenssicherung erdacht, wirkt der NVV heute durch die konsequente Umsetzung im Kontext von Russlands Verhalten gegenüber dem Unterzeichnerstaat Ukraine kriegsfördernd.

Wie im Falle der Uno-Mitgliedschaft der Ukrainischen Sowjetrepublik seit 1945 kommt auch bezüglich des NVV ein historisches Kuriosum hinzu. Die Ukraine hatte nach Erwerb ihrer Unabhängigkeit 1991 das nach Russland und den USA drittgrösste Arsenal an Atomwaffen. Die Ukraine besass damals mehr Kernsprengköpfe als die verbliebenen drei offiziellen Nuklearwaffenstaaten Grossbritannien, Frankreich und China zusammen.

Dennoch willigte Kiew Mitte der neunziger Jahre nicht nur ein, seine ohnehin unbrauchbaren Interkontinentalraketen zu zerstören. Die Ukraine liess sich im Austausch gegen das inzwischen berüchtigte Budapester Memorandum 1994 auch überreden, sämtliche militärisch nutzbaren atomaren Bestände, radioaktive Materialien, wissenschaftliche Kapazitäten und Nukleartechnologien sowie relevante Trägersysteme zu liquidieren oder an Russland abzugeben. Eine besondere Tragikomik dieser peinlichen Geschichte besteht seit 2022 darin, dass Russland einige der nach 1994 von der Ukraine im Rahmen des Budapester Deals erhaltenen Trägersysteme nunmehr zur Zerstörung ukrainischer Städte einsetzt.

Russland hat mit seinem Krieg gegen die Ukraine seit 2014 und dessen Eskalation seit 2022 nicht nur die liberale Weltordnung, sondern die generelle Nachkriegsordnung Europas, wenn nicht des Globus, nicht nur erschüttert, sondern ausser Kraft gesetzt. Russlands Angriff richtet sich nicht nur gegen die ukrainische Demokratie, sondern auch gegen die ukrainische Staatlichkeit, seine Grenzen, seine Souveränität, seine Identität und seine Integrität. Die subversiven Effekte dieses Verhaltens eines ständigen Uno-Sicherheitsratsmitglieds und offiziellen Atomwaffenstaates werden durch das kleinmütige oder konfuse Verhalten anderer Sicherheitsratsmitglieder und Atomwaffenstaaten sowie weiterer mächtiger westlicher Länder verstärkt.

Kluft zwischen Praxis und Rhetorik

Die vom Westen seit 2022 verhängten massiven Sanktionen haben zwar die russische Kriegsführung merklich behindert und die russische Wirtschaft deutlich geschwächt. Sie konnten jedoch den Willen des Kremls nicht beugen, das Volk nicht fundamental ermatten, geschweige denn den Krieg beenden. Die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine erfolgen weiterhin zögerlich oder drohen mangels Finanzen auszubleiben. Sie bleiben limitiert und schliessen einige entscheidende Waffengattungen aus.

Übersehen wird gern, dass Russlands Krieg häufig indirekt und manchmal ganz direkt europäische und andere internationale Interessen tangiert. Dies betrifft etwa russische Flugkörper, die in der Nähe ukrainischer Atomkraftwerke operieren, im Kiewer Botschaftsviertel einschlagen oder ukrainische Getreidesilos zerstören. Paradoxerweise überlassen selbst militärisch hochpotente europäische Staaten, deren Sicherheit von der russische Kriegsführung infrage gestellt wird, den Schutz ihrer nationalen Interessen auf ukrainischem Territorium ausschliesslich der ukrainischen Armee.

Auch bei der nichtmilitärischen Hilfe für die Ukraine bleibt das internationale Engagement verhalten. Es gibt zwar heute intensive westliche Debatten über Themen wie die Überführung eingefrorener russischer Finanzmittel an die Ukraine, die Ahndung massenhafter Menschenrechtsverletzungen in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten oder die Rücküberführung Zehntausender deportierter ukrainischer Kinder von Russland in ihre Heimat. Relevante praktische Schritte zur adäquaten Umsetzung dieser und ähnlicher nobler Absichten gibt es jedoch bislang nur wenige.

Vielmehr erzeugt die wachsende Lücke zwischen öffentlicher Rhetorik und politischer Praxis den Eindruck, dass es der Westen mit dem Erhalt und der Durchsetzung der liberalen Weltordnung nicht besonders ernst meint. Russland mag als Zombie-Imperium auf dem Holzweg sein und womöglich als Verlierer aus dem Krieg hervorgehen. Gleichwohl hat der Kreml schon heute bedeutsame Fortschritte bei der Zerstörung der 1945 entstandenen Nachkriegsordnung Europas und der Welt gemacht.

Andreas Umland ist Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) im Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten (UI).

453 Kommentare
Hans-Ruedi Hertig

Dass uns ein - im vergleich zum westen - wirtschaftlicher zwerg derart auf der nase herumtanzt, ist allein der strategischen inkompetenz, der fehlenden führungsverantwortung und der anpasserpolitik der gesellschaftlichen eliten im westen - namentlich deutschlands -  zuzuschreiben. Die kriegsgewinnler haltung der schweizer wirtschaft illustriert dies noch besonders gut.

Leo Ismar

Der Russische Angriffskrieg hat die "bestehende Sicherheitsarchitektur" nicht zerstört, sondern offengelegt, dass es ein Sicherheit bietendes System schlicht nicht gab. Tatsächlich hat der gesamte und wirtschaftlich hochpotente Westen (Europa, Nordamerika, Ozeanien, Japan), Russische Landnahmen in Georgien, Moldawien und der Ukraine auch zuvor stets tatenlos hingenommen. Und ist jetzt, mangels eigener Opferbereitschaft, nicht in der Lage, die sehr viel opferbereitere Ukraine militärisch so auszustatten, dass sie sich der Invasion eines wirtschaftlichen Zwerges effektiv erwehren könnte. Nicht einmal, nachdem sich die angebliche Größe des Russischen Militärs als Scheinriese erwiesen hat. Das zeigt, dass Putin zumindest in einem richtig lag: seinem Vertrauen auf die fehlende Kriegs- und Verteidigungsbereitschaft des Westens.

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