Interview

Nobelpreisträgerin Herta Müller: «Man darf dem Feind nicht den Gefallen tun, zu zerbrechen. Das wäre sein Sieg»

Am 7. Oktober dachte die Schriftstellerin an die Bodenlosigkeit der gegenwärtigen Kriege – und an die Muster, denen jede grausame Diktatur folgt.

Paul Jandl 6 min
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Herta Müller: «Geschichtsvergessenheit kann durch eine lange Zeit der Freiheit entstehen.»

Herta Müller: «Geschichtsvergessenheit kann durch eine lange Zeit der Freiheit entstehen.»

Julia Steinigeweg / Agentur Focus

Frau Müller, was haben Sie am 7. Oktober gedacht, als der Terrorangriff der Hamas auf Israel stattgefunden hat?

Dass es Bodenlosigkeit gibt. Es gibt nie ein Ende. Der Krieg in der Ukraine dauert jetzt schon anderthalb Jahre, und da geschehen in einer ganz anderen Weltgegend kriegerische Verbrechen von unbeschreiblicher Grausamkeit. Es war ein Pogrom, das Israels Bevölkerung getroffen und ihr jedes Leben in Selbstverständlichkeit genommen hat. Ich ärgere mich darüber, dass in den jetzigen Debatten so wenig über die Hamas geredet wird. Die Hamas regiert im Gazastreifen mit einer gnadenlosen Diktatur. Die Hamas hat sich diesen Landstrich zu eigen gemacht und benutzt die Bevölkerung nur, um zu herrschen. Die eigene Bevölkerung wird ausgeplündert.

Gehört es nicht zum Muster jeder Diktatur, dass das Volk als Schutzschild für die eigenen Interessen benutzt wird? In diesem Fall das palästinensische Volk?

Es ist das Muster jeder grausamen Diktatur. Man erkennt doch immer die Parallelen. Gaza muss arm gehalten werden, damit die Hamas ihre Macht behalten kann. Auch alles, was der Humanität dienen würde, muss zerstört werden, weil sonst die Macht der Hamas gefährdet wäre. Die palästinensischen Gebiete am Gazastreifen haben unterirdische Militäranlagen, die mit viel Geld aus Iran finanziert sind. Wenn der Begriff des Deep State einen Sinn ergibt, dann hier. Die Hamas hat einen tiefen Staat, und der liegt fünfzig Meter unter der Erde. Die Armut der Palästinenser ist programmiert. Die Hamas ist auf dieses System angewiesen, um überhaupt existieren zu können.

Unter europäischen und amerikanischen Intellektuellen hat es viel Kritik an Israel und gleichzeitig Sympathie für die Anliegen der Palästinenser gegeben. Wie sehen Sie das?

Es gibt eine oberflächliche Schleife der Argumente. Bei allem, was ich gesehen habe, wird die von mir gerade geschilderte Rolle der Hamas kaum erwähnt. Auch die Interessen Irans am Nahostkonflikt kommen kaum zur Sprache. Für mich ist klar: Wenn es einen Schuldigen gibt beim Massaker des 7. Oktober, dann ist das die Hamas. Ihre blutrünstige Orgie, bei der Kinder ermordet und Frauen verstümmelt und vergewaltigt wurden, hat zur jetzigen Eskalation geführt. Bei allen Argumenten, die jetzt gerade hin und her gehen, und bei allen geschichtlichen Analysen: Dass diese Massaker stattgefunden haben, ist im Augenblick die stabilste aller Wahrheiten. Es sind Akte reinen Terrors.

Es gehört zum Wesen des Terrors, dass er keine produktiven Ziele hat, sondern dass er einfach nur sagt: Ich bin da.

Und er sagt: Ich werde bleiben!

Wie könnte denn die Sache ein Ende haben?

Eine grosse Utopie wäre, dass der Islam abrüstet und zu einer reinen Religion wird. Mit einer destruktiven Ideologie kann man nicht reden. Jede abweichende Meinung wird zerquetscht. Das zeigen die Mullahs jeden Tag auf der Strasse. Wer Morde im Namen des Islam begeht, dem ist das Himmelreich sicher. Wenn der Tod verherrlicht wird, dann ist die Humanität nicht mehr vorhanden.

Hat nicht Wladimir Putin bei seinem Ukraine-Krieg längst ähnliche Heilsvorstellungen?

Ja. Putins Sprecher Dmitri Peskow hat erklärt, dass durch den Kriegseinsatz in der Ukraine frühere, eigentlich strafrechtlich zu verfolgende Morde gesühnt werden könnten.

Also christliche Vergebung, wenn jemand weitermordet?

Ja. Besonders loyal gegenüber Putin ist die russisch-orthodoxe Kirche. Sie spielt bei der ideologischen Aufrüstung im Ukraine-Krieg eine unsägliche Rolle und erreicht damit das ganze Volk. Das Wort Sühne wird in einem religiösen Sinn verwendet. Und Putin sagt den russischen Müttern: Der Tod als Soldat in der Ukraine ist ein Höhepunkt des Lebens. Die Menschen werden in diese Verbrechen hineinverflochten mit einer sakralen und gleichzeitig brutalisierten Sprache.

Sie haben vor Putin schon gewarnt, als er von führenden westlichen Politikern noch hofiert wurde. Warum?

Weil er eine kriminelle Ausbildung hat. Was hat man denn im KGB gemacht? Er war ein blasser, unscheinbarer Typ, und man hielt ihn anfangs für lenkbar. Das ist mit der Zeit gekippt. Jetzt kann er nicht mehr zurück.

Sie haben einmal gesagt, es gehöre zum Wesen der Diktatur, dass der Diktator seine Macht immer grausamer durchsetzen müsse. Sonst könnten ihn seine eigenen Verbrechen eines Tages einholen. Spielt das in der derzeitigen Lage Putins eine Rolle?

Ja. Er kämpft nicht nur um sein politisches Überleben, sondern auch um sein physisches. Er weiss, wie man mit Leuten umgehen muss, die gefährlich werden könnten. Deshalb wurde Prigoschin, der illoyale Führer der paramilitärischen Wagner-Truppen, ermordet.

Als jemand, der in einem kommunistischen Staat wie Rumänien aufgewachsen ist, haben Sie ein sehr zurückhaltendes Verhältnis zu Utopien. Sie haben einmal gesagt: «Utopien sind Träume. Es kommt immer darauf an, wer sie träumt.» Ist Utopie heute kein Versprechen mehr, sondern nur noch Gefahr?

Ich weiss überhaupt nicht mehr, was dieses Wort bedeutet. Utopie verlangt ja regelrecht nach Instrumentalisierung von etwas. Utopie ist besitzergreifend. Wessen Utopie geht bis wohin, und wo sorgt sie für Konflikte mit anderen Ideen? Gespenstisch ist heute vor allem die Idee eines identitären Staates, eines neuen Nationalismus. Geschichtsvergessenheit kann offenbar durch eine lange Zeit der Freiheit entstehen. Plötzlich gibt es das Bedürfnis nach dem Gegenteil von Freiheit. Ich weiss nicht, wie das funktioniert. Ich habe immer gedacht, in Diktaturen wird man planmässig verblödet und in Demokratien muss man planmässig nachdenken, weil man ja die Freiheit hat, Entscheidungen zu treffen. So entstehen Individuen. Von den USA haben wir jetzt noch gar nicht gesprochen. Wie ist im freiheitsliebenden Amerika jemand wie Trump möglich, der mit dem diktatorischen Regierungsstil nicht nur sympathisiert?

Politik und Schreiben

Herta Müller, geboren 1953 in einem kleinen Dorf in der damals kommunistischen Volksrepublik Rumänien, zählt spätestens seit ihrem Literaturnobelpreis zu den wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Vom Nobelpreiskomitee wurde Müller 2009 für die Intensität eines Werks gewürdigt, das aus den grausamen Erfahrungen mit einem autoritären Staat heraus entstanden ist. 1987 konnte Herta Müller Rumänien verlassen und lebt seither in Berlin. Zu ihren wichtigsten Werken zählen der frühe Prosaband «Niederungen» und Romane wie «Der Fuchs war damals schon der Jäger», «Herztier» und «Atemschaukel». Müllers Collage-Bücher versuchen die Welt anhand von aufgefundenen und neu zusammengesetzten Wörtern zu dechiffrieren. Ihre Essays setzen sich mit dem Zusammenhang von Politik und Schreiben auseinander.

In Minsk wurde dieser Tage die Wohnung der Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch von Schergen des Diktators Lukaschenko gestürmt. Sie selbst ist 2020 nach Berlin geflohen und wird seither verfolgt. Wie ähnlich sind Ihre eigenen Erfahrungen?

Der Diktatur geht es um Unsicherheit als Grundgefühl. Dann bekommt alles einen Schatten. Es gibt inszenierte Realitäten, Zufälle. Konstruierte Zufälle. Swetlana Alexijewitsch soll das Gefühl bekommen, kein Zuhause mehr zu haben. Das ist das Ewigkeitsgefasel des Diktators. Putin, Erdogan, Xi Jinping, das ist lebenslängliche Macht. Es gehört zu jeder Verfolgung, dass das Private nicht mehr privat sein darf. Es ist infiziert. Ich habe das oft erlebt. Der Geheimdienst hinterlässt Spuren in der Wohnung, um zu sagen, dass er da war. Sprüche vom «Glück des Volkes» sind so drastisch neben der Realität, dass man es nicht aushält. Und daran geht man dann auch kaputt. Mit der Erstürmung ihrer Wohnung will man Swetlana Alexijewitsch auch hier in ihrem Berliner Exil zerstören. Dazu kommt, dass alle ihre Freunde im Gefängnis oder verschwunden sind. Alles Dissidenten, die gegen Diktator Lukaschenko aufbegehrt haben. Es gibt auch ein Schuldgefühl im Exil: dass man sich selbst gerettet hat.

Ist man denn jemals wirklich gerettet? Sie selbst haben noch Jahre nach dem Ende des Ceausescu-Regimes mysteriöse Anrufe bekommen und wurden beschattet.

Man darf nicht zerbrechen. Man darf dem Feind nicht den Gefallen tun, zu zerbrechen. Das wäre sein Sieg.

Sie haben erzählt, dass Sie in der Corona-Zeit wochenlang nicht schlafen konnten, weil mit dieser Katastrophe auch die Katastrophe der Verfolgung wieder hochkam.

Das Erinnern kann mindestens so schwer wiegen wie das Erleben. Paul Celan ist auch an seiner Erinnerung zerbrochen. Der Dichter Oskar Pastior war als sehr junger Mann in einem russischen Arbeitslager. Wir sind einmal gemeinsam wieder dorthin gefahren. Vielleicht war es seine Art der Selbstrettung, dass er sogar dieses Lager als eine Art Heimat akzeptiert hatte. Die Zerbrochenheit ist ja ein Teil von einem selbst, den zu akzeptieren man lernen muss. Ich bin kein Psychologe, aber es ist sehr vertrackt. Es ist wie das Erfrieren, das euphorisch macht, oder der Hunger, der berauscht.

Vielleicht muss man sich seine Heimat immer erst selbst erfinden?

Ja. Man muss immer daran arbeiten. Oskar Pastior hat im Lager aus seinen grünen Wollhandschuhen einen Weihnachtsbaum gebaut. Er hat die Wolle über einem Drahtgestell verknotet, ganz eng, dass es aussieht wie kleine Tannennadeln. Und die anderen Gefangenen haben, obwohl sie alle sehr hungern mussten, kleine Kügelchen aus Brot geformt. Das war der Baumbehang. Fünf Jahre war Oskar Pastior im Lager. Jedes Jahr zu Weihnachten wurde der kleine Baum wieder aus dem Koffer geholt. Er war für ihn wie die Tannen aus den siebenbürgischen Wäldern, die er als Kind kannte. In einer anderen, fernen Heimat.

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