Die Islamisierung des palästinensischen Nationalismus hat die meisten arabischen Nachbarn auf reservierte Distanz gebracht

Der Terroranschlag vom 7. Oktober und der Krieg in Gaza werfen erneut ein Schlaglicht auf den ungelösten Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Schien die Palästina-Frage lange ein Kernanliegen der arabischen Welt, ist sie heute seltsam entarabisiert. Warum?

Reinhard Schulze 56 Kommentare 8 min
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Yasir Arafat (1929-2004), für Jahrzehnte die Ikone der palästinensischen Freiheitsbewegung.

Yasir Arafat (1929-2004), für Jahrzehnte die Ikone der palästinensischen Freiheitsbewegung.

Alain Nogues / Sygma / Getty

Im Mai 2023 beklagte der Nachrichtensender al-Jazeera aus Katar, dass die Palästinenser ihre arabischen Verbündeten verloren hätten. Hintergrund sei die zunehmende Hinwendung der arabischen Regime zu autoritärer Herrschaft. Für sie sei Palästina zu einem lästigen Störfaktor geworden. Die Palästinenser ihrerseits hätten die Hoffnung längst aufgegeben, dass die arabischen Staaten, insbesondere die Arabische Liga, ihrem Anliegen noch irgendeine regionalpolitische Bedeutung beimessen würden.

Die Palästina-Frage erscheint seltsam entarabisiert. Obwohl heute fast drei Viertel der Palästinenser in der arabischen Diaspora leben, zwei Drittel allein in den drei Ländern Jordanien, Syrien und Libanon, verweigern ihnen fast alle arabischen Staaten mit Ausnahme Jordaniens die staatsbürgerliche Integration. Eine arabische Palästina-Politik gibt es weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene. Einzig die rhetorische Nutzung der palästinensischen Sache, mit der sich die arabischen Potentaten Legitimität zu verschaffen suchen, hat Bestand.

Die sechs Staaten, die mit Israel staatsrechtliche Beziehungen eingegangen sind, ignorieren in ihren Abkommen die Palästinenser oder verschieben die Diskussion der mit ihnen zusammenhängenden Fragen auf eine unbestimmte Zukunft, wie im Fall des jordanisch-israelischen Friedensvertrages.

Verhinderte Integration

Die politischen Rahmenbedingungen für die Integration der palästinensischen Diaspora in den arabischen Nachbarländern sind also denkbar schlecht. «Integration» bedeutet vereinfacht die Möglichkeit und die Bereitschaft zur Teilhabe an Arbeit, Leben, Kultur, Kommunikation und Bildung in einer gemeinsamen Gesellschaft.

Theoretisch ist dies den Palästinensern garantiert, in der Praxis haben sich jedoch zwei gegenläufige Prozesse entwickelt: Einerseits sind viele Palästinenser gut ausgebildet; Palästina hat die niedrigste Analphabetenrate in der arabischen Welt. Dies hat zur Folge, dass Palästinenser im nationalen Bildungssystem, in der Verwaltung und in den Medien stark vertreten sind. Andererseits hat die mangelnde Integration zu einer enormen Verarmung der palästinensischen Diaspora vor allem in Syrien und in Libanon geführt. 15 Prozent der Palästinenser in Libanon leben von weniger als einem Dollar pro Tag.

Seit Beginn des Arabischen Frühlings 2011 beschäftigen sich auch arabische Wissenschafter mit den Ursachen und Folgen der politischen und sozialen Desintegration für die palästinensischen Diasporagemeinschaften. Sie stellten fest, dass eines der Haupthindernisse für die Integration das Fehlen eines gemeinsamen Interesses aller Beteiligten an der Verfolgung von Zielen und einer nachhaltigen Integration in gesellschaftliche Möglichkeitsräume ist. Hierfür machten sie vor allem den Autoritarismus im Nahen Osten verantwortlich. Die Palästinenser seien nicht nur ein Spielball arabischer Machtpolitik, sondern zugleich der Nimbus, mit dem sich arabische Potentaten gerne schmückten, wenn es um ihre Legitimität gehe.

So halten die arabischen Nachbarstaaten an ihrer seit über sechzig Jahren gepflegten Haltung fest, die palästinensischen Flüchtlinge allenfalls temporär zu dulden, ihnen aber keine besondere Integrationspolitik anzubieten. Die drei Länder Libanon, Syrien und Jordanien weisen darauf hin, dass sie seit 1948 den grössten Teil der palästinensischen Flüchtlinge aus Israel aufgenommen haben.

Aus den ursprünglich 720 000 Vertriebenen und Flüchtlingen, die sich in Libanon, Syrien und Jordanien niederlassen mussten, sind inzwischen über 3,6 Millionen Menschen geworden. Davon leben 27 Prozent in den 58 offiziellen und weitere 3 Prozent in den 10 inoffiziellen Lagern. Gut die Hälfte der palästinensischstämmigen Bevölkerung befindet sich heute in der arabischen Diaspora, weitere rund 25 Prozent sind Binnenflüchtlinge, die in Gaza und im Westjordanland eine neue Heimat gefunden haben.

Palästinensische Flüchtlinge in der jordanischen Hauptstadt Amman, 1948.

Palästinensische Flüchtlinge in der jordanischen Hauptstadt Amman, 1948.

Bettmann / Getty

Vier Phasen

Lediglich Jordanien erklärte sich bereits 1954 bereit, den 1948/49 geflohenen Palästinensern die jordanische Staatsbürgerschaft zu gewähren. In Libanon und in Syrien hingegen gibt es keinerlei Bemühungen, die palästinensische Bevölkerung strukturell zu integrieren. Es gibt keine Steuerungsmassnahmen – und wenn, dann allenfalls, um eine Integration zu verhindern. Das bedeutet, dass sich die palästinensische Bevölkerung in Libanon und in Syrien automatisch an die bestehenden ethno-konfessionellen Strukturen anpasst und selbst so etwas wie eine ethnische Gemeinschaft bildet.

Das Hauptargument der arabischen Regierungen, keine Flüchtlinge aufzunehmen bzw. den im Land verbliebenen Flüchtlingen keine direkten Integrationsmöglichkeiten zu bieten, war ein politisches: Sie behaupteten, dass jede Integrationsmassnahme, insbesondere die Verleihung der Staatsbürgerschaft, auf eine nachträgliche Anerkennung von Flucht und Vertreibung hinauslaufe und den Palästinensern die Möglichkeit und die Perspektive einer Rückkehr nehme.

Dieses Argument war jedoch historisch gesehen zweitrangig. Primär ging es darum, das Palästina-Problem als Paradigma arabischer Politik zu definieren. Dabei unterlag es den ideologischen Konjunkturen, die die politischen Entwicklungen in der Region nach 1948 prägten.

Vier Phasen lassen sich unterscheiden. Von 1948 bis 1952 hofften die meisten arabischen Staaten noch auf eine Revision der Ergebnisse der militärischen Niederlage im arabisch-israelischen Krieg von 1948, so dass die nach und nach für Palästinenser errichteten Flüchtlingslager noch als provisorische Aufenthaltsorte betrachtet wurden.

1952/53 änderten sich die politischen Verhältnisse in der arabischen Welt. Der Ost-West-Konflikt strukturierte nun weitgehend die politische Landschaft des Nahen Ostens und bestimmte vor allem die immer stärker werdende panarabische Nationalpolitik, die massgeblich von Nasser geprägt wurde. Die Palästinenser wurden zur umworbenen Ikone des Panarabismus. In diese Zeit fällt vor allem die Gründung des später grössten Lagers für Palästinenser, Jarmuk in Damaskus.

Anfang der sechziger Jahre zeichnete sich das Ende der panarabischen Vision ab. Der Palästina-Bezug verlor allmählich seine arabisch-nationalistische Funktion, und im Gegenzug radikalisierte sich ein neuer palästinensischer Nationalismus, der stark linkssozialistische Züge annahm und sich noch stärker an den Ostblock anlehnte. Damit geriet die palästinensische Politik in einen Gegensatz zu den lokalen nationalen Politiken in den Aufnahmeländern.

Schwarzer September 1970: PLO-Freischärler haben in Ar-Rahmha einen Panzer der jordanischen Armee unter ihre Kontrolle gebracht.

Schwarzer September 1970: PLO-Freischärler haben in Ar-Rahmha einen Panzer der jordanischen Armee unter ihre Kontrolle gebracht.

Jack Burlot / Imago

Aufruhr in Jordanien und Libanon

Auf dem arabischen Gipfel in Casablanca am 11. September 1965 setzte der ägyptische Präsident erneut Akzente für die arabische Sache: In einem Protokoll einigten sich sieben arabische Staaten unter Führung Ägyptens darauf, für die in ihren Ländern lebenden Palästinenser verbindliche Regelungen zu Arbeitsrechten und Freizügigkeit zu erlassen. Drei Länder, darunter Libanon, machten Sonderrechte geltend, drei weitere, Marokko, Tunesien und Saudiarabien, unterzeichneten das Protokoll nicht. Dieses sogenannte Casablanca-Protokoll sollte die einzige für die Palästinenser verbindliche panarabische Regelung bleiben.

Ab 1968 versuchten palästinensische Akteure in einigen der 68 Flüchtlingslagern eine eigene politische Souveränität aufzubauen, die zwangsläufig in Konkurrenz zu den lokalen staatlichen Institutionen trat. Der Versuch der palästinensischen Organisationen, ihren Machtbereich auch in den Aufnahmeländern auszudehnen und nationale Enklaven zu schaffen, endete in einer doppelten Katastrophe: zunächst 1970/71 im Rahmen des «schwarzen Septembers» in Jordanien und dann ab 1974 im libanesischen Bürgerkrieg, der mit der Vertreibung der PLO aus Beirut im August 1982 einen Zwischenhalt einlegte.

Die Niederlage der Palästinenser in Beirut bedeutete das allmähliche Verschwinden der linkssozialistischen Hegemonie über die palästinensische Nationalbewegung. In der dritten Phase vertiefte sich die Kluft zwischen arabischer und palästinensischer Nationalpolitik. Nur die beiden Baath-Regime in Syrien und im Irak hielten noch an einem Bündnis mit ihrer Klientel in der palästinensischen Nationalbewegung fest.

Ein Sonderfall war Kuwait. Just zur Zeit der Nakba wurden in Kuwait riesige Ölvorkommen entdeckt. Der noch unter britischem Schutz stehende Staat lud palästinensische Familien ein, beim Aufbau des Staatsapparates zu helfen. Bereits 1965 waren fast 17 Prozent der Einwohner Kuwaits Palästinenser, nach 1967 stieg ihre Zahl weiter an. Der libanesische Bürgerkrieg und die Niederlage der PLO in Beirut 1982 brachten einen weiteren Einwanderungsschub. 1990 lebten fast ebenso viele Palästinenser wie Kuwaiter im Land. Kuwait war nach Jordanien zur Heimat der zweitgrössten palästinensischen Diaspora geworden.

Während und nach dem Golfkrieg mussten die meisten der 400 000 Palästinenser das Land verlassen. Zunächst betrachtete die irakische Besatzungsmacht die Palästinenser als potenzielle Gegner, entzog ihnen Lebensmittel, medizinische Versorgung und finanzielle Mittel und unterwarf sie einem strengen Kontrollregime. Bis zum Beginn der Rückeroberung verliess die Hälfte der Palästinenser das Land. Danach waren es die kuwaitischen Behörden, die die verbliebenen Palästinenser aus dem Land vertrieben. Nach 2004 verbesserten sich die politischen Beziehungen zwischen der PLO und Kuwait, als sich Mahmud Abbas offiziell für die Unterstützung der irakischen Besatzung durch die PLO entschuldigte. Heute dürften wieder etwa 80 000 Palästinenser im Land leben.

Die zunehmende Islamisierung des palästinensischen Nationalismus in den achtziger und neunziger Jahren führte zu einer Neuorientierung der nationalen Politik in nichtarabischen Unterstützerstaaten wie Iran und der Türkei, was wiederum das Misstrauen der arabischen Staaten gegenüber den Palästinensern verstärkte.

Nach 1982 verschlechterten sich die Rahmenbedingungen für die Palästinenser in den meisten arabischen Ländern dramatisch. So wurde es für palästinensische Studenten in Ägypten immer schwieriger, einen Studienplatz und ein Aufenthaltsrecht zu erhalten. Ihre Bewegungsfreiheit wurde entgegen den Bestimmungen des Casablanca-Protokolls drastisch eingeschränkt. Ja, das Aufenthaltsrecht wurde der Willkür der staatlichen Behörden unterworfen, mit der Folge, dass die Mehrheit der Palästinenser in den arabischen Ländern kaum noch in einer rechtlich gesicherten Situation leben konnte.

1982, mitten im libanesischen Bürgerkrieg, verübten christliche Milizen unter den Augen israelischer Besatzer in den Palästinenser-Flüchtlingslagern Sabra und Chatila nahe Beirut ein Massaker.

1982, mitten im libanesischen Bürgerkrieg, verübten christliche Milizen unter den Augen israelischer Besatzer in den Palästinenser-Flüchtlingslagern Sabra und Chatila nahe Beirut ein Massaker.

Bill Foley / AP

Ende der arabischen Schirmherrschaft

Schliesslich sollte die Hegemonie der islamisch-nationalistischen Hamas über die palästinensische Nationalbewegung das langjährige Bündnis mit den arabischen Staaten endgültig begraben. Für die meisten arabischen Staaten, mit Ausnahme Katars, war der islamisch-nationalistische Hintergrund der Hamas Grund genug, die Schirmherrschaft über die Nationalbewegung endgültig aufzugeben.

Verstärkt wurde dies durch die allmähliche Hinwendung der Hamas zur «Achse des islamischen Widerstands» unter Führung Irans. Die Erfahrungen von Jordanien 1971, von Beirut 1982 und Kuwait 1990 haben die Palästinenser in der arabischen Welt einem Generalverdacht ausgesetzt. Ihnen werden die Besetzung separater gesellschaftlicher Räume und daraus abgeleitete politische Machtansprüche zugetraut, die wie in Jordanien und in Libanon zum Bürgerkrieg und wie in Kuwait zum Staatszerfall führen können.

Heute hat die arabische Welt die politische Hegemonie über die arabische Interpretation des Palästina-Problems verloren. Massgeblich sind nun die Türkei und Iran, die aber keineswegs vor der Herausforderung stehen, einen ähnlichen gesellschaftlichen Integrationsprozess wie in der arabischen Welt zu bewältigen. Zudem ist es Iran gelungen, in der arabischen Welt Brückenköpfe in Form von Para-Staaten zu etablieren, die die Palästina-Frage zum Kern ihrer Widerstandsideologie gemacht haben und die sogar parallel zu einer Annäherungspolitik zwischen Iran und Saudiarabien fortbestehen können.

Kein Wunder, dass die arabischen Regime alles daransetzen, den Gaza-Krieg und seine Folgen von sich fernzuhalten und die diplomatische Lösung des Konflikts anderen zu überlassen. Einzig Katar, das aus historischen Gründen seine Staatsräson mit der Unterstützung der «islamischen Sache» verbindet, hält an einem Engagement fest und zementiert damit seine Position als arabischer Vermittler.

Unabhängig vom Ausgang des Gaza-Krieges ist klar, dass sich die arabische Politik gegenüber Palästina nicht mehr an der Hamas orientieren, sondern entweder versuchen wird, die PLO zu revitalisieren, oder auf neue Strukturen der politischen Repräsentation setzen wird.

Reinhard Schulze ist emeritierter Islamwissenschafter und Direktor des Forums Islam und Naher Osten an der Universität Bern.

56 Kommentare
Stephan Reihle

Hochinteressante Ausführungen, nur leider für die Schreihälse auf europäischen Straßen viel zu lang und zu komplex. Die Thunbergs brauchen einfache, griffige Slogans, die sich im Idealfall auch noch reimen, sonst sind sie intellektuell heillos überfordert.

Thomas Zwicky

Palästinensischer Nationalismus? Es  ist vor allem ein Hass in der arabischen Welt auf den Westen, ein Hass, für welchen die Palästinenser instrumentalisiert und benutzt werden. Es ist der Iran, der in der ganzen Region Grauen und Horror säht. Die Appeasementpolitik ggü dem Iran, vor allem durch Obama und vieler seiner weltweiten Anhänger, war ein grosser Fehler. Man wollte, wiedereinmal, nicht erkennen, wie "böse" der Iran im Kern ist, denn ist nicht auch da das Wohlwollen ggü dem Mullahstaat von diesem krankhaften  poltkolonialen, antirassistischen Geist getrieben, welcher westlichen, linken Protagisten jeglichen Sinn für das Gute und Gerechte abhanden kommen lässt?  "der Westen" muss zu den aufgeklärten, liberalen Werten wie Freiheit, Individualismus (nicht individueller Opferkult) Marktwirtschaft und Stärke zurückfinden und diese Kräfte in der arabischen Welt födern, aber keine Lektionen erteilen. Dem Rest dort und denen hierzulande, die in die Hand beissen, welche sie füttert, müssen wir mit Entschlossenheit gegenübertreten.