Traktat über die Verirrten: Der Palästina-Konflikt demaskiert die radikale Linke

Der Wahn unserer Zeit heisst: Antirassismus und Postkolonialismus. Die linke Ideologie sickert in die ganze Gesellschaft.

Benedict Neff 387 Kommentare 8 min
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Demonstration für Palästina an der University of California, Los Angeles, Anfang November 2023.

Demonstration für Palästina an der University of California, Los Angeles, Anfang November 2023.

Caroline Brehman / EPA

Es gibt Ereignisse, die zu einer eigentümlichen Klarheit führen. Ein solches ist das Hamas-Massaker in Israel vom 7. Oktober 2023. Weit entfernt von den Kampfhandlungen hat eine Demaskierung stattgefunden. Nachdem palästinensische Terroristen über 1000 unschuldige Zivilisten massakriert und entführt hatten, gingen im Westen Ultralinke und Islamisten gemeinsam auf die Strasse, um gegen Israel zu demonstrieren. Das Verbrechen war für diese radikalen Linken kein Anlass, um sich mit den Opfern zu solidarisieren. Im Gegenteil, sie gaben den Tätern Flankenschutz.

Viele radikale Linke schweigen – beim russischen Massaker in Butscha waren sie noch voller Empörung. Viele Feministinnen schweigen – die brutale sexuelle Gewalt, die Israelinnen am 7. Oktober widerfahren ist, interessiert sie nicht. Oder sie zweifeln daran, dass es sie gegeben hat. Andere schienen schon am Tag des Massakers nur über eines sprechen zu wollen: den Kontext. Konnte dieser palästinensische Gewaltausbruch irgendjemanden verwundern nach Jahrzehnten israelischer Unterdrückung?, gaben sie zu bedenken. Selbst die Klimajugendlichen schienen sich über Nacht in Arafat-Tücher tragende Israel-Hasser zu verwandeln.

All diese Reaktionen waren schwer verständlich. Diese Linken, die permanent moralisieren, schienen eiskalt. Aber mit jedem Tag wurde klarer, dass ihre Denkmuster schon lange da waren, man sie nur nicht recht ernst genommen hatte. Oder man hatte geglaubt, dass im Ernstfall das menschliche Mitgefühl doch stärker sein würde als die ideologischen Schablonen. Man mag das heute für naiv halten, trotzdem glaube ich, dass vielen Menschen – auch vielen Linken – das wahnhafte und mechanische Denken der Linksextremisten auf der Grundlage von postkolonialen und antirassistischen Theorien erst in diesen Tagen richtig bewusst geworden ist. Denn im Grunde sagten diese radikalisierten Linken: Israeli sind keine Opfer, und sie können keine Opfer sein.

Das Manifest der Verirrung

Natürlich war dies auch die Stunde von Judith Butler, der von vielen Linken verehrten Philosophin und Feministin. 2006 warb sie dafür, die Terrororganisationen Hamas und Hizbullah als progressive und soziale Bewegungen zu verstehen, die zur globalen Linken gehörten. Nun veröffentlichte sie weniger als eine Woche nach dem Hamas-Massaker einen Artikel unter dem Titel «Der Kompass der Trauer». Der Text in der «London Review of Books» ist ein Manifest der Verirrung.

Butler beklagt in ihrem Essay, dass palästinensische und jüdische Leben nicht gleich betrauert würden; ein Gedanke, den sie schon in «Die Macht der Gewaltlosigkeit» ausgeführt hat. «Ein Leben muss betrauerbar sein», schreibt sie da. «Das heisst, sein Verlust muss als Verlust benennbar sein.» Wer würde widersprechen? Was dann folgt, ist aber vor allem die Beschreibung des sogenannten Kontexts. Es ist die Geschichte eines israelischen Kolonialismus, dessen Benennung ein Tabu sei.

Der Antisemitismus als Terrormotiv der Hamas taucht im Text nicht auf. Dass die Hamas ihre eigene Bevölkerung terrorisiert und opfert, indem sie die militärische und die zivile Infrastruktur ineinander verschränkt? Jihad, Islamismus, Vernichtungskrieg gegen Israel? Keiner Rede wert. Der vielbeschworene Kontext ist oft nicht mehr als ein Scheinkontext, eine Wegblendung. Butler bekennt: «auch ich bin Jüdin», und tappt dann in die Falle, die sie selbst beschreibt: Sie betrauert die palästinensischen Toten emphatisch und die israelischen pflichtschuldig. Dem palästinensischen Terror gibt sie einen Erklärungsrahmen, ja beinahe eine Legitimation, die israelische Gewalt verortet sie allein in Rassismus und Kolonialismus.

Israelische Opfer? Werden nicht genannt

Am 1. November figurierte Butler auf einer Liste von Philosophen, die einen öffentlichen Brief unterschrieben haben unter dem Titel «Philosophy for Palestine». Das Hamas-Massaker wird verschwiegen, hingegen ist von einem «Massaker in Gaza» die Rede, dem «Kampf gegen Apartheid» und davon, dass die Unterzeichneten für einen «kulturellen Boykott israelischer Institutionen» einstehen. Später erklärte Butler in der «Zeit», sie habe darum gebeten, in diesem Brief die israelischen Opfer der Gewalt zu erwähnen. Die Verfasser des Briefes seien aber nur bereit gewesen zu schreiben, dass diese Gewalt stattgefunden habe. Es klang so, als habe allein die Bezeugung des Hamas-Massakers grosse Überwindung gekostet. Im Brief heisst es «Überfall».

Die ungleiche Betrauerung von Leben ist in Wahrheit auch ein akutes Problem der Anti-Israel-Linken. Mittlerweile scheint Butler nicht einmal zu den radikalsten Stimmen zu gehören, wie ihre Intervention bei dem Brief zeigt. Sie hat ihr eigenes Milieu aber derart mitradikalisiert, dass sie es nun nicht mehr einfangen kann. Und sie scheint zu moralischen Abstrichen bereit zu sein, wenn sie mit ihrer Unterschrift der palästinensischen Sache und der Verharmlosung der Hamas dienen kann.

Welche Armee der Welt informiert die Gegenseite vor einem Angriff und zeigt der Zivilbevölkerung Fluchtwege auf, wie es die israelische macht? Gleichzeitig, auch das gehört zur Wahrheit, zeigen die hohen palästinensischen Opferzahlen seit der Offensive der israelischen Armee, dass die Wirkung dieser Warnungen begrenzt ist. Der humane, klinisch präzise Krieg bleibt eine Illusion, umso mehr, wenn sich der Gegner bewusst unter Zivilisten einnistet. Über all das gibt es im demokratischen Israel eine sehr kritische öffentliche Debatte. In Gaza gibt es die Hamas-Doktrin, die die Vernichtung Israels vorsieht. Auch dieser Kontext ist bei den radikalen Linken nicht populär.

Aus Juden werden Nazis gemacht

Das Herzstück der Unmoral der radikalen Linken ist allerdings eine perfide Umkehr, die auch bei Butler anklingt. Warum sie den Brief unterschrieben habe, fragte die «Frankfurter Rundschau» in einem Interview. Butler: «Weil ich gegen den Völkermord Stellung beziehen will, und das ist genau das, was mir als Jude beigebracht wurde: ‹Nie wieder› gilt nicht nur für das jüdische Volk, sondern für alle Menschen.»

Im Grunde sagen die radikalen Linken mehr oder weniger offen: Die Israeli, gegen die sie selbstverständlich und natürlich nichts hätten, seien in diesem Konflikt nicht Juden, sondern Nazis. Oder wie der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago einmal festhielt: «Das jüdische Volk verdient kein Mitleid mehr für das im Holocaust erlittene Leid, denn es fügt den Palästinensern Leid von derselben Art zu.»

Israel wird bis heute für den Holocaust bestraft. Verschwörungstheoretiker sehen in der Shoah eine Erfindung. Der Vorwurf, dass Israel den Holocaust instrumentalisiere, gehört schon fast zum politischen Mainstream. Und der dritte Vorwurf, dass Israel selbst einen Holocaust veranstalte, scheint bei den radikalen Linken gerade besonders Konjunktur zu haben. Nicht zuletzt bietet es einen Legitimationsrahmen für Judenhass: Wenn die Israeli die neuen Nazis wären, dürfte man sie auch hassen.

Die radikalen Linken hassen den Nationalstaat

Zum Verhängnis wird den Juden aber auch ein schlechtes Timing mit ihrer Staatsgründung. Jahrhunderte waren sie auf der Wanderschaft, und ausgerechnet in dem Moment, wo sie zu ihrer Sicherheit und als Folge der Shoah einen Nationalstaat gründen, wird diese Organisationsform von den radikalen und kosmopolitischen Linken abgelehnt. Grenzen sollen niedergerissen werden, Nationalstaaten gelten als Anachronismus, und auf die Abstammung soll sich bitte nur berufen, wer eine anerkannte Minderheit ist – den Juden scheint dieser Status nicht vergönnt zu sein.

Edward Said, der Schirmherr des Postkolonialismus und Propagandist eines bewaffneten palästinensischen Widerstands, hat sich selbst einmal als «letzten jüdischen Intellektuellen» bezeichnet, weil er in seinem Denken immer wieder Bezug nahm auf Adorno und Hannah Arendt. Die Spielarten der radikalen Linken, den Juden ihre jüdische Identität abzusprechen oder gar selbst in ihre Rolle zu schlüpfen, sind vielschichtig.

«Die Fixierung auf Hitler bringt die Juden in Gefahr»

Extremisten gibt es immer, mag man denken und mit den Schultern zucken. Aber das ist zu wenig. Figuren wie Edward Said und Judith Butler gestalten die Welt mit. Ihre Gedanken liegen nicht einfach zwischen zwei Buchdeckeln, sie fliessen in politisches Handeln ein, sie prägen die Sicht auf die Welt. In leicht verdünnter Form finden wir die akademischen Ideen in den Medien, im Kunstbetrieb, aber auch in der Regierungspolitik.

Die europäische Migrationspolitik ist durchdrungen vom Gedanken des «Nie wieder!». Aber nun stellt man allmählich fest, dass die Europäer so fixiert waren auf den Antisemitismus von gestern, dass sie den neu aufkommenden muslimischen Antisemitismus nicht wahrgenommen oder ignoriert haben. Juden fühlen sich in Deutschland zum Teil nicht mehr sicher, aus Frankreich ziehen sie weg. Malmö, die drittgrösste Stadt von Schweden, ist mittlerweile «judenrein», wie der französische Philosoph Alain Finkielkraut in seinem Buch «Ich schweige nicht» schreibt. Jüdisches Leben ist verschwunden, weil das arabische so dominant geworden ist. «Die Fixierung auf Hitler bringt die Juden in grosse Gefahr», schreibt Finkielkraut. «Es ist verstörend, dass ausgerechnet die ständige Erinnerung an diese düstere Zeit ihnen nun möglicherweise zum Verhängnis wird.»

Statistiken jenseits der Realität

Auch die deutsche Politik und die deutschen Medien geben sich weiter der Realitätsverweigerung hin. Jedes Jahr veröffentlicht das Innenministerium die Statistik zur politisch motivierten Kriminalität im Land. Der Befund ist immer der gleiche: Der weit überwiegende Anteil der antisemitischen Straftaten sei «politisch rechts motiviert». Man stellt es jedes Jahr erleichtert fest und ist froh, dass der deutsche Neonazi weiterhin der Hauptfeind der Juden ist. Dabei deutet einiges darauf hin, dass die Realität komplizierter ist.

2013 hatte die European Agency for Fundamental Rights, eine Einrichtung der EU, eine Umfrage in acht Ländern durchgeführt. Sie kam zu dem Schluss, dass Juden Antisemitismus mit Abstand am häufigsten von Muslimen erlebten, Ausnahmen waren Ungarn und Italien. 2017 machte die Uni Bielefeld eine ähnliche Umfrage unter Juden in Deutschland. Während das Innenministerium in diesem Jahr 94 Prozent rechtsextreme Täter listete, ergab die Bielefelder Befragung, dass 81 Prozent der Täter als Muslime wahrgenommen wurden.

Obwohl die Ungenauigkeit der nationalen Statistik bekannt ist, scheint es in Deutschland kein politisches Interesse zu geben, ein präziseres Bild vom Antisemitismus zu erhalten. In der Schweiz ist es ähnlich: Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider findet eine Diskussion über muslimischen Antisemitismus «nicht zielführend», wie sie der «NZZ am Sonntag» sagte.

Der Verdacht liegt nahe, dass man Angst vor den Ergebnissen hat. Und bei dieser Angst kommt der Antirassismus ins Spiel: Asylsuchende, Ausländer, Angehörige fremder Religionen und Minderheiten sind als Täter nicht erwünscht.

Die Ideen des Antirassismus und des Postkolonialismus artikulieren sich überall. Die amerikanische Schauspielerin Whoopi Goldberg erklärte Anfang 2022, dass die Ermordung von sechs Millionen Juden nichts mit Rassismus zu tun gehabt habe. Schliesslich hätten hier Weisse andere Weisse verfolgt. Gemäss der «critical race theory» sind weisse Rassismusopfer nicht vorgesehen. Weisse sind per se privilegiert und in der Regel – bewusst oder unbewusst – rassistisch.

Das Ideal der Nichtexistenz

Wenn sich der Westen durch solche Theorien einschüchtern lässt, beraubt er sich jeglichen politischen Handlungsspielraums. Und vor allem blickt er der Realität nicht mehr ins Auge. In der Israel-Frage, in der Migrationspolitik, letztlich auf jedem Feld einer selbstbestimmten Politik. Wie die Hamas-Beweihräucherung der Ultralinken und die Briefe von Judith Butler zeigen, taugen sie nicht einmal als moralischer Kompass.

Die linksextreme Ideologie tendiert in Richtung Selbstaufgabe. Der Westen hat zu viel Schuld aufgeladen, nun soll er eine Existenzform finden, die der Welt keine Schmerzen mehr zufügt. Das ist die Nichtexistenz, auch für Israel.

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S. N.

Es kommt zum Vorschein, was Gutinformierte schon länger wissen: woke sein bedeutet Hinwendung zur Menschenfeindlichkeit. Dort wo angefangen wird Menschen auf Grund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion oder sexuellen Veranlagung als besser oder schlechter hinzustellen, dort fängt die Unmenschlichkeit an. Und das ist der Kern der woken Bewegung. Wer "alte weiße Männer" für alles schuldig erklärt oder Juden für Weiß erklärt oder auch nur dann Unrecht wahrnimmt wenn es bestimmte Menschen betrifft, ist auf den Weg zu dem, wo wir schon vor 100 Jahre gewesen sind und was zum Holocaust geführt hat. Makaber, aber die Menschen ändern sich nicht, lernen nicht aus der Geschichte.

H. A.

Das hat sich schon lange abgezeichnet. Im Jahr 2004 wurde ich dienstlich Zeuge als anlässlich des Jahrestages der Irakinvasion durch die USA, die extreme Linke gemeinsam mit Islamisten in Wien marschierte. Bei der Durchquerung der Hofburg wurde „Allah Akbar“ gerufen und dann gemeinsam am Stephansplatz israelische und US Fahnen verbrannt… Mir war damals schon klar dass da gemeinsam marschiert was im Grunde zusammengehört: Totalitäre Ideologien mit dem Anspruch das Leben der Menschen umfassend zu regulieren und zu bestimmen. Hat nur niemanden interessiert damals….