Energie Homo Sapiens Politik

Genug zu essen für alle

Der Originalbeitrag ist als „Schlumpfs Grafik 92“ im Online-Nebelspalter vom 4. Dezember 2023 zu lesen.

Die meisten Menschen können sich nicht mehr vorstellen, was es heisst, Hunger zu haben. Das war früher ganz anders: Während des grössten Teils der Menschheitsgeschichte war der Hunger eine ständig lauernde Bedrohung, die nicht selten zum Tod führte. In der Bibel wurde dieses Schicksal mit dem dritten apokalyptischen Reiter auf einem pechschwarzen Pferd symbolisiert. Und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein konnte eine Missernte die Menschen in Not und Elend stürzen – selbst in den privilegiertesten Ländern.

Was wichtig ist:

– Das Nahrungsangebot pro Person ist in den letzten 60 Jahren weltweit um 36 Prozent gestiegen – trotz enormem Bevölkerungswachstum.
– Hungersnöte gibt es heute praktisch keine mehr. Entsprechend sind die Opferzahlen massiv gesunken.
– Auch der Anteil unterernährter Menschen ist weltweit gesunken, er liegt aber immer noch bei neun Prozent.

1798 hat der englische Ökonom Thomas Malthus den Zustand einer drohenden Hungersnot, der über Jahrhunderte unverändert war, in seinem Buch über die «Prinzipien der Bevölkerung» zum ersten Mal kausal erklärt (siehe hier). Seine Bevölkerungstheorie, die er dort vorgetragen hat, besagt, dass es nicht möglich ist, eine wachsende Bevölkerung auf Dauer genügend zu ernähren, weil die verfügbare Landwirtschaftsproduktion dazu nicht ausreicht. Malthus ging davon aus, dass die Bevölkerung exponentiell wächst, während das Wachstum bei der Produktion von Nahrungsmitteln nur linear sei und damit nicht mit der Zahl der Menschen Schritt halten könne.

Diese Vorstellung, dass die vorhandenen Ressourcen nicht genügen, um eine wachsende Bevölkerung mit Nahrung zu versorgen, hat bis heute ihre Anhänger, obwohl sie sich als falsch erwiesen hat. Denn heute sind wir in der Lage, genügend Nahrung zu produzieren, um damit alle Menschen auf der ganzen Welt zu ernähren – und dies trotz gewaltigem Bevölkerungswachstum seit Malthus’ Zeiten.

Seit 1961 stieg das Nahrungsangebot um ein Drittel pro Person

Menschen zu ernähren heisst, sie mit genügend Energie – sprich Kalorien – zu versorgen. Die folgende Grafik zeigt die Entwicklung der Pro-Kopf-Versorgung mit Kalorien anhand von Zahlen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno (FAO, siehe hier). Der betrachtete Zeitraum ist 1961 bis 2020.

Quelle: FAO / Martin Schlumpf

Die Darstellung zeigt aber nur, wie viel Nahrungsenergie pro Tag für jeden Menschen zur Verfügung steht, jedoch nicht, ob diese Nahrung auch tatsächlich bei jedem einzelnen ankommt und wie viel davon im Abfall landet.

Die dicke schwarze Kurve in der Grafik zeigt die Kalorienversorgung pro Kopf im globalen Durchschnitt: Während 1961 erst 2181 Kilokalorien (kcal) zur Verfügung standen, stieg dieser Anteil bis 2020 auf 2947 kcal. Das entspricht einer Zunahme von 36 Prozent. Dieser Fortschritt ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Weltbevölkerung in der gleichen Zeit um 155 Prozent grösser geworden ist.

Genügend Kalorien, um alle Menschen zu ernähren

Die farbigen Kurven in der Grafik zeigen ausserdem, wie die anfänglich sehr grossen regionalen Differenzen im Gleichschritt mit dem globalen Fortschritt abgenommen haben: 1961 betrug der Abstand zwischen den am weitesten auseinanderliegenden Kurven (die Regionen China, rot, und Europa, orange) 1620 kcal, bis 2020 ist dieser Abstand zwischen den derzeitigen Extremen Europa und Afrika (violett) auf 880 kcal gesunken.

Wie viele Kalorien aber braucht der Mensch überhaupt? Das ist abhängig vom Geschlecht, vom Alter und von der körperlichen Tätigkeit. Nach Angaben der Deutschen «Stiftung Gesundheitswissen» (siehe hier) schwankt der Bedarf für Erwachsene in Deutschland zwischen 1700 und 3100 kcal pro Tag. Wenn wir einen Mittelwert von 2400 kcal als Massstab anlegen, erkennt man, dass der globale Durchschnittswert von 2020 deutlich darüber liegt: Wir sind heute vom Angebot her also imstande, alle Menschen ausreichend zu ernähren.

Hungertote gibt es praktisch keine mehr

Was ist aber passiert, dass Malthus und seine Jünger mit ihren Prophezeiungen so falsch lagen? Einmal hat die Mechanisierung der Landwirtschaft mit fossil betriebenen Maschinen zu den höheren  Erträgen der Landwirtschaft beigetragen. Ein weiterer Meilenstein war eine Art chemische Revolution: 1909 gelang es den deutschen Chemikern Fritz Haber und Carl Bosch, Stickstoff aus der Luft zu binden und damit Kunstdünger herzustellen. Und schliesslich war es die «grüne Revolution» des amerikanischen Agronomen Norman Borlaug, der durch systematische Züchtung von Pflanzen neue, ertragreichere Sorten von Weizen und Reis entwickelte: Diese machten arme Länder wie Mexiko und später Indien und Pakistan zu Getreideexporteuren.

All das hat dazu beigetragen, dass Hungersnöte immer seltener wurden, und dass die dadurch verursachten Opferzahlen massiv zurückgingen. Die nächste Grafik von der Webseite «Our World in Data» zeigt die Entwicklung der Todeszahlen wegen Hungersnöten seit 1860 (siehe hier).

Quelle: Our World in Data

Die hier ausgewiesenen Opferzahlen beziehen sich immer auf den Durchschnitt eines ganzen Jahrzehnts, und sie geben die Anzahl der Todesfälle pro 100’000 Menschen wieder, das heisst, das Bevölkerungswachstum ist eingerechnet. Das Resultat ist kaum fassbar: Ab Mitte des 20. Jahrhunderts sinkt die Gefahr, an einer Hungersnot zu sterben, signifikant, und sie verschwindet im 21. Jahrhundert fast vollständig.

Was aber bleibt, ist das Problem der Nahrungsverteilung. Das wird deutlich, wenn wir schauen, wie sich der Anteil der unterernährten Menschen in den letzten 20 Jahren entwickelt hat. Von Unterernährung spricht man, wenn die verfügbare Nahrung nicht ausreicht, um ein normal aktives und gesundes Leben zu führen. Die nächste Grafik, die ich bei «Our World in Data» zusammengestellt habe, zeigt die Entwicklung des Anteils unterernährter Menschen global und in den wichtigsten Regionen seit 2001 (siehe hier).

Quelle: Our World in Data

Die erste positive Nachricht: Im weitaus grössten Teil der Welt ist Unterernährung praktisch verschwunden. In dieser Grafik wird dieser Zustand mit einer fixen Linie bei 2,5 Prozent dargestellt (gemäss einer Regelung der FAO): Ausser der EU und China, das 2010 nach einer beispiellosen Entwicklung ebenfalls dieses tiefe Niveau erreicht hat, wäre hier also der Grossteil aller Länder zu finden.

Noch viele Unterernährte in Sub-Sahara-Afrika und Südwest-Asien

Die zweite positive Nachricht: Im Weltdurchschnitt ist der Anteil unterernährter Menschen in diesen 20 Jahren von 13 auf 9 Prozent gesunken. Allerdings zeigt die Kurve, dass die Zahl bis 2013 auf 8 Prozent zurückging und dort fünf Jahre stagnierte. Erst der wirtschaftliche Rückschlag, der durch die Corona-Pandemie verursacht wurde, hat 2020 wieder zu vermehrter Unterernährung geführt.

Diese kurze Unterbrechung des allgemeinen Fortschrittstrends betrifft vor allem Schwellen- und Entwicklungsländer: In Indien, dem Bevölkerungsgiganten noch vor China, ist die Quote der Unterernährten von 14 auf 16 Prozent gestiegen. Weltweit am schlimmsten aber ist die Situation in Sub-Sahara-Afrika, wo der Anteil zwischen 2013 und 2020 von 16 auf 21 Prozent gewachsen ist, möglicherweise wegen verteuerten Lebensmitteln.

Dies wird bestätigt durch die Liste der sechs Länder mit den höchsten Quoten: 1. Somalia, 2. die Zentralafrikanische Republik und 3. Madagaskar haben alle um 50 Prozent Unterernährung. 4. Jemen, 5. Nordkorea und 6. die Demokratische Republik Kongo liegen um 40 Prozent.

Thomas Malthus’ Pessimismus erwies sich als falsch

Das ist die schlechte Nachricht: 9 Prozent globale Unterernährung heisst, dass rund 730 Millionen Menschen für ein aktives und gesundes Leben zu wenig zu essen haben. Und dies vor allem in Ländern, in denen die Aussicht auf eine erfolgreiche Bekämpfung des Hungers aus politischer und wirtschaftlicher Perspektive meist düster ist.

Vergessen wir aber trotzdem nicht, dass fast überall auf dieser Erde die Menschen genug zu essen bekommen: ein phänomenaler Fortschritt, den Malthus und seine pessimistischen Nachfolger niemals für möglich gehalten hätten.

200 Jahre Fortschrittsgeschichte

1820 lebte eine Milliarde Menschen in grosser Armut. Krieg, Hunger und Tod waren allgegenwärtig. Dann setzte eine beispiellose Entwicklung ein. Heute wird die Erde von acht Milliarden Menschen bevölkert. Die Wirtschaftsleistung ist um das Hundertfache gestiegen, und die Menschen leben im Schnitt so lange wie nie zuvor.
Ich gehe in einer Serie einigen zentralen Aspekten dieser Fortschrittsgeschichte nach – wie immer illustriert durch einschlägige Grafiken.

Bisher erschienen:
Reichtum und Wohlstand dank wirtschaftlichem Wachstum: siehe hier
Extreme Armut ist stark zurückgegangen: siehe hier
Massiver Rückgang der Kindersterblichkeit: siehe hier

2 Kommentare zu “Genug zu essen für alle

  1. Hoi Martin
    Hab es gelesen- und finde es erschreckend, dass angesichts unseres Wohlstandes und des gesamten Fortschrittes, doch 730 Millionen Menschen hungern müssen. Die aufgeführten Länder mit 40-50% Unterernährung, also mit stetem Hunger und mit allen gesundheitlichen Folgen zu leben (oder sterben), die das mit sich bringt, wiegt für mich zentnerschwer. Und kein Ende abzusehen.

    • Und in unseren Breitengraden sterben Menschen teilweise an Überernährung. Verkehrte Welt!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert