Der freie Westen ist ein Erfolgsmodell. Mit Kolonialismus hat das nichts zu tun

Die Verwestlichung der Welt beschleunigt sich. Der Grund ist einfach: Kopiert wird, was funktioniert. Der Westen bleibt trotz seinen vielen Verfehlungen ein Vorbild der Moderne.

Josef Joffe 7 min
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Das ist kein Kolonialismus, sondern Fortschritt: Ein Schüler arbeitet 2010 in der Nähe von Mumbai in einem Stall an einem Computer, der ihm im Rahmen eines indischen Bildungsprogramms zur Verfügung gestellt worden ist.

Das ist kein Kolonialismus, sondern Fortschritt: Ein Schüler arbeitet 2010 in der Nähe von Mumbai in einem Stall an einem Computer, der ihm im Rahmen eines indischen Bildungsprogramms zur Verfügung gestellt worden ist.

Danish Siddiqui / Reuters

Mit zehn Millionen Einträgen bei Google ist «Eurozentrismus» ein Liebling der korrekt denkenden Klasse. Hinter dem Begriff verbirgt sich die These: Der Kolonialismus ist zwar tot, lebt aber fort als Kulturimperialismus. Der Westen drückt dem Süden noch immer seine Werte und Sichtweisen auf, entmündigt und erniedrigt ihn. Flankiert wird die Anklage von den üblichen Verdächtigen wie Kapitalismus und Rassismus. Was die Seminare und Regale füllt, ist Wissenschaft als «blame game»: Schuldzuweisung und Selbstbezichtigung – nostra culpa. Der Westen ist Täter, der Rest bleibt Opfer.

Woher kommt dann aber die weiter wuchernde Verwestlichung der Welt, wenn doch der Kolonialismus längst versunken ist? Die probate Antwort: Die Unterdrückung von gestern zeuge fortlaufend Böses und vergifte die Hirne. Doch fragt der Historiker: Wieso das Alleinstellungsmerkmal? Der Imperialismus ist keine Erfindung des Westens; er geht Jahrtausende zurück – zu den Chinesen, Babyloniern, Persern und Azteken. Sie haben erobert und unterworfen, als der sogenannte weisse Mann noch im Bärenfell herumlief.

Ins Visier gerät auch nicht Russland. Wie aber konnte sich das Grossherzogtum Moskau bis zum Pazifik (zehn Zeitzonen) ausdehnen und unzählige Völker unterjochen? Die Russen, schrieb Dostojewski 1881, seien keine Europäer: «Asien ist unsere Zukunft; wir sind Sklaven in Europa, wir werden die Herren in Asien sein.» Wir gehören nicht dazu, und Putins Aussenminister Lawrow legt nach: «Wir sehen aus wie ihr, sind aber nicht so wie ihr.» Das aber entlastet Russland nicht, den grössten Landräuber.

Der westliche Kolonialismus kann nicht Chinas tausendjährige Herrschaft über Vietnam erklären und die heutige über Tibeter und Uiguren. Schon gar nicht Japans mörderischen Raubzug durch Asien ab 1931, der Tokio 8,5 Millionen Quadratkilometer einbrachte. Heute kann der Eurozentrismus nur mit dialektischen Verrenkungen begründen, warum Kriege und Binnenkonflikte zum Beispiel viele afrikanische Länder quälen. Deren Schurken sind keine Weissen.

Diese aber sitzen allein auf der Anklagebank, nicht die Pharaonen, die schon in «Exodus» Sklaven hielten, arabische Eroberer, die bis Spanien vordrangen, türkische Sultane, die es bis Wien schafften. Versklavung ist keine Sache der Pigmentierung. Lassen wir die Feinheiten. Wenden wir uns dem eigentlichen Rätsel zu: der vorwärtsdrängenden Verwestlichung der Welt – bis hin zum iPhone in der letzten Jurte und Jojoba-Plantage, ganz ohne postkolonialistischen Zwang.

Importieren, was nützt

Keine Soldateska treibt die Schnellesser von Delhi bis Nairobi in einen McDonald’s. Niemand muss die Menschen zwingen, Netflix zu gucken. Rund um die Welt gieren sie nach Mercedes und Audi. Wolkenkratzer wurden zuerst in New York hochgezogen; jetzt zieren sie Dubai, Mekka und Kuala Lumpur. Und Potentaten tragen Uniformen wie aus einer westlichen Kleiderkammer. In New York und Paris beheimatet, prunkt die Fashion Week inzwischen in Schanghai und Seoul.

Hardware wie Telefon, Auto, Flugzeug oder Magnetresonanztomografie wurde im Westen erfunden; heute regiert sie die Welt. Warum? Kopiert wird, was funktioniert, übrigens auch im Westen, wo die einen seit Jahrhunderten von den anderen borgen – oder klauen. Doch geht es nicht nur um Techno- und Mode-Tand, sondern auch um die «Software». Warum streben asiatische Talente in deutsche und amerikanische Musikhochschulen? Warum möchten ehrgeizige Nepalesen oder Äthiopier lieber am MIT oder in Cambridge studieren als in Moskau oder Mumbai?

Der gelehrte Ankläger fährt den Kolonialismus auf, der die ursprünglichen Kulturen als minderwertig abgestempelt hatte. Nun aber brauche der Westen keine Kanonenboote mehr, weil er die Hirne der «Verdammten der Erde» (Frantz Fanon) besetzt habe. Die Machthaber von vorgestern seien zum Modell mutiert, weil sie dem «anderen» seine kulturellen Defizite eingeredet hätten. Erst holt sich der weisse Mann den Kattun, nun die Köpfe.

Glauben diese angeblich Manipulierten tatsächlich an ihre Rückständigkeit und eifern deshalb dem Westen nach? Den fürsorglichen Kritikern des Eurozentrismus würden sie entgegenschleudern: «Ihr haltet uns für so minderbemittelt, wie es eure Vorväter taten, als sie uns mit ihrer ‹mission civilisatrice› zu beglücken gedachten. Wir importieren, was nützt – wie seit Anbeginn der Menschheit.»

Diesen springenden Punkt ignoriert die Ideologie des Eurozentrismus – muss sie, wenn sie die Welt in Herren und Beherrschte einteilt. Richtig ist, dass Europa kraft seines techno-ökonomischen Vorsprungs gerafft und geknechtet hat – wie alle Imperien seit Menschengedenken. Das universelle Sündenregister entschuldet den Westen nicht, wirft aber die historische Preisfrage auf: Wieso konnte der europäische Wurmfortsatz Asiens den Globus aufrollen und dann auch noch die postkoloniale Welt verwestlichen?

Die Geburt des freien Willens

Ausgerechnet Oswald Spengler, der vor hundert Jahren den «Untergang des Abendlandes» prophezeite, hat mit dem Begriff «faustische Zivilisation» den Kern getroffen. Goethes Faust ist rastlos, wissbegierig und obsessiv. Er will den Dingen auf den Grund gehen. Nehmen wir nun im Gegensatz zu Spengler Jerusalem, Athen und Rom in den westlichen Klub auf, die London, Paris, Berlin und New York den Weg bahnten.

Was geschah in diesem weiten Westen? Hier wichen Magie und Kismet (Schicksal) langsam zurück. Zeit war nicht länger zyklisch wie im Buddhismus, sondern linear, folglich knapp – wie in «Zeit ist Geld». Oder «ora et labora» – bete und arbeite, glaube und gestalte! In der jüdisch-christlichen Welt entstand der freie Wille, die Selbstbestimmung. Adam musste den Apfel nicht essen, sondern verstiess eigenmächtig wider das göttliche Verbot. Der faustische Mensch wuchs im Garten Eden heran.

Nach fürchterlichen Irrungen kamen die vier R dazu, die man in den grossen Zivilisationen von den Ägyptern bis zu den Azteken vergeblich sucht: Renaissance, Reformation, Rechtsstaat und (demokratische) Revolution.

Die Renaissance stellte den autonomen Menschen in die Mitte des Universums; die Klauen der Götter lösten sich. Die Reformation verkündete: Jeder ist sein eigener Priester; er kann selber in den Himmel gelangen. Die blutig erkämpfte Trennung von Klerus und Krone ist ein Geschöpf des Westens. Der Rechtsstaat (oder «rule of law») besagt: Kaiser und König stehen nicht über, sondern unter dem Gesetz. Das gilt nicht für die Despoten in Peking und Pjongjang, Moskau und Riad. Schliesslich die Revolution, die uns in Frankreich (jedenfalls vor Robespierre) die allgemeinen Menschenrechte und die demokratische Willensbildung bescherte.

Weiter im Alphabet. Da ist das A der Architektur; «Faustischer» als New Yorks Himmelsstürmer geht nicht. Das B der Bibel, bei der sich der Islam bedient hat. Das D der Dramen von Sophokles bis Shakespeare, die weltweit inszeniert werden. Das E der Entdeckung, derweil das alte China 1525 seine Riesenflotte versenkte, um sich abzuschotten.

Das K der Kernphysik, die China, Indien, Pakistan und Nordkorea die Bombe verschafft hat. Dann die drei M. Die Musik (Fuge bis Sinfonie) füllt die Konzerthäuser der Welt. Die Malerei von Giotto bis Picasso hat einen Louvre-Ableger in Abu Dhabi inspiriert. Der Marxismus wurde zur säkularen Weltreligion. Das O der Oper, die wie «La Traviata» weltweit die Tränen treibt. Das P der Psychologie von Freud bis zum Behaviorismus. Das Q der Quantenphysik. All das kann nicht Oktroi oder Verführung sein. Übernommen wird, was überzeugt.

Hervorzuheben sei das D des Denkens: Aufklärung, Rationalismus Liberalismus, die sich im grossen W der Wissenschaft treffen. Aufklärung heisst «Wage, zu wissen, befreie dich vom Joch der geistigen Tyrannei!» Für den Rationalismus ist die Vernunft der Weg zur Erkenntnis – vergesst Zauberei, Überlieferung und Offenbarung. Im Widerstreit vereinten sich Rationalismus und Empirismus (Fakten, Fakten, Fakten!) in der modernen Wissenschaft einer westlichen Prägung.

Übertreiben wir die Elogen nicht: Null und Dezimalsystem kommen aus Indien und Nahost. Mit MDCLXI hätten Leibniz und Newton nicht die Differenzialrechnung ausgetüftelt. Chinesen haben sehr wohl Papier und Schiesspulver erfunden. Aber nicht Chemie und Physik, die erklären, was die Atome im Innersten zusammenhält. Dafür mussten Marie Curie und Albert Einstein her.

Einzigartig ist die politische Revolution des Liberalismus. Die «unveräusserlichen Rechte» des Einzelnen trieben Päpste und Potentaten zurück und verankerten das freie Denken, den Urquell allen Wissens. So entstand die «faustische» Welt in den Laboren und Universitäten des Westens mit ihrem gewaltigen Nachahmereffekt, der jede Kultur prägt. Dass die Chinesen heute in manchen Tech-Bereichen besser sind, darf sie stolz machen. Nur haben die Totalitären nicht die Gedankenfreiheit mit importiert, die Triebkraft des Fortschritts.

Das Gute und das Schlechte

Ist das eine selbstgefällige Aufzählung? Man kann nicht über das «Best of the West» räsonieren, ohne das «Worst» einzuflechten. Erfunden hat der Westen die Inquisition, die millionenmordende Massenarmee (1793 in Frankreich), den Terror als Propaganda der Tat, den Rassismus eines Gobineau und eines Hitler.

Der Westen ist beides: Traktor und Tank, Gedankenfreiheit und Guillotine, Penicillin und Giftgas, Michelangelo und Mussolini. Allerdings hat der Westen nicht den Kolonialismus erfunden, wie es die geschichtsvergessende Eurozentrismus-These darstellt. Die Sklaverei hat England schon 1807 geächtet; sie existiert noch heute in Afrika.

Die Bilanz? Der Westen hat die moderne Welt geformt und tut es heute mehr denn je, obwohl die Kolonialherrschaft längst abgeschafft ist. Er bleibt das Modell, leider auch für die Stalins, Pol Pots und Saddam Husseins. Sein Magnetismus wird erst schwinden, wenn China und andere Grossmächte mit Filmen wie «Barbie» und «Oppenheimer» weltweit Milliarden einnehmen – und Harvard und Oxford entthronen.

Den Autoritären des 21. Jahrhunderts fehlt, was den Westen trotz allen grässlichen Verfehlungen auszeichnet: die Vielfalt in Freiheit, die alte Muster knackt und neue zeugt – das Faustische eben. Goethes «Faust» dramatisiert aber auch die Warnung: auf der rastlosen Suche nicht beim Teufel zu landen. Die realen Verführer der Jetztzeit tragen Namen wie Xi und Trump. Widersteht der liberale Westen, muss Spenglers «Untergang des Abendlandes» abermals hundert Jahre warten. Mindestens.

Josef Joffe ist Fellow an der Stanford-Universität und lehrt internationale Politik und Geistesgeschichte.