«Es braucht einen ‹Nürnberger Moment› im Umgang mit russischen Staatsvermögen»

Die rechtlichen Hürden für die Verwendung gesperrter Gelder der russischen Zentralbank für die Ukraine sind hoch. Doch der Zürcher Völkerrechtsprofessor Oliver Diggelmann findet in der Geschichte einen möglichen Weg zur Überwindung der Hürden.

Hansueli Schöchli 7 min
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«Die Schweizer Diplomatie ist äusserst angesehen, trotz derzeitiger Bedrängnis»: Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich.

«Die Schweizer Diplomatie ist äusserst angesehen, trotz derzeitiger Bedrängnis»: Oliver Diggelmann, Professor für Völkerrecht an der Universität Zürich.

Frank Brüderli / UZH

Herr Diggelmann, etwa 300 Milliarden Franken der russischen Zentralbank sind im Westen eingefroren, ein Teil auch in der Schweiz. Doch der Westen tut sich wegen der völkerrechtlichen Zugriffshürden schwer, die Mittel für die Ukraine zu verwenden. Wo sehen Sie am ehesten einen realistischen Weg?

Das Auslandvermögen der russischen Zentralbank für den Wiederaufbau der Ukraine zu verwenden, wäre an sich das Naheliegende. Der Aggressor schuldet Reparationen für die angerichteten Schäden, und im Ausland gibt es eingefrorenes Vermögen dieses Aggressors. Das völkerrechtliche Problem ist die Staatenimmunität. Sie verbietet den Zugriff auf fremdes Staatsvermögen. Letztlich, um Chaos zu verhindern.

Doch ist bei krassen Verletzungen des Völkerrechts wie hier durch Russland nicht ein Einzug blockierter Vermögen des verantwortlichen Staats durch Drittstaaten als Gegenmassnahme zulässig?

Darüber wird mit verschiedenen Ansätzen nachgedacht. Etabliert ist auf diesem Weg aber kein Durchbruch durch die Immunität. Es gibt zwei Grundprobleme. Erstens: Gegenmassnahmen sollen die Rückkehr zur Beachtung des Völkerrechts veranlassen, aber nicht Schadenersatz verschaffen. Einfrieren geht, konfiszieren nicht. Eine Minderheit argumentiert nun, dies sei anders, wenn die verletzte Norm ein Kollektivinteresse der Staatengemeinschaft tangiere wie hier. Neben dem Problem fehlender Etabliertheit dieser Sichtweise sehe ich hier auch jenes eines gewissen Ausfransens der Regeln. Das hat eine destabilisierende Wirkung. Immunitätsregeln sollen durch Klarheit stabilisieren.

Und das zweite Problem?

Bloss bilaterales Handeln im eigenen Namen ist etwas anderes als gemeinschaftliches Handeln im Namen der internationalen Gemeinschaft – oder zumindest eines Teils von ihr. Die Schaffung einer «internationalen Autorität» stünde für letzteren Ansatz. Wenn man einen regionalen europäisch-nordamerikanischen Mechanismus schüfe, so hätte Russland allenfalls fast die ganze Region gegen sich, die koordiniert im Namen dieser regionalen Gemeinschaft handeln würde.

Wollen Sie sagen, dass letztlich nichts zu machen ist?

So apodiktisch würde ich es auf keinen Fall formulieren. Der Raum des Denkbaren weitet sich vor allem, wenn wir den Blick auf Wendepunkte in der Völkerrechtsgeschichte richten. Gerade im Bereich der Immunitäten kam es in den letzten achtzig Jahren zu bedeutenden Relativierungen. Vor allem bei den Immunitäten wichtiger Einzelpersonen wie Regierungsmitgliedern. Hinter diesen Relativierungen standen Ideen, die man auch im vorliegenden Zusammenhang heranziehen kann.

Können Sie konkreter werden?

Ich spreche hier zunächst von den Tribunalen von Nürnberg und Tokio gegen die Hauptkriegsverbrecher des Zweiten Weltkriegs. Immunitäten gibt es ja nicht nur für Staaten und ihre Vermögen. Weitestgehend unantastbar sind für die anderen Staaten auch hohe Funktionsträger wie eine Aussenministerin oder ein Regierungschef. Eine Grundidee von Nürnberg war: Bei schwersten Verbrechen soll diese Immunität nicht länger schützen, wenn die Verbrechen gewissermassen von einem «Weltgericht» beurteilt werden. Die Hauptalliierten verstanden sich der Idee nach als Vertreter der zivilisierten Menschheit.

Soll nun eine ähnliche Entwicklung der Völkerrechtspraxis auch die Konfiszierung von Staatsvermögen ermöglichen?

Die historische Weitwinkelperspektive lädt zumindest zu einem Denken in diese Richtung ein. Europa befindet sich in einer historischen Ausnahmesituation. Solche Situationen können bedeutende Entwicklungsschritte auslösen. Man könnte hier auch den Fall Milosevic anführen, als ebenfalls wichtigen Teilschritt, als 1999 das Jugoslawientribunal erstmals einen internationalen Haftbefehl gegen einen amtierenden Regierungschef erliess. Dass der Internationale Strafgerichtshof Präsident Putin heute per Haftbefehl sucht, ist Teil dieser Entwicklung bei den Immunitäten.

Was heisst das nun für die russischen Zentralbankgelder?

Um deutlich zu sein: Wir reden über den Horizont des Denkbaren, nicht über unmittelbar Greifbares. Am Anfang bedeutender Veränderungen steht allerdings sehr oft lautes Denken. Ein signifikanter Teil der Staatengemeinschaft könnte vereinbaren: In einem glasklaren Fall von Aggression darf auf Staatsvermögen im Ausland zugegriffen werden, sofern eine internationale Autorität – ein «War Damages Reparations Mechanism» – dies unter Beachtung strenger und transparenter Grundsätze erlaubt.

Können Sie das noch konkreter erklären?

Man könnte einen Mechanismus für Reparationszahlungen bei aggressionsbedingten Kriegsschäden schaffen. Eine internationale Institution, vielleicht gar eine Organisation mit völkerrechtlicher Rechtspersönlichkeit. Sie würde die Verwendung der eingefrorenen Gelder für den gezielten und überwachten Wiederaufbau zerstörter Infrastruktur in einem angegriffenen Land autorisieren. So könnte neues Gewohnheitsrecht entstehen. Das bestehende Recht im Bereich Staatenimmunität würde nur in der Ausnahmekonstellation durchbrochen.

Ist es aber nicht per Definition ein Widerspruch zum geltenden Völkergewohnheitsrecht, wenn eine neue Praxis dieses durchbrechen will?

Der Kern des Gewohnheitsrechts ist eine breit geteilte Praxis, aktiv oder passiv. Wird diese Praxis von einem grossen Teil der Staatengemeinschaft dezidiert abgelehnt und durch eine andere ersetzt, so kann das Völkerrecht diese neue Praxis nicht einfach ignorieren. Man kann ein solches Verdrängen von altem durch neues Gewohnheitsrecht aber natürlich nicht leichthin annehmen. Das wäre hier aber auch nicht der Fall. Vielmehr wäre es eine Ausnahme für den dramatischen Fall der Aggression. Das Ergebnis wäre von schlagender Logik: Der Aggressor bezahlt den Wiederaufbau. Am Grundsatz der Staatenimmunität im normalen Umgang der Staaten würde sich nichts ändern.

Welche Voraussetzungen müssten erfüllt sein, damit ein solcher Mechanismus Legitimität finden könnte?

Ich sehe drei Schlüsselfaktoren. Erstens wären da die Grösse und das politische Gewicht der Staatengruppe, die diesen unterstützen würde. Minimal müssten dies die westlichen Staaten sein, mehr oder weniger geschlossen. Dazu einige weitere wichtige Staaten auch aus dem nichtwestlichen Kulturkreis. Allenfalls könnte bloss regionales europäisch-nordamerikanisches Gewohnheitsrecht entstehen, da könnte man rascher von einer Praxis sprechen. Zweitens käme es darauf an, dass die Wiederverwendung nicht als Zugriff einzelner Staaten erschiene. Es müsste ein Zugriff über eine internationale Institution oder gar Organisation sein, hinter der ein substanzieller Teil der friedliebenden Menschheit oder fast ganz Europa und Nordamerika stünden. Und drittens müsste es klare Zugriffsprinzipien geben. Es müsste sichergestellt sein, dass nur bei einer eindeutigen Aggression zugegriffen würde. Die Gelder dürften ausschliesslich für nachgewiesene Kriegsschäden verwendet werden.

Wie weit sind wir von all dem entfernt?

Sicher noch weit. 1943 war man allerdings von einem Kriegsverbrechertribunal gegen die deutschen und japanischen Eliten auch noch weit entfernt. Obwohl Einzelne bereits laut nachdachten. Es braucht eine historische Gelegenheit, die Geschichte entwickelt sich nicht linear. Man könnte sagen: Es braucht einen «Nürnberger Moment» im Umgang mit russischen Staatsvermögen.

Der Uno-Sicherheitsrat, der Zugriffe anordnen könnte, ist wegen der Vetomächte Russland und China blockiert. Wäre eine breit unterstützte Resolution der Uno-Generalversammlung für den Zugriff auf die Staatsvermögen eine völkerrechtlich akzeptable Grundlage?

Man könnte in diese Richtung gehen. Die Mitgliedstaaten eines Mechanismus für Reparationszahlungen könnten vorsehen, das Konfiskationsprozedere nur zu starten, wenn zwei Drittel der Uno-Mitglieder eine Aggression feststellen und die Aktivierung des Mechanismus aktiv unterstützen. Dies böte eine gewisse Sicherheit gegen Missbrauch. Aber natürlich bedeuten Quoren immer auch Blockademöglichkeiten.

Folgt Ihr lautes Nachdenken über eine Koalition der Willigen letztlich nicht einfach dem Prinzip «Aus Macht wird Völkerrecht»?

Recht hat immer eine starke Machtkomponente. Zugleich fallen Recht und Macht nicht zusammen. Im innerstaatlichen Recht ist diese Machtdimension gebändigter und weniger spürbar, wenn das Parlament in einem etablierten Prozedere etwas beschliesst. Im Völkerrecht als dezentraler Rechtsordnung ist sie gelegentlich sichtbarer und roher. Wenn faktisch Mächtige eine neue Praxis etablieren und sich eine Vorstellung der Verbindlichkeit dieser Praxis etabliert, entsteht neues Recht. Es gibt bedeutende historische Beispiele. Denken Sie an die Ausweitung der Rechte der Meeresanrainer auf den Kontinentalsockel, die Landmasse unter dem Meeresspiegel.

Welche internationale Rolle sollte die Schweiz in der völkerrechtlichen Debatte um die russischen Staatsvermögen spielen?

Die Schweiz ist eine ökonomische Mittelmacht mit hoher Kompetenz in Finanzfragen. Ihre Diplomatie ist äusserst angesehen, trotz derzeitiger Bedrängnis. Sie gilt als effizient und vergleichsweise uneitel. Viele Staaten von den USA über Kanada und das Vereinigte Königreich bis zur EU prüfen derzeit die Möglichkeit der Konfiskation russischer Staatsvermögen und kommen alle nicht recht voran. Die Schweiz könnte sich diskret als Brokerin einer Koalition für einen solchen Mechanismus ins Spiel bringen. Es wäre ein Dienst am Aggressionsverbot der Uno-Charta, der gar mit den völkerrechtlichen Neutralitätspflichten kompatibel wäre. Voraussetzung wäre, dass der Bundesrat dafür politisches Kapital einzusetzen bereit wäre.

Inwiefern hat die internationale Glaubwürdigkeit der Schweiz durch das Andocken an die EU-Sanktionen gegen Russland und die interne Kontroverse um die Neutralität gelitten?

Wir sollten das Gesamtbild sehen. Natürlich hat die Glaubwürdigkeit der Schweiz mit ihrem Lavieren bei den Sanktionen sowie der Unfähigkeit, sich in der Frage militärischer Unterstützung verständlich zu positionieren, erheblich gelitten. Zugleich gilt die Schweiz, alles in allem, als verlässlicher und ernsthafter Partner. Das Ringen um die Neutralität kann niemanden überraschen, der das Land und seine Geschichte ein wenig kennt. Eine solche Initiative wäre ein konstruktiver Beitrag an den Fortschritt des Völkerrechts und an die Verbesserung der Situation der Ukraine. Die westlichen Staaten mögen verärgert sein über die Schweiz. Sie wissen aber, dass sie ein Partner im Geist ist.

Falls kein breit akzeptierter Weg zum Zugriff auf die Zentralbankvermögen gefunden wird: Wäre es wenigstens zulässig, die blockierten Vermögen solange blockiert zu halten, bis Russland befriedigende Schadenersatzzahlungen geleistet hat?

Ich meine, ja. Wenn die Pflicht zur Respektierung der Unversehrtheit der Ukraine nicht mehr vollständig erfüllbar ist, weil ein Teil zerstört ist, kann mit Gegenmassnahmen die Beachtung der Schadenersatzpflicht veranlasst werden. Verlangt ist Verhältnismässigkeit. Diese liegt angesichts der menschlichen und materiellen Kriegsschäden aber auf jeden Fall vor.

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