Kommentar

Die EU wird nie ein Superstaat sein – aber der Ukrainekrieg macht sie zum Imperium

Durch den Krieg wird die Europäische Union vom selbstdeklarierten Friedensprojekt zum geopolitischen Player. Durch die Aufnahme der Ukraine und anderer osteuropäischer Staaten wird sie sich grundsätzlich verändern.

Andreas Ernst 159 Kommentare 6 min
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Die Europäische Union verspricht die Erweiterung um so entfernte Länder wie die Ukraine und die Moldau. Das wird im bisherigen Selbstverständnis nicht möglich sein.

Die Europäische Union verspricht die Erweiterung um so entfernte Länder wie die Ukraine und die Moldau. Das wird im bisherigen Selbstverständnis nicht möglich sein.

Sean Gallup / Getty

Die EU ist ein Friedensprojekt. Doch was sie verändert und prägt, ist der Krieg. Der Wandel seit der russischen Invasion der Ukraine ist eindrücklich: Über die sogenannte «Friedensfazilität» ist sie in kurzer Zeit zu einem milliardenschweren Waffenlieferanten für die Ukraine geworden. Sie bietet sechs Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern Schutz, und sie hat sich mit einem Kraftakt von russischem Gas weitgehend unabhängig gemacht.

Was die Union aber grundlegend umgestalten wird, ist die angekündigte Erweiterung um sechs, vielleicht neun Staaten im Südosten und im Osten des Kontinents. Ihnen hat erst der russische Angriff die Türe geöffnet. Der Krieg als Vater aller Dinge? Er hat jedenfalls dazu geführt, dass der bürokratische Regelgeber in Brüssel sich immer mehr auch als geopolitischer Akteur versteht.

Putins Aggression im Februar 2022 hat aus weitgehend unbekannten und entfernten Nachbarn, der Ukraine und der Moldau, in nur vier Monaten Beitrittskandidaten gemacht – und selbst dem südkaukasischen Georgien die Einbindung in Aussicht gestellt. Auch dem eingeschlafenen Erweiterungsprozess auf dem westlichen Balkan haucht die EU wieder Leben ein. Die Region gilt – via Serbien – als mögliches Einfallstor für russische Störmanöver. Die Integration soll dieses ein für alle Mal schliessen.

Nicht nur Deutschland, auch Frankreich erlebt seine strategische «Zeitenwende». Paris hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten hartnäckig gegen die Aufnahme neuer Mitglieder gesträubt: Vertiefung, nicht Erweiterung hiess die französische Parole. Jetzt spricht sich Präsident Emmanuel Macron sogar für die doppelte Osterweiterung aus, jene der EU und der Nato.

Die Frage ist nur, wie das geschehen soll. Wie kann die EU all diese Länder «absorbieren», wie es im Brüsseler Jargon heisst? Und was wird das mit der Union machen?

Was gewiss nicht funktioniert, ist die bisherige Methode: ein Jahre und Jahrzehnte dauerndes diplomatisch-bürokratisches Exerzitium, bei dem der Reihe nach Verhandlungskapitel geöffnet und wieder geschlossen werden. Der Kandidat übernimmt so schrittweise den gesamten «acquis communautaire» und muss sich am Ende als Demokratie mit unabhängiger Justiz und funktionierender Marktwirtschaft ausweisen.

Dieser Ansatz hat schon die Länder auf dem westlichen Balkan überfordert. Er wird noch weniger in der Ukraine, der Moldau oder Georgien funktionieren. Es sind Länder, die wegen der russischen Besetzung nicht einmal ihr ganzes Territorium kontrollieren.

Doch auch die EU muss sich verändern, wenn nur schon Kiew beitreten wird. Wegen der wirtschaftlichen Rückständigkeit des Landes und seiner riesigen Landwirtschaft gingen nach jetzigen Regeln sämtliche Milliarden aus Agrarhilfe und Kohäsionsfonds an die Ukraine. Alle heutigen Nettobezüger würden zu Nettozahlern.

Ein «Reich» aus überlappenden Kreisen

Vor der grossen Erweiterung nach Ostmitteleuropa (2004–2007) machte der polnische Politikwissenschafter Jan Zielonka eine Prognose. Die EU werde niemals ein Superstaat sein, wie Skeptiker immer mahnen, sondern zu einem Gebilde heranwachsen, das einem mittelalterlichen Imperium gleiche.

Einem Herrschaftsgebiet also mit mehreren Machtzentren, geteilter Souveränität und fliessenden Grenzen. Ein Kreis aus überlappenden Kreisen, dessen Integration im Zentrum stärker ist und an der Peripherie abnimmt. Die EU werde nie ein Flächenstaat sein, aber auch kein dezentraler Bundesstaat mit Staatsvolk und klaren Grenzen. Nicht als Vorbild, eher als Inspiration verweist Zielonka auf das Heilige Römische Reich (962–1806). Dieses war nie ein einheitlicher Staat, sondern ein Dach- oder eben Reichsverband für unterschiedliche Herrschaftsgebiete und Territorien. Unter anderem deshalb war es so langlebig.

Was Zielonka als aufmerksamer Beobachter schon zu Beginn der 2000er Jahre mit Blick auf die Integration Ostmitteleuropas, Bulgariens und Rumäniens sah, ist jetzt für alle offensichtlich. Die mit der Erweiterung immer stärker zunehmende Diversität der EU lässt sich nur in einer flexiblen Struktur zusammenhalten.

Genau besehen entwickelt sich die EU schon lange in diese Richtung. Die Union ist im Grund ein Netzwerk sich überlappender Staatengemeinschaften: der Euro-Zone, des Schengenraums, der militärischen Zusammenarbeit (Pesco), der neu gegründeten Europäischen Politischen Gemeinschaft. Daran ändert auch nichts, dass die Rollen der Kommission und des Parlaments gestärkt wurden.

Nur so können derart unterschiedliche Länder eingebunden werden wie Montenegro mit 600 000 Einwohnern, die vom Tourismus leben, und die Ukraine mit ihren 40 Millionen Einwohnern und einem riesigen Agrarsektor. Das geht nicht nach Standardkriterien, sondern durch individuell ausgehandelte Abkommen, die den Möglichkeiten der Kandidaten und den Bedürfnissen der EU entsprechen. In jedem Fall sollten Integration und Mitbestimmung schrittweise erfolgen – während gewisse Politikbereiche vergemeinschaftet werden, bleiben andere unter nationaler Kontrolle.

Die daraus resultierende Vielfalt an Mitgliedschaften macht die EU nicht schwächer, sondern stärker. Denn sie wird handlungsfähiger. Statt dass sie sich damit begnügt, in möglichst vielen Fragen Konsens zwischen der wachsenden Zahl ihrer Mitglieder herzustellen (was meist jahrelang dauert und oft gar nicht gelingt), ergreifen einzelne Staaten, Staatengruppen oder auch die Kommission Initiativen, denen sich andere freiwillig anschliessen. So bleibt die Union in drängenden Fragen wie Verteidigung, Migration, Seuchenschutz reaktionsfähig und kann sich weiter entwickeln.

Das erleichtert auch die Beziehung der Union zu ihrer Nachbarschaft. Dazu gehört die Türkei – auch sie ein ewiger EU-Kandidat. Diese Kandidatur ist wahrscheinlich unrealistisch. Aber die EU hat dennoch ein grosses Interesse an einem geregelten und stabilen Verhältnis mit Ankara. Sie muss in der Lage sein, auch schwierige Länder an ihren Aussengrenzen anzubinden und mit ihnen zu kooperieren. Auch das verdeutlicht den Quasi-Empire-Charakter der künftigen Union: Sie bemüht sich um die Stabilisierung ihres strategischen Vorfelds.

Was hier entsteht, ist keineswegs eine Neuauflage des gewaltsamen und ausbeuterischen europäischen Kolonialismus. Denn die Länder werden ja nicht erobert, um dazuzugehören, sondern eingeladen. Sie sind nicht tributpflichtig, sondern erhalten Geld. Ihre Integration erfolgt nicht durch Gewalt, sondern durch die Übernahme von Gesetzen. Und schliesslich ist ihr peripherer Status auch nicht festgeschrieben: Wenn sie wollen und können, vertiefen sie ihre Integration, etwa durch den Beitritt zu Schengen oder zum Euro-Raum, und nähern sich dem «inneren Zirkel».

Führungsmächte und die deutsche Frage

Doch der Weg dahin ist weit – und der Erfolg ungewiss. Vieles hängt von den folgenden zwei Fragen ab:

Hält der Konsens der Mitgliedstaaten darüber, dass die Erweiterung richtig und notwendig ist? Die polnische Abwehrschlacht gegen den Import ukrainischen Getreides zeigt, dass auch felsenfeste Alliierte ins Wanken kommen, wenn ihnen die Rechnung für ihre Solidarität präsentiert wird. Es ist der Druck von aussen, der den jüngsten Gestaltwandel der Union ausgelöst hat: russischer Revanchismus, Rivalität mit China, unberechenbare USA. Doch genau so, wie äusserer Druck eine Gemeinschaft festigen kann, kann er sie auch auseinandertreiben. Es fehlt nicht an Bruchstellen und zentrifugalen Kräften in der EU.

Die andere offene Frage ist, ob die Führungsmächte Deutschland, Frankreich und Polen den Willen haben und in der Lage sind, diesen Erweiterungsprozess durchzuhalten. Denn die Kommission und die Mitgliedstaaten sind auf diesen Motor angewiesen. Doch die drei Länder, die den harten Kern ausmachen sollten, machen derzeit weder einzeln noch als Trio einen guten Eindruck. Sie werden von gesellschaftlichen Krisen geschüttelt, ihre Politik ist polarisiert, und die trilateralen Beziehungen sind bestenfalls lau.

Besonders Deutschland befindet sich darüber hinaus in einem Dilemma. Es wird in ganz Europa als sicherheitspolitisch träge und militärisch schwach kritisiert. Was aber, wenn Deutschland aufrüstet und Führung beansprucht? Reichen dann Polen und Frankreich als Gegengewichte, um die kleineren Mitgliedstaaten zu beruhigen? Oder setzen dann überall nationale Reflexe ein? Wie muss das EU-Korsett beschaffen sein, um ein starkes Deutschland einzuhegen?

Ob die Erweiterung der EU gelingt, werden wir erst in zehn oder zwanzig Jahren wissen. Dass sie nur im Rahmen eines neuen institutionellen Arrangements möglich ist, ist aber jetzt schon klar. Diese Union wird eine souveräne Rolle in der neuen multipolaren Welt nur dann spielen, wenn sie Machtbewusstsein, Solidarität und Flexibilität miteinander verbindet. Sie wäre dann tatsächlich ein liberales Imperium.

159 Kommentare
Beat Leutwyler

Es geht nicht um Krieg oder Frieden bei der EU, sondern um Geld - sehr viel Geld. Nur darum wurde sie geschaffen. Aber nicht etwa, um gegenüber Anderen besser dazustehen, sondern um die eigenen Bürger auszunehmen. Bekanntlich fährt die EU harmonisiertes Recht, also Vereinheitlichung. Das führt automatisch zu Kartellen. Der rechtlich eingeführte Standard wird nicht weiterentwickelt, weil ja keiner einen Grund dazu hat. Damit bleiben Firmen auf dem Standard stehen und Kunden bezahlen einen höheren Preis, für die gleiche und mit der Zeit immer weniger Leistung. Ein klassisches Kartell, wie eine Preisabsprache, nur dass eben die Qualität abnimmt. Darum sind praktisch sämtliche Standards der Schweiz höher als jene der EU. Ich werde nie jemand verstehen der einen EU-Beitritt im Programm hat.

Walter J. Scherr

Dieses bürokratische Monster zum Verschieben riesiger Geldmengen (wenn sie vorher nicht schon verbrannt wurden) nach Gutdünken, sollte sich auf die Ursprünge beziehen und wieder zur EWG (Europäische Wirtschafts-(und Währungs-)Gemeinschaft werden, sich nicht in die lokale Tagespolitik der einzelnen Staaten ständig einmischen und mit Gewalt versuchen die links-grüne Agenda durchzudrücken. Dann wären Erweiterungen kein Problem und auch das UK könnte wieder zurückfinden.