Von Allesfressern und nachrichtendienstlichem Petting – wie russische Agenten in Deutschland spionieren

In der Bundesrepublik tobt ein «Kalter Krieg» der Geheimdienste. Hunderte russische Spione tarnen sich als Diplomaten. Nun müssen viele von ihnen bis Jahresende das Land verlassen. Das kann nicht verdecken, dass Deutschland diesem Konflikt nicht gewachsen ist.

Marco Seliger (Text), Sophia Kissling (Grafik), Berlin 9 min
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Die russische Flagge auf dem Dach des Botschaftsgebäudes in Berlin. Von hier aus spionieren bis heute Hunderte «Diplomaten» für russische Geheimdienste.

Die russische Flagge auf dem Dach des Botschaftsgebäudes in Berlin. Von hier aus spionieren bis heute Hunderte «Diplomaten» für russische Geheimdienste.

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Es war der vorläufige Höhepunkt einer jahrelangen Eskalation. Im März forderte die deutsche Regierung mehrere Dutzend russische Diplomaten auf, die Bundesrepublik umgehend zu verlassen. Die Begründung: Sie seien verdeckte russische Spione.

Das Regime in Moskau sprach von «feindseligem Vorgehen» und reagierte drastisch: Berlin habe die Zahl der Beschäftigten deutscher Organisationen in Russland ab Juni auf 350 zu beschränken. Darauf folgte wiederum eine harsche Reaktion der deutschen Regierung. Sie forderte Russland auf, die Zahl seiner Diplomaten in Deutschland bis zum Jahresende ebenfalls auf 350 zu reduzieren.

Der Vorgang wirft ein Schlaglicht auf eine verborgene Welt. Es ist die Welt der Spionage, in der Deutschland wieder Frontgebiet ist. «Wir befinden uns auf einem Niveau wie zu Zeiten des Kalten Krieges», sagte Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesverfassungsschutzes und damit oberster Spionagebekämpfer Deutschlands, Mitte vorigen Jahres. Am kommenden Dienstag wird Haldenwang den Verfassungsschutzbericht 2022 vorstellen. Es steht zu erwarten, dass er den Vorjahresbefund wiederholen wird.

Russland manipuliert, desinformiert, infiltriert, hackt, spioniert und sabotiert in Deutschland so stark wie seit über 30 Jahren nicht mehr. Der Grund dafür ist der Krieg in der Ukraine. Die Bundesrepublik ist logistisches Hinterland für die ukrainische Verteidigung gegen Putins Armee. In Deutschland werden ukrainische Truppen ausgebildet, Waffen bereitgestellt und etwa Artilleriegranaten für Kiew produziert. Deutschland ist nach den USA der zweitgrösste Unterstützer der Ukraine.

Doch der neue «Kalte Krieg» tobt nicht erst seit Russlands Überfall auf die Ukraine im Februar 2022. Es gibt ihn bereits seit Wladimir Putins «Wutrede» auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Jahr 2007. Damals war der russische Präsident auf Konfrontationskurs zum Westen gegangen. Die deutsche Politik wollte das allerdings nicht wahrhaben.

Ausgezehrte und zusammengesparte Nachrichtendienste

Deutschland ging drei Jahrzehnte lang so mit den deutschen Geheimdiensten um, wie es das mit der Bundeswehr getan hatte: Sie wurden zusammengespart und ausgezehrt. Die Folge ist, dass sowohl der Bundesverfassungsschutz im Inland als auch der Bundesnachrichtendienst (BND) im Ausland heute kaum für den russischen Spionageangriff gerüstet sind.

Die wichtigsten Standorte der russischen Geheimdienste in Deutschland sind die Botschaft in Berlin sowie die Konsulate in München, Frankfurt, Hamburg, Bonn und Leipzig. Bis auf eines müssen alle Konsulate bis Jahresende geschlossen werden. Das verfügte die deutsche Regierung Ende Mai. Andere Länder haben in ihren Vertretungen ganz überwiegend Diplomaten sitzen. Russland aber hat dort in guter alter Sowjettradition zu einem grossen Teil getarnte Spione postiert.

Um wie viele es sich genau handelt, ist nicht klar. Die Zahl der Mitarbeiter in den russischen Vertretungen in Deutschland ist von aussen kaum zu ermitteln. Es gibt zwar die «Liste der diplomatischen Vertretungen und anderer Vertretungen in der Bundesrepublik Deutschland» vom Auswärtigen Amt. Aber dort ist nur die russische Botschaft in Berlin, sind aber nicht die fünf Konsulate aufgeführt. Laut der Liste sollen in der Botschaft lediglich etwa 80 «Diplomaten» arbeiten. Sie sind darin namentlich aufgeführt.

Die drei Kategorien des russischen Geheimdienstpersonals in Deutschland

Die deutschen Dienste unterteilen Russlands Agenten in drei Kategorien. Kategorie eins umfasst die offiziell nach Berlin geschickten Nachrichtendienstmitarbeiter. Zu Kategorie zwei gehören Botschafts- und Konsulatsmitarbeiter, die einem russischen Nachrichten- oder einem Geheimdienst angehören.

Diese Unterscheidung ist wichtig. Nachrichtendienste beschaffen Informationen und werten sie aus. Das macht zum Beispiel der Bundesnachrichtendienst im Ausland. Geheimdienste indes arbeiten wie eine Geheimpolizei. Sie machen politische Gegner im Ausland ausfindig, bedrohen oder ermorden sie. Deutschland hat solche Dienste nicht.

Dann gibt es noch die dritte Kategorie. Hierbei handelt es sich um Undercover-Agenten. Das sind Russen, die mit einer aufwendig konstruierten Scheinidentität in den Ländern, die sie ausspionieren sollen, ein normales Leben führen.

Ausweisung der «Diplomaten» war längst überfällig

Bei Kategorie eins sind die Personen den deutschen Diensten namentlich bekannt. Auch der BND entsendet Mitarbeiter dieser Kategorie an deutsche Auslandsvertretungen. Sie halten ganz offiziell den Kontakt zu den Diensten des Gastlandes. «In manchen Staaten interessiert sich für unsere Leute niemand, in anderen werden sie rund um die Uhr beschattet.»

So sagt es einer von drei Fachleuten für Nachrichtendienste, mit denen die NZZ gesprochen hat. Einer von ihnen war in hoher Position für einen deutschen Dienst tätig, ein anderer geht einer Lehrtätigkeit für angehende Nachrichtendienstmitarbeiter nach, ein dritter möchte nicht näher beschrieben werden. Alle drei eint, dass sie die Ausweisung der russischen «Diplomaten» als eine überfällige Schutzmassnahme Deutschlands begrüssen.

Denn Agenten der Kategorie zwei agieren in einer Zwischenwelt. Sie gehen nicht offen vor, aber auch nicht völlig geheim, etwa auf Kongressen, Veranstaltungen und Volksfesten in Deutschland. Als «Diplomaten» erhielten sie immer wieder Einladungen aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kommunen. Das nutzten sie, um Zielpersonen zu suchen, die sie ansprechen und von denen sie später Informationen bekommen konnten. «Für dieses Vorgehen gibt es bei uns einen Namen», sagt einer der NZZ-Gesprächspartner. «Wir nennen das nachrichtendienstliches Petting.»

Wie das funktioniert, zeigt das Beispiel von Ilnur N., einem russischstämmigen Doktoranden der Universität Augsburg. Im Sommer 2019 hatte ihn bei einem Fischstand am bayrischen Kochelsee ein unbekannter Mann auf Russisch angesprochen. Ilnur N., der an Material und Stoffen für die Luft- und Raumfahrt forschte, war gerade mit Freunden von einem Raftingausflug gekommen.

Der Spion rekrutiert den Informanten am Fischstand

Bei dem Unbekannten handelte es sich um Leonid Strukow, damals russischer Vizekonsul in München und nach Ansicht der deutschen Justiz Mitarbeiter des Auslandsdienstes SWR. Als Strukow fragte, ob sie sich auf ein Bier in Augsburg treffen wollten, willigte Ilnur N. ein. Es dauerte nicht lange, da lieferte der Doktorand erste Dossiers aus dem Bereich der Luftfahrt, die er aus öffentlichen Quellen zusammenstellte. Strukow bezahlte ihn dafür mit jeweils ein paar hundert Euro.

Dann zeigte der Vizekonsul grosses Interesse an den Forschungen seines Informanten. Ilnur N. arbeitete an Materialien für die europäische Trägerrakete Ariane 6. Als sich die beiden dazu wieder in Augsburg treffen wollten, griff die Polizei zu. Der Bundesverfassungsschutz hatte Wind von der Sache bekommen und Strukow beschattet. Der Russe zeigte seinen Diplomatenpass, berief sich auf seine Immunität und zog ab. Ilnur N. kam mit einer Bewährungsstrafe davon.

Mit diesem «nachrichtendienstlichen Petting» ist es nun allerdings vorbei. Seit dem Überfall auf die Ukraine finden die Russen in Deutschland kaum noch Partner. Einladungen erhalten sie zunehmend nur noch von obskuren Organisationen wie dem «Verband zur Pflege der Traditionen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR» oder von russlandnahen Parteien wie der AfD und der Linken.

Auch Informationen über Waffen, die Deutschland an die Ukraine liefert, interessieren die russischen Nachrichtendienste in der Bundesrepublik. Dazu gehört auch der Kampfpanzer Leopard 2.

Auch Informationen über Waffen, die Deutschland an die Ukraine liefert, interessieren die russischen Nachrichtendienste in der Bundesrepublik. Dazu gehört auch der Kampfpanzer Leopard 2.

Mindaugas Kulbis / AP

Das ist für die Russen ein Einschnitt, denn sie haben immer noch einen enormen Appetit auf Informationen. «Sie sind Allesfresser», sagt einer der NZZ-Gesprächspartner. Ganz besonders interessiert sie gerade alles, was mit der Ausrüstung und Ausbildung ukrainischer Soldaten zu tun hat. Dazu zählen zum Beispiel die Leistungsparameter, Stärken und Schwächen westlicher Waffen, etwa des Kampfpanzers Leopard 2.

Moskaus Geheimdiensten bleiben nur noch drei Wege

Dieses russische Interesse führte nach NZZ-Informationen etwa dazu, dass die deutschen Panzerbauer Krauss-Maffei Wegmann und Rheinmetall Anfang Mai wenige Stunden vor Beginn einer Gerichtsverhandlung ihren Streit um die Patentrechte am Leopard 2 abräumten. Nachdem Rheinmetall-Chef Armin Papperger in einem NZZ-Interview im März gesagt hatte, sein Unternehmen habe die Rechte an dem Panzer, hatte ihn Krauss-Maffei Wegmann auf Unterlassung verklagt.

Zum Prozess vor dem Landgericht in München hatte sich auch der russische Staatssender RT angesagt. Den Kreml-Propagandisten wären dort – neben anderen Medien auch – möglicherweise Interna über die Produktion des Leopard 2 bekanntgeworden. Das Gericht hätte auch technische Details der Herstellung des Panzers erörtern können, erfuhr die NZZ. Insbesondere vor diesem Hintergrund soll Papperger seine Aussage zu den Patenten zurückgezogen haben. Die Verhandlung wurde daraufhin abgesagt.

Doch für Moskau gibt es andere geheimdienstliche Wege, um die westliche Unterstützung der Ukraine zu sabotieren. Der erste Weg führt über Menschen wie Carsten L. Der BND-Mitarbeiter soll den Russen im vorigen Jahr über den deutsch-russischen Mittelsmann Arthur E. wiederholt interne Unterlagen des deutschen Auslandsdienstes beschafft haben.

Der Fall war im Dezember 2022 bekanntgeworden. Der mutmassliche Landesverrat eines eigenen Mitarbeiters ist für den BND eine Katastrophe und wurde intern auch als Beleg einer unzureichenden Gegenspionage gewertet. Beide Verdächtigen befinden sich in Untersuchungshaft.

Der zweite Weg führt über das Internet. Dort verbreiten russische Dienste falsche Informationen und Propaganda. Auf diese Weise schüren sie Proteste in Deutschland gegen die Unterstützung der Ukraine mit Geld und Waffen. Dort infiltrieren sie Computernetze westlicher Institutionen, etwa des Bundestags in Berlin im Jahr 2015. Und dort hacken sie sich in hochsensible Systeme, etwa in die satellitengestützte Steuerung von Windkraftanlagen in Deutschland im Februar 2022.

Der dritte Weg führt über das Kategorie-3-Personal , die Undercover-Agenten, auch «Illegale» genannt. Diese Leute auszubilden und ihre Legenden aufzubauen, kostet viel Zeit und Geld. Doch wenn den «lieben Freunden aus Russland», wie es einer der NZZ-Gesprächspartner formuliert, die Spionage aus den Botschaften und Konsulaten heraus nicht mehr in der bisherigen Breite möglich sei, dann bleibe ihnen neben Cyberangriffen nur noch der Einsatz von Undercover-Agenten.

Ein Beispiel für den Einsatz dieser Agenten ist das vermeintliche Ehepaar Anschlag. Über Jahrzehnte lebten die beiden unerkannt in Deutschland und lieferten Hunderte als geheim eingestufte Dokumente aus dem Innenleben von EU und Nato. Vor zehn Jahren wurden sie verhaftet und zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.

Liebevolle Hinwendung zu deutschen Wissensträgern

Es sei also Vorsicht geboten, sagt einer der drei ehemaligen Nachrichtendienstmitarbeiter und umschreibt das typische Verhalten möglicher Agenten: «Man sollte ein wenig auf kontaktfreudige Menschen auch im Ausland achten, die sich auf einmal liebevoll auf deutsche mögliche Wissensträger oder Menschen mit attraktivem Hintergrund stürzen.»

Doch Achtsamkeit und Misstrauen gegenüber allzu wissbegierigen Personen sind nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine geboten. Spionage ist nichts anderes als Diebstahl. Wenn Informationen von Bedeutung nicht legal zu bekommen sind, werden sie gestohlen. So ist das seit Jahrhunderten und geschieht selbst unter «befreundeten» Staaten.

Die USA hörten das Mobiltelefon von Angela Merkel ab, weil sie Deutschland zunehmend als unsicheren Kantonisten empfanden. Sie wollten wissen, ob ihnen Merkel in den offiziellen Gesprächen etwas verheimlichte. «In Anbetracht unserer Russland-Politik waren die sich damals wahrscheinlich nicht mehr sicher, auf welcher Seite Deutschland steht», sagt einer der Nachrichtendienstfachleute.

Während der Fall in der deutschen Politik und Öffentlichkeit für grosse Empörung sorgte, gehört diese Praxis für die NZZ-Gesprächspartner zum «geheimdienstlichen Geschäft». Nicht nur Deutschland war damals betroffen. Die Amerikaner hörten auch Politiker in Frankreich, Japan, Südkorea und der Türkei ab. Es sei normal, dass sich eine Regierung «bereits ohne offene Gegnerschaft über die politischen Absichten auch von Partnern rückversichern» wolle «oder sich auf Kosten anderer Vorteile in wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Bereichen» verschaffe. Dem stünde eine gleichzeitige Kooperation zu beiderseitigem Nutzen in anderen Bereichen nicht entgegen.

Das vermeintliche Ehepaar Heidrun (hinten) und Andreas Anschlag während des Prozesses am Oberlandesgericht Stuttgart im Juli 2013. Sie wurden dort zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Spionage für den russischen Geheimdienst SWR verurteilt.

Das vermeintliche Ehepaar Heidrun (hinten) und Andreas Anschlag während des Prozesses am Oberlandesgericht Stuttgart im Juli 2013. Sie wurden dort zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Spionage für den russischen Geheimdienst SWR verurteilt.

Marijan Murat / EPA

Besonders breit angelegten «Diebstahl» betreibt nach Aussage der drei Fachleute China. Hierbei gehe es vor allem um Wirtschaftsspionage. Das Regime verfüge in Deutschland über Tausende informelle Geheimdienstmitarbeiter, jeder hier lebende Chinese sei ein potenzieller Informant. Sie gehörten zur «Einheitsfront im Ausland», wie das in China laut dem deutschen Verfassungsschutz genannt wird.

Wie die chinesische «Einheitsfront im Ausland» funktioniert

Die meisten berichteten bereitwillig an Partei und Behörden der Volksrepublik, was sie wüssten, weil sie sonst Repressalien zu fürchten hätten. Dazu gehört etwa, dass Angehörige in der Heimat unter Druck gesetzt werden. Von Interesse für die Behörden in Peking sei neben der deutschen Aussen- und Sicherheitspolitik vor allem, wie sich die grösste Volkswirtschaft Europas ausrichten wolle. Es gehe darum, strategisch und technologisch immer einen Schritt voraus zu sein. «Russland ist der Sturm, China der Klimawandel.» So fasste Verfassungsschutzpräsident Haldenwang die Systemkonfrontation mit der kommunistischen Diktatur in Peking im Herbst 2022 vor dem Bundestag zusammen.

Auf die Spionage und Sabotage ausländischer Geheimdienste auf deutschem Boden findet Berlin bis heute keine angemessene Reaktion. Der Verfassungsschutz hat erst vor einigen Jahren begonnen, seine extrem ausgedünnte Spionageabwehr personell wieder aufzustocken. Nun muss er Prioritäten setzen, weil das Personal fehlt, um allen Bedrohungen gerecht zu werden. Und da ist eines klar: Die Priorität liegt auf Russland.

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