Neidisch sind immer nur die anderen: In Frankreich und Deutschland ist Neid viel verbreiteter als in Polen oder Japan

Etwas haben wollen, was andere haben, ist eine der stärksten Triebfedern für menschliches Handeln. Auch wenn es niemand zugibt: Neid gibt es überall. Aber nicht überall ist er gleich stark.

Rainer Zitelmann 5 min
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Wer neidisch ist, gibt zu, dass der andere etwas hat, was man selbst gerne hätte. Aufnahme aus dem Jahr 1959.

Wer neidisch ist, gibt zu, dass der andere etwas hat, was man selbst gerne hätte. Aufnahme aus dem Jahr 1959.

Harold M. Lambert / Archive Photos / Getty

Machen Sie mal ein kleines Experiment und sprechen mit anderen Menschen über Neid. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Sie mit einer von zwei Reaktionen konfrontiert werden: Im ersten Fall wird Neid geleugnet, im zweiten Fall wird er umgedeutet. «Ich kenne keinen Neid», werden Sie oft hören. Neidisch sind immer die anderen. Oder es wird betont, Neid müsse keineswegs etwas Negatives sein, weil Neid als Ansporn diene, seine eigene Situation zu verbessern und sich anzustrengen.

Woher kommt das Bedürfnis, die destruktive Emotion des Neides zu leugnen und den Neid zu etwas Positivem umzudeuten? Wer neidisch ist, gibt zu, dass der andere etwas hat, was man selbst gerne hätte. Das führt zu der Frage, warum der andere das hat, was ich selbst gerne hätte – und warum ich selbst es nicht habe. Die Antwort könnte unbequem sein: Ist der andere vielleicht intelligenter, fleissiger, kreativer? Sich das einzugestehen, fällt schwer. Deshalb hat die Erklärung, der andere sei zum Beispiel reicher, weil er geerbt habe, oder sein Reichtum sei einfach das Ergebnis von Zufall oder Glück oder gar von moralisch fragwürdigem Verhalten, eine entlastende Funktion.

Neid muss sich nicht unbedingt auf Materielles beziehen. Vielleicht hat der oder die andere eine attraktivere Figur oder ein schöneres Gesicht. Aber ist es da mit rechten Dingen zugegangen? Hat der gut trainierte Mann vielleicht Anabolika genommen, so dass die Muskeln Ergebnis von Doping und nicht von hartem Training sind? Ist das attraktive Gesicht der Frau vielleicht das Ergebnis plastischer Chirurgie?

Warum sind Reiche reich?

Eine weitere Strategie besteht darin, die Vorzüge des oder der anderen zu relativieren, indem man ihm und ihr noch grössere Defizite in anderen Bereichen andichtet: Der oder die andere sehe vielleicht gut aus, sei aber wohl nicht besonders intelligent. Und der Reiche sei nur reich, weil er egoistisch und gierig sei. Es geht immer um die Bewahrung des eigenen Selbstwertgefühls, das der Neider durch den Erfolg des Beneideten bedroht sieht.

Eine ebenso erprobte Strategie ist die Umdeutung des Neids zu etwas Positivem: Neid sei nicht unbedingt etwas Schlechtes, sondern eine dynamische, positive Kraft, die die Menschen ansporne, sich zu verbessern. Zwar wird im Alltagssprachgebrauch der Begriff Neid tatsächlich manchmal im Sinne von Bewunderung gebraucht («Ich beneide dich um dein neues Haus»), aber Bewunderung und Neid sind zwei gänzlich verschiedene Emotionen. Wer andere bewundert, wird dazu neigen, den Abstand zwischen sich und dem Bewunderten durch eigene Anstrengung zu verkleinern. Der Bewunderte dient vielleicht sogar als Vorbild oder Inspiration.

Der Neider dagegen möchte den Abstand zwischen sich und dem Beneideten verringern, indem er den Beneideten herunterzieht. Nicht die Verbesserung der eigenen Situation ist das primäre Anliegen des Neiders, sondern die Verschlechterung der Situation des Beneideten. Zudem sind Schadenfreude und Neid, wie wir aus der psychologischen Forschung wissen, eng miteinander verknüpft – das Missgeschick des Erfolgreicheren ist die Freude des Neiders.

Wo die Schadenfreude blüht

Neid gibt es in allen Gesellschaften, aber er ist unterschiedlich stark ausgeprägt. Durch das Meinungsforschungsinstitut Ipsos MORI habe ich eine Befragung über den Sozialneid in 13 Ländern durchführen lassen. Da Menschen Neid in der Regel leugnen, kann man nur herausfinden, wie neidisch Menschen sind, indem man ihnen Fragen vorlegt, die Indikator für Neid sein können, ohne diesen Begriff direkt zu verwenden.

Zum Beispiel fragten wir die Menschen, ob sie dafür wären, die Steuern für Reiche sehr stark zu erhöhen, auch wenn sie selbst keinen Vorteil davon hätten. In Polen bejahen das 44 Prozent, in Deutschland 65 Prozent. Eine andere Frage diente dazu, «Schadenfreude» zu ermitteln, wenn ein Reicher durch ein riskantes Geschäft viel Geld verliert. «Das geschieht dem recht», sagen 15 Prozent der Polen, aber 40 Prozent der Deutschen. Und nur 23 Prozent der Polen optieren dafür, Spitzengehälter von Top-Managern drastisch zu reduzieren und den Überschuss gleichmässig an die Angestellten zu verteilen, auch wenn jeder dadurch nur ein paar Zloty mehr bekäme. In Deutschland fanden sich für diesen Vorschlag doppelt so viele Befürworter (46 Prozent).

Aus den Antworten auf diese Fragen haben wir einen Sozialneidkoeffizienten berechnet, der das Verhältnis von Neidern und Nicht-Neidern angibt. In Polen beispielsweise stehen 13 Prozent Sozialneider 61 Prozent Nicht-Neidern gegenüber, was einen Koeffizienten von 0,21 ergibt. In Deutschland stehen 33 Prozent Neider 34 Prozent Nicht-Neidern gegenüber, der Sozialneidkoeffizient beträgt damit 0,97. Je höher der Sozialneidkoeffizient ist, desto neidischer sind die Menschen in einem Land. Am stärksten ist der Sozialneid in Frankreich ausgeprägt (Sozialneidkoeffizient 1,26), dann folgt Deutschland, und am geringsten ausgeprägt ist er in Südkorea, Japan und Polen.

Kapitalismus? Aber ja!

Interessanterweise ist in Ländern, in denen die Menschen besonders neidisch sind, auch der Antikapitalismus besonders verbreitet. In einer weiteren Befragung, die in 34 Ländern stattfand, wurden den Menschen von Ipsos MORI Fragen zu Marktwirtschaft und Kapitalismus vorgelegt. Länder mit geringem Sozialneid und einer positiven Einstellung zu Reichtum und Reichen – wie etwa Polen, Japan, Südkorea oder die USA – waren zugleich auch die Länder mit einer positiven Einstellung zum Kapitalismus. In Ländern, in denen die Menschen besonders neidisch sind und Reiche sehr negativ gesehen werden, allen voran Frankreich, ist auch der Antikapitalismus besonders stark ausgeprägt. Es gab nur wenige Ausnahmen von dieser Regel.

In Vietnam, das sich offiziell sozialistisch nennt, ist die Einstellung zu Reichen besonders positiv und der Neid nur gering ausgeprägt. Im September vergangenen Jahres lud mich die renommierte Foreign Trade University in Hanoi zu einem Workshop ein. Das Motto lautete: «Reiche Menschen, reiches Land». Diskutiert wurde, was man tun könne, um das Image der Reichen zu verbessern – obwohl es in Vietnam bereits heute so positiv ist wie in keinem anderen Land, in dem wir die Befragung durchführten. An der sozialwissenschaftlichen Fakultät einer Universität in Europa oder den USA wäre diese Fragestellung nur schwer vorstellbar.

Interessant ist, dass das Wort «Kapitalismus» in Vietnam – anders als in den meisten Ländern – einen guten Klang hat. In Vietnam verbinden die Menschen mit dem Begriff Kapitalismus überwiegend positive Dinge wie «Fortschritt» (81 Prozent), «Innovation» (80 Prozent), «grosses Warenangebot» (77 Prozent), «Wohlstand» (74 Prozent) und «Freiheit» (71 Prozent).

Manches deutet also darauf hin, dass Antikapitalismus und Neid zusammenhängen. Antikapitalisten erklären finanziellen Erfolg meist mit negativen Dingen (Ausbeutung, Korruption, Übervorteilung Schwächerer) oder mit Zufall (Erbschaft, Glück), während Arme ausschliesslich als Opfer gesehen werden, die keinerlei Verantwortung für ihre eigene Situation tragen.

Rainer Zitelmann ist Historiker und Soziologe.

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