Kommentar

Mehr Freiheit, weniger Neutralität: Es gibt einen Weg aus der Sackgasse der Ukraine-Politik

Die Welt braucht keine neutrale Schweiz mehr. Unser Land wird sich dieser Tatsache so lange als möglich verschliessen. Dabei könnte die Schweiz mit einer Justierung ihrer Aussenpolitik Freiräume gewinnen und ihre Interessen viel wirksamer verfolgen.

Andreas Rüesch 518 Kommentare 6 min
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Schweizer Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard könnte laut dem Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg «jeden Tag Leben in der Ukraine retten». Die Schweiz setzt andere Prioritäten.

Schweizer Munition für den Flugabwehrpanzer Gepard könnte laut dem Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg «jeden Tag Leben in der Ukraine retten». Die Schweiz setzt andere Prioritäten.

Serhiy Morgunov / The Washington Post / Getty

Russlands Krieg gegen die Ukraine zerzaust nicht nur alte Illusionen über den Friedenskontinent Europa, sondern rüttelt auch an Maximen der schweizerischen Aussenpolitik. In der neu lancierten Debatte über die Neutralität fallen jedoch zwei Paradoxe auf. Zum einen leidet diese Debatte an einem verengten Blickwinkel – sieht man von der unbedeutenden Minderheit der Befürworter eines Nato-Beitritts ab, wird die Neutralität als Grunddogma in der Schweiz kaum infrage gestellt.

Es dominieren zwei Lager, vereinfacht gesagt: die Fundamentalisten und die Schlaumeier. Erstere fordern die Rückkehr zu einer strikteren Neutralitätspolitik und wollen selbst Wirtschaftssanktionen gegen einen Aggressor wie Russland verbieten. Die Schlaumeier, unter ihnen namhafte Juristen und Politiker, streben dagegen eine Lockerung an. Die Schweiz soll die Ukraine unterstützen können, ohne sich von ihrer dauernden Neutralität lossagen zu müssen.

Dabei kommen allerlei Tricks ins Spiel: Die einen erklären kurzerhand das in den Haager Abkommen verankerte Gleichbehandlungsgebot für obsolet, die anderen wollen die Uno-Generalversammlung zur Richtschnur schweizerischen Handelns machen, obwohl dieses Gremium gar keine rechtsetzenden Vollmachten besitzt.

Das Ausland hat eine andere Sicht

Gut möglich, dass solche Verbiegungen zuletzt ans Ziel führen, denn Pragmatismus zählt seit je zu den Erfolgsprinzipien der Schweiz. Aber versäumt wird so eine ehrliche Auseinandersetzung damit, welchen Nutzen die Neutralität in der heutigen Welt überhaupt noch hat. Das führt zum zweiten Paradox: Die Schweiz tut so, als sei ihre Neutralität primär eine interne Angelegenheit. In Wirklichkeit handelt es sich um ein zweiseitiges Arrangement: Neutralität ist nur so lange etwas wert, als sie vom Ausland anerkannt und geschätzt wird. Das trifft je länger, je weniger zu.

Die Welt hat sich grundlegend verändert seit 1689, als die Eidgenossenschaft erstmals eine völkerrechtliche Garantie ihrer Neutralität bekam. Damals besassen Frankreich und das habsburgische Kaiserhaus ein eminentes Interesse an einer Alpenrepublik, die sich im Kriegsfall weder auf die eine noch auf die andere Seite schlug und ausländischen Truppen den Durchmarsch verbot. Erst recht galt dies nach den napoleonischen Kriegen, in denen die Eidgenossen zum Werkzeug französischer Grossmachtpolitik abgesunken waren. Die Schweiz erhielt eine neue Rolle als Pufferstaat, und in der Pariser Akte von 1815 erklärten die Grossmächte feierlich, dass Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz im Interesse ganz Europas seien.

Die damaligen Voraussetzungen sind längst verschwunden. Schon im Kalten Krieg nach 1945 stellte der helvetische Sonderweg aus Sicht westlicher Strategen ein Problem dar, weil der aus Österreich und der Schweiz gebildete «neutrale Riegel» das Nato-Gebiet zerschnitt und der Sowjetunion eine mögliche Einfallsroute bot. Immerhin sorgte die Schweiz für eine glaubwürdige Verteidigung und beteiligte sich an der Embargopolitik gegenüber dem kommunistischen Ostblock. Unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges nähert sich das ausländische Verständnis für die schweizerische Neutralität jedoch dem Nullpunkt.

Aus den USA und der EU hagelt es Kritik an einer Politik, die als unsolidarisch und egoistisch betrachtet wird. Der ganze Westen hat sich angesichts der Bedrohung aus Russland einen Ruck gegeben, nur die Schweiz scheint die Zeitenwende zu verschlafen. Dass ihre Neutralität so weit geht, befreundeten Staaten wie Deutschland, Dänemark oder Spanien die Weitergabe von Kriegsmaterial an die Ukraine zu verweigern, sorgt für Empörung. Eine solche Haltung wird als faktische Hilfe für den Aggressor verstanden, was wiederum nicht sehr neutral wirkt. Unser Land muss sich den Vorwurf gefallen lassen, vom Schutzschirm der Nato zu profitieren, aber in der grössten Krise seit Jahrzehnten nichts Zählbares zur Sicherheit des Kontinents beizutragen.

Eine unverständliche Politik lässt sich nicht erklären

Es ist eine Illusion, zu glauben, dass man dem Ausland die helvetische Besonderheit einfach besser erklären müsse. Zu sehr hat sich das geopolitische Gefüge verschoben. Die wichtigsten Partner sehen keinen Nutzen mehr in einer Neutralität schweizerischer Ausprägung. Diese ist ja auch kein Exportschlager: Kein einziges Land der Welt verfolgt eine solch strikte, sogar über die rechtlichen Pflichten hinausgehende Neutralitätspolitik. Die ohnehin kleine Familie der Neutralen ist durch den Wegfall von Finnland und Schweden entscheidend geschwächt worden.

Zu nennen sind abgesehen von Zwergstaaten am ehesten noch Österreich und Irland. Doch beide sind EU-Mitglieder und damit nur eingeschränkt neutral. Wien engagiert sich militärisch für die EU-Eingreiftruppe, während Dublin eine engere Kooperation mit der Nato anstrebt und ukrainisches Militärpersonal ausbildet. Ein typisches Beispiel für helvetische Verblendung ist eine Initiative der früheren Aussenministerin Micheline Calmy-Rey, die noch 2021 die Schweizer Neutralität der EU als Inspiration empfahl. Sie erlitt Schiffbruch, denn Europa sieht sein Heil nicht in Neutralität, sondern will im Gegenteil als geopolitischer Akteur Statur gewinnen.

Das wichtigste Argument Berns für die Neutralität – sie sei die Voraussetzung für Gute Dienste – überzeugt im Ausland ebenfalls nicht. Als Briefträger im Rahmen von Schutzmachtmandaten sind die Schweizer Diplomaten zwar geschätzt, aber diese Dienstleistung fällt realpolitisch nicht ins Gewicht. Die Schweiz kann wenig Resultate als Mediatorin vorweisen, während Länder wie die Türkei oder Norwegen demonstrieren, dass eine Nato-Mitgliedschaft kein Hindernis für erfolgreiches Vermitteln ist.

Verständnis für ihre Ukraine-Politik kann die Schweiz noch aus einem weiteren Grund nicht erwarten. Wäre sie wenigstens auf nichtmilitärischem Gebiet ein Vorbild punkto Solidarität, so erhielte sie dafür Respekt. Doch das Gegenteil ist der Fall, denn auch bei der Wirtschaftshilfe harzt es. In der umfassendsten Statistik militärischer, finanzieller und humanitärer Beiträge an die Ukraine liegt die Schweiz gemessen an ihrer Wirtschaftskraft auf dem letzten Platz von dreissig europäischen Ländern. Schweden beispielsweise leistet zehnmal so viel.

Natürlich kann die Schweiz die Krise auszusitzen versuchen und auf ihrer Tradition beharren, aber sie riskiert einen wachsenden Reputationsverlust. Steht dem ein überzeugender innenpolitischer Nutzen gegenüber? Eines ist klar: Die Neutralität hat ihre ursprüngliche Raison d’être längst verloren. Sie war drei Jahrhunderte lang ein segensreiches Mittel, um die Eidgenossenschaft vor dem Zerfall zu bewahren. Innere Gegensätze – zwischen katholischen und reformierten Orten, zwischen Konservativen und Liberalen und zuletzt im Ersten Weltkrieg zwischen Romands und Deutschschweizern – drohten das Land immer wieder zu spalten. Das Korsett der Neutralität verhinderte, dass äussere Konflikte die Eidgenossenschaft vollends zerrissen.

All dies ist passé, da unsere Nachbarn längst in Frieden miteinander leben. Die Schweiz ist nicht mehr neutral, weil sie damit einer Staatsräson folgt, sondern weil die Neutralität Teil einer kaum noch hinterfragten nationalen Identität geworden ist. «Wir sind neutral, weil wir einfach neutral sind» – so formulierte es der Zürcher Politologe Daniel Frei schon vor einem halben Jahrhundert.

Bündnisfrei, aber auf der Seite der Ukraine

Trotzdem gäbe es einen Weg aus dem Elfenbeinturm der Neutralitätsideologie: Er lautet «Bündnisfreiheit». Die Schweiz braucht nicht der Nato beizutreten; sie will sich keinesfalls an fernen Kriegseinsätzen beteiligen. Aber sie kann gefahrlos ihre Politik der dauernden Neutralität aufkündigen und zu einer fallweisen, «einfachen» Neutralität übergehen. Damit könnte sie sich ausbedingen, in gewissen Konstellationen keine Neutralität walten zu lassen. Der jetzige Fall eines Aggressionskrieges in Europa, der auch Schweizer Interessen mit Füssen tritt, wäre das Paradebeispiel einer solchen Konstellation.

Allianzfreiheit, gepaart mit selektiver Neutralität, stünde im Einklang mit dem Völkerrecht wie auch mit der Bundesverfassung. Aber natürlich könnte der Bundesrat einen solchen Schritt nur mit Rückendeckung des Parlaments wagen, zumal dessen Hilfe auch bei der Revision des Kriegsmaterialgesetzes nötig ist.

Gewiss, der politische Wille für eine solche Kursänderung fehlt. Aber unter der Devise «Mehr Freiheit, weniger Neutralität» könnte die Schweiz aus ihrer Sackgasse finden. «Freiheit» winkt dabei gleich auf mehreren Ebenen: Die Schweiz bliebe frei von Bündnispflichten, aber sie gewänne ungeahnte Freiräume in der Verfolgung ihrer Interessen hinzu, erlöst aus der Zwangsjacke ihrer bisherigen Aussenpolitik. Zugleich öffnete sich ein Weg, um die Freiheit Europas zu stärken – mit der Lieferung von Militärmaterial an die Ukraine, die in ihrem Überlebenskampf auch auf die Schweiz angewiesen ist.

518 Kommentare
J. L.

Besten Dank! Es ist schlicht unfassbar, dass der BR nicht realisieren will, dass mit der Gepardmunition jede Nacht Leben gerettet würden! Dass aber die SVP jetzt noch Unterschriften sammelt, um mit Russland Handel treiben zu können, wie das Blochers schon mehrfach gefordert haben, ist eine Schande und zeugt von einem menschenverachtenden Egoismus.

Jürg Simeon

Danke, wir stehen gedanklich, emotional noch immer in den Jahren 1815, 1914, 1939. Die Situation in Europa ist jedoch heute eine völlig positiv andere. Dann kommt der Schweizer Trotzreflex, wir lassen uns nicht dreinreden. Dies ist richtig bei unberechtigten Forderungen, wie das Schliessen der Skigebiete in der Covid Pandemie, aber nicht hier. Geben wir sofort die Waffen frei, egal ob über die KMG Änderung oder sonst wie, hören wir auf den Handlanger des Kriegsverbrechers Putin zu sein!

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