Kommentar

Immer mehr Staaten versuchen, ihre Bürger vor Fettleibigkeit zu bewahren. Dabei ist Essen vor allem eins: Privatsache

Die Ernährung ist zum Spielball der Politik geworden. Neuester Ausdruck davon sind geplante Werbeverbote für Süssigkeiten in Deutschland und in der Schweiz. Doch der Staat sollte sich in Ernährungsfragen auf eine viel bescheidenere Rolle beschränken.

Matthias Benz 6 min
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Illustration Simon Tanner / NZZ

Sind Süssigkeiten die neuen Zigaretten? Die deutsche Regierung scheint dies so zu sehen. Sie plant, Werbung für stark zucker-, fett- und salzhaltige Lebensmittel weitgehend zu verbieten.

Vor allem Kinder und Jugendliche sollen so geschützt werden. Berlin möchte etwas dagegen tun, dass deutsche Kinder immer dicker werden. Die Pläne sind jedoch weit gefasst. Auch Erwachsene werden künftig im Fernsehen kaum mehr eine Werbung für Schokoladeriegel, Pommes-Chips oder Süssgetränke sehen, denn Spots sollen von sechs Uhr morgens bis elf Uhr abends nicht mehr laufen dürfen.

Auch die Schweizer Behörden setzen auf Verbotsideen. Das Departement von Gesundheitsminister Alain Berset denkt über ähnliche Verbote von an Kinder gerichteter Werbung wie in Deutschland nach. Im Sommer sollen erste Vorschläge dazu präsentiert werden.

Kampf gegen Übergewicht und Fettleibigkeit

Tatsächlich sind Übergewicht und Fettleibigkeit ein Problem. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten in vielen Ländern der Welt zugenommen – sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern. Die medizinische Forschung zeigt, dass die zu vielen Kilos das Risiko für gesundheitliche Probleme wie Bluthochdruck, Herzerkrankungen und Diabetes erhöhen.

Die «Adipositas-Epidemie», wie sie manche Experten nennen, ist allerdings nicht überall gleich verbreitet. Das zeigt sich mit Blick auf Fettleibigkeit, also extremes Übergewicht. Besonders betroffen sind die angelsächsischen sowie einige lateinamerikanische Länder. Beispielsweise zählten im Jahr 2016 in Chile rund 22 Prozent der Schulkinder zur Kategorie «fettleibig». In den USA waren es gut 20 Prozent, und in Grossbritannien war es ebenfalls jedes fünfte Kind.

Besser sieht es hingegen im deutschsprachigen Raum aus. In Deutschland gehören rund 6 Prozent der Kinder zu der Gruppe, in der Schweiz gut 5 Prozent. Die niedrigeren Werte allein sprechen dafür, dass die hiesigen Behörden mit ihren Regulierungsideen nicht übers Ziel hinausschiessen sollten.

Zuckersteuer und Verbote in Chile

Die Politik hat bis jetzt besonders in jenen Ländern eingegriffen, in denen Fettleibigkeit weit verbreitet ist. Vor allem Chile gilt als Vorbild für Regulierungsturbos wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Im südamerikanischen Land führte die Politik im Jahr 2014 eine Zuckersteuer für Süssgetränke ein. Zwei Jahre später folgten strenge Regeln für die Vermarktung und die Kennzeichnung von stark zucker-, fett- und salzhaltigen Lebensmitteln. Es gelten seither weitreichende Werbeverbote. Auf den Lebensmittelverpackungen dürfen keine Comicfiguren mehr zu sehen sein, an ihre Stelle sind grosse Warnhinweise getreten. An Schulen ist der Verkauf ungesunder Lebensmittel untersagt.

Die Eingriffe des chilenischen Staates waren nicht vergebens. Wissenschaftliche Studien belegen, dass durch sie der Konsum von ungesunden Lebensmitteln ein Stück weit zurückgegangen ist. Allerdings herrscht auch Ernüchterung. Am grossen Bild haben die staatlichen Vorschriften wenig geändert. Der Anteil an fettleibigen Kindern hat in Chile seit 2016 weiter zugenommen.

In Chile nimmt Fettleibigkeit unter Kindern zu

Anteil der Fettleibigen unter Schulkindern im Alter von 5 bis 15 Jahren, in Prozent

Erfolglose Eingriffe in Grossbritannien

Ähnliche Erfahrungen hat Grossbritannien gemacht. Bereits seit langem versuchen die Behörden, die Übergewichtigkeit in der Bevölkerung mit Verboten, Steuern und anderen Massnahmen zu bekämpfen. Doch die Menschen scheinen sich nicht zum Glück zwingen zu lassen, der Anteil der Übergewichtigen sinkt nicht.

Die Regierung versucht es jetzt mit noch stärkeren Eingriffen. Seit vergangenem Herbst ist es den Supermarktketten auf der Insel untersagt, bestimmte Lebensmittel in der Nähe der Kassen zu platzieren, damit die Kunden nicht in Versuchung kommen. Der Staat will es genau wissen. Die Verordnungen führen detaillierte Formeln zur Berechnung der zulässigen Distanz auf.

Es ist jedoch zu vermuten, dass auch dieses Mikromanagement nichts bringen wird. Übergewicht und Fettleibigkeit haben vielschichtige und schwer zu ändernde Ursachen. Häufig liegen ihnen soziale Probleme zugrunde. Bei Kindern geht es auch darum, dass Eltern nicht richtig für ihren Nachwuchs sorgen. Politiker machen es sich zu einfach, wenn sie denken, sie könnten solche grundlegenden Probleme mit Werbeverboten aus der Welt schaffen.

Politisierung der Ernährung

Die Diskussion um Süssigkeiten und Snacks passt aber zu einem breiteren Trend. Die Ernährung ist längst politisch geworden. Regierungen, Behörden und Aktivisten fühlen sich zuständig dafür, was auf den Teller kommt. So ist es auch zu einem öffentlichen Streitpunkt geworden, ob man noch Milch trinken darf oder ob Altersheime und Kantinen überhaupt noch Fleisch servieren sollen.

Das ruft nach einer Klärung der Frage, welche Rolle der Staat in der Ernährung eigentlich spielen soll. Dazu gibt es klare Leitlinien – zumindest aus liberaler Sicht.

Selbstverantwortung für das richtige Mass

Grundsätzlich ist Essen Privatsache. Der Staat soll nur in Ausnahmefällen in die Freiheiten der Menschen eingreifen. Beim Entscheid über die Ernährung gibt es nur wenig Grund dafür.

Anders als Nikotin in Zigaretten, die Suchtmittel sind, braucht der menschliche Körper Nährstoffe wie Zucker und Fett. Es ist alles eine Frage des Masses. Es liegt damit in der Selbstverantwortung der Menschen, den richtigen Umgang mit der Ernährung zu finden. Das Ringen um das richtige Mass kann und soll ihnen der Staat nicht abnehmen. Bei Kindern stehen dafür in erster Linie die Eltern in der Pflicht.

Der Staat kommt aus liberaler Sicht nur dann ins Spiel, wenn die Ernährung zu grossen «Externalitäten» führt – wenn es also unverantwortlich hohe Kosten für Dritte gibt.

Mit Blick auf die gesundheitlichen Folgen des Essens ist das nur bedingt der Fall. Anders als beim Passivrauchen schaden Übergewichtige anderen nicht, wenn sie zu viel verzehren. Zwar haben ihre gesundheitlichen Probleme Folgekosten für das öffentlich finanzierte Gesundheitswesen. Aber die grössten Kosten von Krankheiten tragen Übergewichtige selbst – indem sie damit zurechtkommen müssen, wenn sich der Gesundheitszustand und die Lebensqualität verschlechtern.

Das bedeutet umgekehrt auch, dass die Betroffenen selbst das grösste Interesse daran haben, ihre Situation zu ändern, wenn sie sie als untragbar empfinden. Aber man sollte nicht davon ausgehen, dass das immer der Fall ist. Manche Menschen fühlen sich mit den überzähligen Kilos wohl.

Zentral sind die Folgen für die Umwelt

Die grossen Externalitäten der Ernährung liegen mithin an einem ganz anderen Ort. Es geht um die Umweltbelastung. Beispielsweise ist es unter Agrarexperten ein offenes Geheimnis, dass die Tierbestände in der Schweiz zu gross sind. Über die Güllemengen gelangen zu viele umweltbelastende Nährstoffe in Böden und Gewässer. Auch der übermässige Einsatz von Dünger und Pflanzenschutzmitteln verringert beispielsweise die Biodiversität. Mit anderen Worten: Der ökologische Fussabdruck der Nahrungsmittelproduktion und des Essenskonsums ist zu gross – nicht nur in der Schweiz, sondern praktisch weltweit.

In Umweltfragen kommt dem Staat eine Rolle zu. Wenn es grosse Externalitäten gibt, sollte er dafür sorgen, dass die Menschen die negativen Effekte in ihrem Handeln berücksichtigen.

Es gibt naheliegende Ansatzpunkte, wo die Politik eingreifen kann. So mischt der Staat jetzt schon kräftig in der Landwirtschaft mit. Es gibt keinen Wirtschaftssektor, der so durchdrungen ist von staatlichen Vorgaben, Subventionen und Schutzzöllen.

Lenkungsabgaben für eine ökologischere Produktion

Der Staat könnte deshalb Subventionen abschaffen. In der Schweiz fördert der Bund beispielsweise grosszügig den Anbau von Zuckerrüben – obwohl er gleichzeitig den Zuckerkonsum verringern möchte, womöglich bald mit den beschriebenen Werbeverboten. Das passt nicht zusammen.

Zudem geht faktisch der grösste Teil der milliardenschweren Subventionen für die Landwirtschaft in die Produktion von Fleisch, Milch und Käse. Der Bund hätte es in der Hand, die Umweltbelastungen aus der tierischen Produktion zu verringern, indem er die Subventionen ökologischer ausrichtet.

Der Staat kann ferner dazu übergehen, die Externalitäten des Nahrungsmittelsektors zu internalisieren – das heisst, die Umweltkosten mit einem Preis zu belegen. Am besten geschähe dies direkt an der Quelle, bei den Bauern.

Sinnvoll wären beispielsweise Lenkungsabgaben auf allen Treibern der intensiven Landwirtschaft, welche die Umwelt über Gebühr belasten, also Abgaben auf Futtermitteln für Tiere, Stickstoff- und Phosphor-Düngern und chemischen Pflanzenschutzmitteln. Auch eine breit gefasste Steuer auf Treibhausgasemissionen wäre angezeigt. Über die Zeit würden sich die landwirtschaftliche Produktion und das Essverhalten dann aus Eigeninteresse in eine umweltverträgliche Richtung entwickeln.

Bescheidene Rolle des Staates

Der Staat kann und soll also eine Rolle in Ernährungsfragen spielen. Aber diese ist viel bescheidener, als es vielen Politikern und Aktivisten lieb ist. Sie beschränkt sich darauf, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen, damit das Essen ökologischer wird.

Hingegen haben die Finger des Staates nichts direkt auf dem Teller verloren. Was Menschen essen, sollen sie grundsätzlich selbst entscheiden. Verbote, auch nur für Werbung, gehen zu weit.