Gastkommentar

Die neutralitätspolitische Verwirrung löst Kopfschütteln bei Freunden aus

Es rächt sich, dass die Schweiz ihr Neutralitätsverständnis nur ungenügend den neuen Realitäten angepasst hat. Wir müssen dafür sorgen, dass sich das Bild des egoistischen Sonderlings nicht verfestigt.

Kaspar Villiger 112 Kommentare 6 min
Drucken
Die Schweiz läuft Gefahr, ihren Sympathiebonus bei den Nachbarn zu verscherzen.

Die Schweiz läuft Gefahr, ihren Sympathiebonus bei den Nachbarn zu verscherzen.

Benjamin Manser / Keystone

Unweit von uns wird die Ukraine, ein souveränes Volk, das sich einem grössenwahnsinnigen Despoten nicht ergeben will, gnadenlos und auf bestialische Weise vernichtet. Aber dieses Volk lässt sich trotz seinen unbeschreiblichen Opfern nicht beirren und trotzt dem Despoten mit heroischem Mut.

Der Bundesrat beschloss zu Recht die Teilnahme an den Sanktionen gegen Russland, und die Lugano-Konferenz setzte ein vielbeachtetes Zeichen für den Wiederaufbau nach dem Krieg. Das hat das Ansehen der Schweiz als verlässliche Partnerin im demokratischen Teil der Welt gemehrt. Plötzlich aber sind im Ausland Zweifel an dieser Verlässlichkeit entstanden, und gerade in Kreisen, die besonders den Heldenmut unserer Altvorderen und unsere Souveränität verklären, sind Risse in der Solidarität mit der Ukraine festzustellen.

Ultraorthodoxe Neutralität schadet dem Lande

Einige befreundete demokratische Staaten haben die Schweiz ersucht, das Wiederausfuhrverbot auf Schweizer Kriegsmaterial für den Verkauf an die Ukraine aufzuheben, und Anfragen für den Kauf eingelagerter alter Panzer als Ersatz für Panzer, die in die Ukraine geliefert werden sollen, sind eingetroffen.

In Bern ist eine heftige Debatte darüber entbrannt, wieweit unsere Neutralität solches überhaupt zulasse. Der Bundesrat, der sich noch vor kurzem im Parlament zu Recht, aber erfolglos gegen eine neutralitätspolitisch unnötige und schädliche Verschärfung des Kriegsmaterialexport-Gesetzes gewehrt hatte, machte eine Kehrtwende und verkündete zu solcher Hilfe ein klares Njet. Dabei stützte er sich auf ein ultraorthodoxes Neutralitätsverständnis, das es historisch so nie gegeben hat. Der Bundespräsident sprach gar vom «Kriegsrausch gewisser Kreise», ohne damit klar den Angreifer zu benennen.

Die Reaktionen im Ausland zeigen nun, dass die Schweiz durch dieses Gezänk in kürzester Zeit ihren Sympathiebonus verscherzt hat. Die «New York Times» beispielsweise schreibt, die Schweizer sähen sich als der Welt Friedensstifter und «humanitarians», aber die Neutralität sei weniger idealistisch motiviert als auf den wirtschaftlichen Benefit ausgerichtet. Man mag solches gewichten, wie man will, aber sicher ist, dass es nicht nur dem Ansehen der Schweiz, sondern langfristig auch ihrer Sicherheit schadet. Wer legitime und mögliche Hilfe zur Linderung von Not verweigert, dem wird auch nicht geholfen, wenn er einmal der Hilfe bedarf.

Abgesehen davon erweist sich die überrestriktive Waffenexport-Politik in einer weiteren Hinsicht als Eigentor. Wenn wir mit – gemäss namhaften Staatsrechtlern neutralitätsrechtlich unnötigen – Wiederausfuhrbeschränkungen den Kunden den Weiterverkauf von Schweizer Kriegsmaterial sogar dann verbieten, wenn dieser der völkerrechtlich zugelassenen Verteidigung eines widerrechtlich angegriffenen Staates dient, wird kein rational handelnder Staat künftig je wieder Waffen und Munition aus Schweizer Produktion beschaffen. Das wird die schweizerische Waffenproduktion und damit auch die Verteidigungsfähigkeit der Schweiz weiter massiv beeinträchtigen.

Völkerrecht entwickelt sich weiter

Das Neutralitätsrecht stammt aus einer Zeit, als der Krieg völkerrechtlich noch als legitime Fortsetzung der Politik betrachtet wurde. Am Wiener Kongress des Jahres 1815 auferlegten die Siegermächte der Schweiz die bewaffnete Neutralität, weil diese im Interesse der rivalisierenden Grossmächte war, und im Haager Abkommen wurde 1907 völkerrechtlich definiert, was die Nichtbeteiligung des Neutralen an Kriegen konkret bedeutet.

Seit dieser Zeit hat sich dreierlei fundamental verändert. Das Völkerrecht hat sich erstens seither weiterentwickelt. Im Kellogg-Briand-Pakt von 1928 und später in der Uno-Charta wurden Angriffskriege völkerrechtlich verboten, das Recht auf Selbstverteidigung hingegen beibehalten. Zweitens sind wir nicht mehr von rivalisierenden Mächten umgeben, sondern von friedlichen Demokratien mit den gleichen Werten. Von diesen wird unsere Neutralität nicht mehr als in ihrem Interesse liegend betrachtet.

Es ist nicht mehr die Neutralität, die uns schützt, sondern – wenn wir ehrlich sind – der Schutzschirm unserer Nachbarn, der Nato. Das ist die dritte Entwicklung: Einzelne Staaten – mit Ausnahme der ganz grossen – sind weder finanziell noch technologisch überhaupt in der Lage, sich autonom zu verteidigen. Das gilt auch für die Schweiz.

Damit wird die bewaffnete Neutralität objektiv zur Fiktion. Wir brauchen im Angriffsfall Unterstützung, allein schon deshalb, weil Angriffe auf uns und unsere Infrastrukturen nicht an der Grenze beginnen müssen, sondern schon aus grosser Entfernung, aus dem Cyberspace oder gar aus dem Weltraum möglich sind. Nach den Haager Neutralitätsregeln darf der Neutrale mit anderen Armeen erst zusammenarbeiten, wenn er angegriffen wird. Aber im Unterschied zu 1907 ist das heutzutage zu spät, denn es braucht dazu aufwendige Vorbereitungen hinsichtlich Übermittlung, Interoperabilität, Nachrichtendienst, Training und Doktrin.

Auch wenn die orthodoxe Neutralität, wie sie noch im Haager Abkommen verankert ist, aus der Zeit gefallen ist, heisst das nicht, dass wir das Prinzip Neutralität aufgeben müssen. Sie ist im Schweizervolk tief verankert, und sie hat sich historisch bewährt – gerade weil sie stets flexibel gehandhabt wurde: mal strikter, mal offener. Die Neutralität ist anpassungsfähig, ohne dass ihr Kern verleugnet werden muss.

In den letzten Jahren ist sie immer wieder schrittweise flexibilisiert worden. So beteiligte sich die Schweiz zunehmend an Sanktionen, weil die Nichtbeteiligung sie international unter den demokratischen Staaten mit allen damit verbundenen Nachteilen zum Paria gestempelt hätte. Zudem akzeptiert sie, dass vom Uno-Sicherheitsrat beschlossene Zwangsmassnahmen nicht mehr rechtlich relevante Kriege sind, sondern völkerrechtlich legale Massnahmen zur Durchsetzung von Beschlüssen der Staatengemeinschaft, die von der Neutralität entbinden.

Skizze einer modernen Neutralität

Es rächt sich heute, dass wir unser Neutralitätsverständnis nur ungenügend den neuen Realitäten angepasst haben und nun unter dem Druck widriger Umstände in einer Weise zum Improvisieren gezwungen sind, die im Ausland nur Kopfschütteln erzeugt. Das Bild des egoistischen Sonderlings beginnt sich erneut zu verfestigen.

Wenn man die Diskussionen in Bern verfolgt, bekommt man Zweifel, ob alle politischen Akteure des Landes den Ernst der Situation für unsere Reputation, für unsere Sicherheit und letztlich auch für unsere Wirtschaft wirklich erkannt haben. Es besteht Handlungsbedarf. Ich möchte drei denkbare Leitplanken skizzieren.

Erstens: Wir sollten die Neutralität nicht aufgeben, sondern den neuen globalen Gegebenheiten und den Fortschritten des Völkerrechts anpassen. Weil die orthodoxe Neutralitätshandhabung von uns nahestehenden Demokratien nicht mehr verstanden wird, kann sie zum Risikofaktor mutieren. Und für die so hochgelobten Guten Dienste sind Faktoren wie Blockunabhängigkeit, das Fehlen von Hidden Agendas und das Fehlen einer kolonialen Vergangenheit wichtiger als Neutralität.

Das einzige Beispiel der jüngeren Vergangenheit eines bedeutenden Vermittlungserfolges eines Kleinstaates sind die Oslo-Verträge zwischen Israel und der PLO von 1993. Die Vermittlerin war aber nicht die Schweiz, sondern das Nato-Mitglied Norwegen.

Zweitens: Auch eine modifizierte Neutralität muss glaubwürdig sein. Deshalb hat sie sich an Prinzipien zu orientieren, die sie berechenbar machen. Allzu enge Definitionen sind trotzdem zu vermeiden, weil sie den aussenpolitischen Spielraum gefährlich einengen könnten. So würden die aussenpolitischen Fesseln der geplanten Neutralitätsinitiative der SVP unser Land nicht sicherer, sondern in unverantwortlicher Weise unsicherer machen.

Zwei denkbare Prinzipien sind zurzeit im Gespräch: So könnte die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial durch rechtsstaatliche Demokratien zum Zweck der völkerrechtlich legitimen Verteidigung eines angegriffenen Staates ebenso zugelassen werden wie die Lieferung von Waffen an Demokratien, mit denen diese ihre Waffenlieferungen an angegriffene Staaten ersetzen.

Zudem erscheint die Idee als sinnvoll, Abweichungen von der Neutralität nicht nur bei Beschlüssen des Sicherheitsrates zuzulassen, sondern auch bei qualifizierten Mehrheitsbeschlüssen der Uno-Generalversammlung, denn diese widerspiegeln den Willen der Völkergemeinschaft auch in den meist besonders wichtigen Fällen, in denen der Sicherheitsrat durch Vetos blockiert ist.

Drittens: Ein Nato-Beitritt widerspräche auch einer modifizierten Neutralität, weil er zu Einsätzen führen könnte, die mit der Landesverteidigung nicht zusammenhängen. Aber die Vorbereitung und Einübung einer Zusammenarbeit mit der Nato muss möglich werden, weil sonst wegen der fehlenden autonomen Verteidigungsfähigkeit des Kleinstaates die bewaffnete Neutralität zu Fiktion wird. Dass wir allerdings trotzdem eine den Nato-Truppen ebenbürtige eigene Armee brauchen, ist selbstverständlich.

Niemand weiss, wie der Angriffskrieg in der Ukraine enden wird. Ein fauler Frieden mit einem Teilerfolg Putins oder gar ein Sieg Putins hätte ungute Folgen. Putins Appetit würde nicht gestillt, sondern angeregt; und anderswo kämen Despoten zu dem Schluss, dass souveränen Staaten, die angegriffen werden, niemand wirksam zu Hilfe kommt.

Aus der ohnehin fragilen globalen Sicherheitsordnung würde eine gefährliche Sicherheitsunordnung. Deshalb ist das, was in der Ukraine geschieht, für die Schweiz und die Welt von grösster Bedeutung. Wir erleben zurzeit eine epochale Auseinandersetzung zwischen den rechtsstaatlichen Demokratien und den immer aggressiveren Autokratien.

Der Ausgang dieser Auseinandersetzung wird darüber entscheiden, ob die Zukunft unseres Planeten von Macht oder von Recht geprägt sein wird. In diesem Spannungsfeld muss der Platz der Schweiz klar und unmissverständlich an der Seite der Demokratien sein. Punkt.

Kaspar Villiger gehörte von 1989 bis 2003 dem Schweizer Bundesrat an.

112 Kommentare
R. Z.

Zitat Hr. Villiger: "Es ist nicht mehr die Neutralität, die uns schützt, sondern – wenn wir ehrlich sind – der Schutzschirm unserer Nachbarn, der Nato. ... Einzelne Staaten ... sind weder finanziell noch technologisch überhaupt in der Lage, sich autonom zu verteidigen. Das gilt auch für die Schweiz." Eine realistische Sicht der Schweizer Neutralität, die nicht nur so offensichtlich, sondern auch so gut begründet ist, dass man sich als externer Beobachter fragt, warum sie in der Schweiz so umstritten ist.

ALDO WICKI

Herzlichen Dank, sehr geehrter Herr Villiger, für ihre einmal mehr glasklaren, durchdachten, wertvollen Reflexionen. Wieviele kommende Krisen muss die politische Schweiz noch verschlafen, wieviel Realitätsverweigerung will sie fortgesetzt noch betreiben, bis wir begreifen, dass die Welt nicht auf die verwöhnte Schweiz warten wird?! Wann rauft sich die politische Schweiz endlich zusammen, das oportunistische Staumanagement aller anstehenden innen- und aussenpolitischen Überfälligkeiten aufzugeben und mit Demut und Kreativität pragmatische Problemlösungen zuzulassen und die Zukunft der Schweiz zu denken und aufzugleisen?