Zur neuen Neutralität: Die Schweiz muss Russland und die Ukraine nicht gleich behandeln

Der Historiker Marco Jorio erklärt, wie die schweizerische Neutralität entstand und sich immerzu den Zeitverhältnissen anpasste. Um dem Land zu dienen, wurde die Neutralität stets neu erfunden. Heute tut dies wieder not.

Marco Jorio 7 min
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Die Schweizer Neutralität hat Auffrischung nötig: «Wehrigel» an der Expo 64 in Lausanne mit dem Kampfflugzeug Hawker Hunter.

Die Schweizer Neutralität hat Auffrischung nötig: «Wehrigel» an der Expo 64 in Lausanne mit dem Kampfflugzeug Hawker Hunter.

Comet Photo / ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Ein Rückblick auf die Geschichte der schweizerischen Neutralität bringt zwei Erkenntnisse zutage, die in der heutigen Diskussion rund um den Krieg in der Ukraine helfen können: Die Neutralität ist ein wandelbares Konzept, und sie diente immer der Sicherung der eigenen staatlichen Existenz und Sicherheit.

Der Neutralitätshistoriker Edgar Bonjour (1898–1991).

Der Neutralitätshistoriker Edgar Bonjour (1898–1991).

Keystone

Die alten Eidgenossen waren in ihren ersten Jahrhunderten sogar alles andere als neutral – sonst wäre die Eidgenossenschaft nie entstanden. Sie «besannen» sich nach der Niederlage bei Marignano 1515 auch nicht sofort auf die Neutralität, wie Edgar Bonjour einst meinte. Sie führten im Gegenteil bis um 1600 Krieg und schlossen Allianzen, so die katholischen Orte noch 1585 mit Spanien. Nach und nach aber erkannten sie, dass es für sie überlebensnotwendig war, im europäischen Ringen, vor allem in den beständigen Kriegen ihrer Nachbarn, abseitszustehen.

So fand die Eidgenossenschaft im 17. Jahrhundert zur dauernden Neutralität. Die konfessionell gespaltene Eidgenossenschaft neigte schon früher gelegentlich zum Stillsitzen. Beispielsweise weigerten sich die reformierten Orte im Schmalkaldischen Krieg 1546/47, den protestantischen Reichsständen zu Hilfe zu eilen, um einen Bürgerkrieg mit den katholischen Miteidgenossen zu vermeiden.

Die Schweiz wird im Eigeninteresse neutral

Die Ausbildung des modernen Völkerrechts, etwa durch Hugo Grotius, sowie die Anerkennung der Souveränität des Corpus Helveticum 1648, nicht zuletzt auch der Dreissigjährige Krieg (1618–1648) brachten die Wende zur dauernden Neutralität. Die Eidgenossen reagierten auf diesen Hegemonie- und Konfessionskrieg, indem sie schon in den 1620er Jahren den Durchmarsch von fremden Truppen verboten und die Pässe militärisch besetzten. Nach massiven Grenzverletzungen im Raum Basel sowie am und auf dem Bodensee beschlossen sie 1647 das gesamteidgenössische Defensionale von Wil. Es schuf zum ersten Mal eine gemeinsame Landesverteidigung und bildete eine Art Vorläufer der Schweizer Armee.

Mit der französischen Aggression von 1798 ging die Neutralität unter. Sie erstand wieder nach dem Sturz Napoleons in den Jahren 1813 bis 1815. Sie wurde aber nicht, wie eine neuere Legende behauptet, der Schweiz vom Wiener Kongress auferlegt. Es waren Schweizer Politiker, die seit der Neutralitätserklärung der Tagsatzung vom 18. November 1813 hartnäckig bei den desinteressierten Siegermächten die Anerkennung ihrer frei gewählten Neutralität erwirkten – und am 20. November 1815 in Paris schliesslich erhielten.

Die Väter der Bundesverfassung von 1848 lehnten die Aufnahme der Neutralität in die Zweckbestimmungen des neuen Bundesstaates ab. Die Neutralität sei «kein konstitutioneller und politischer Grundsatz», man könne nicht wissen, ob dieser Grundsatz «im Interesse der eigenen Selbstständigkeit verlassen werden müsse». Man übertrug aber in den sogenannten Kompetenzartikeln die Wahrung der Neutralität dem Bundesrat und der Bundesversammlung. Und so hielten es auch die Bundesverfassungen von 1874 und 1999.

Der schlaue Neutralitätsfuchs: Die erste bekannte symbolische Darstellung der «Eidgnössischen Neutralitaet» befand sich im Zürcher Rathaus auf einer Ofenkachel aus dem Jahr 1698.

Der schlaue Neutralitätsfuchs: Die erste bekannte symbolische Darstellung der «Eidgnössischen Neutralitaet» befand sich im Zürcher Rathaus auf einer Ofenkachel aus dem Jahr 1698.

PD

Die herausgeforderte Neutralität

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Neutralität mehrfach herausgefordert, so in den italienischen Befreiungskriegen und im Deutsch-Französischen Krieg. Im Zeitalter von Imperialismus und Kolonialismus führten die Staaten eine intensive völkerrechtliche Neutralitätsdiskussion, die 1907 ins «Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs» mündete. Die heute nur noch von der Schweiz angewandte Haager Konvention basierte auf dem in unseren Tagen völkerrechtlich geächteten «jus ad bellum» – dem Recht eines jeden Staates, Krieg zu führen, auch als Aggressor. Der Krieg galt damals noch als legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.

Im Ersten Weltkrieg sicherte die Neutralität wiederum den inneren nationalen Zusammenhalt. Er war gefährdet durch den Klassenkampf und den Sprachenkonflikt zwischen Deutsch und Welsch. Im Rahmen der europaweiten Nie-wieder-Krieg-Bewegung trat die Schweiz 1920 nach einer umkämpften Volksabstimmung dem neu gegründeten Völkerbund bei. Auf Drängen der Schweiz bestätigten 27 Staaten in der Londoner Erklärung vom 13. Februar 1920 die Schweizer Neutralität als Sonderfall. Sie entbanden die Schweiz als einziges Land von der Pflicht, an militärischen Sanktionen teilzunehmen, nicht aber an wirtschaftlichen. Die vorher ohne Adjektiv praktizierte Neutralität wurde nun zur «differenziellen» Neutralität erklärt.

Grenzübergang Boncourt, 1944.

Grenzübergang Boncourt, 1944.

Photopress-Archiv / Keystone

Ein frühzeitig gealterter Artikel

Nach der italienischen Aggression gegen Abessinien 1935 übernahm die Schweiz – allerdings widerwillig und unvollständig – die vom Völkerbund verhängten Sanktionen. Sie verbot auch die Ausfuhr von Waffen und Munition nach Italien. Darüber hinaus belegte sie auch das Opfer Abessinien mit einem Embargo und berief sich dabei – genau wie heute – auf Artikel 9 der Haager Konvention.

Dieser Artikel 9 verlangt die Gleichbehandlung der beiden Kriegsparteien bei der Ausfuhr von Kriegsmaterial aus privater Produktion. Die Schweiz stiess mit dieser Auslegung auf heftige Kritik im Völkerbund. Der griechische Vertreter und berühmte Völkerrechtler Nikolaos Politis etwa warf dem anwesenden Bundesrat Motta vor, dass der Rückgriff auf die Haager Konvention völkerrechtswidrig sei, da sich inzwischen das Völkerrecht mit der Ächtung des Kriegs durch den Völkerbund weiterentwickelt habe.

Eine empörte internationale und nationale Öffentlichkeit reagierte ähnlich: Ein Neutraler dürfe den Aggressor nicht mehr gleich behandeln wie das Opfer. Doch Motta blieb stur. Da der Völkerbund seine friedenssichernde Mission nicht erfüllte, erreichte die Schweiz 1938, dass sie auch keine wirtschaftlichen Sanktionen mehr übernehmen musste. Damit begann das Zeitalter der «integralen» Neutralität – auch dies ein neugeschaffener Begriff.

Die Periode der integralen Neutralität

Der Bundesrat hatte bei Kriegsbeginn wie in den früheren Kriegen ein Waffenausfuhrverbot verhängt, das der Bundesrat auf Druck der Alliierten – nicht Deutschlands – schon am 8. September 1939 wieder aufhob. Frankreich machte nämlich die Anerkennung der Neutralität von der Lieferung der bestellten Waffen abhängig – eine glatte Erpressung. Aufgrund des neutralitätsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots musste die Schweiz ab 1940 Rüstungslieferungen aus privater Produktion auch ans Deutsche Reich und nach Italien gestatten. Der Bundesrat hielt sich, soweit es ihm möglich war, akribisch und sehr legalistisch an das Neutralitätsrecht – bis zum letzten Kriegstag, als es schon lange keinen Grund mehr gab, auf das verbrecherische Regime in Berlin Rücksicht zu nehmen.

Die Neutralität war 1945 international diskreditiert. Während sie vor 1914 noch ein legitimes Verhalten souveräner Staaten gewesen war, wurden die beiden Weltkriege von den Siegern als «gerechter Krieg» geführt. Den Neutralen wurde ihre Nichtbeteiligung als moralisches Unrecht vorgeworfen. Es brauchte Jahre, bis die Schweiz mit ihrer Neutralität in der internationalen Politik, etwa als neutrales Mitglied der Waffenstillstandskommission in Korea oder als Vorbild für die österreichische Neutralität, wieder geschätzt wurde.

Um 1950 gab die Schweiz westlichem, vor allem amerikanischem Druck nach und folgte der Embargopolitik gegen die Sowjetunion, um nicht selber mit Sanktionen belegt zu werden. Ab 1960 lockerte der Bundesrat seine bis dahin strenge Neutralitätspolitik. So trat die Schweiz 1963 dem Europarat bei und übernahm ab Mitte der 1960er Jahre die ersten Sanktionen der Uno. In den 1970er Jahren engagierte sie sich zusammen mit anderen neutralen und bündnisfreien Staaten in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Munitionsherstellung in der Eidgenössischen Konstruktionswerkstätte Thun, 1941. Ein Arbeiter füllt Patronenhülsen um.

Munitionsherstellung in der Eidgenössischen Konstruktionswerkstätte Thun, 1941. Ein Arbeiter füllt Patronenhülsen um.

Photopress-Archiv / Keystone

Sicherheit durch Kooperation statt integrale Neutralität

Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Ostblocks richtete der Bundesrat die Neutralität neu aus. Sie sollte fortan auf den militärischen Bereich beschränkt werden. «Sicherheit durch Kooperation» lautete der neue Slogan. Doch der Versuch, die von zahlreichen Intellektuellen als «obsolet» erklärte Neutralität neu auszurichten oder gar abzuschaffen, scheiterte grandios. Die Schweizer Bevölkerung und mit ihr die politischen Eliten hielten grossmehrheitlich unverdrossen an der traditionellen Neutralität fest. 1986 lehnten die Stimmberechtigten den Uno-Beitritt und noch 1994 die Blauhelmvorlage ab. Erst 2002 gab es aufgrund glücklicher Umstände ein knappes Ja zum Uno-Beitritt.

Die erregten Neutralitätsdiskussionen der 1990er Jahre verstummten mit dem Beitritt der Schweiz zur Uno. Aber weder Bundesrat noch Parlament rafften sich auf, eine Neutralität für das 21. Jahrhundert zu konzipieren. Und so stolperte die Schweiz mit einer überholten Neutralitätskonzeption in die von Putins Russland ausgelösten Kriege.

Die Neutralitätsfrage ist spätestens seit 2022 wieder mit aller Wucht zurück. Doch die Schweiz kann Neutralität nicht mehr – oder wie der St. Galler Staatsrechtler Alois Riklin schon 2007 feststellte: Es herrscht «Verwirrung um die Neutralität». Mit ihrem rigorosen Waffenausfuhrgesetz handelt sich die Schweiz derzeit viel Ärger ein. Dieses geht weit über das rudimentäre Neutralitätsrecht von 1907 hinaus. Es ist ein schweizerisches Eigengewächs und das Produkt eines pazifistischen und moralistischen Mainstreams.

Die Schweizerische Gesellschaft für die Vereinten Nationen übergibt am 13. Februar 1986 in Bern mit Mutter Helvetia dem Co-Präsidenten des bernischen Aktionskomitees, Ständerat Arthur Hänsenberger, den Uno-Propaganda-Bus. Dieser soll bis zur Abstimmung im Kanton für den Beitritt der Schweiz zur Uno werben.

Die Schweizerische Gesellschaft für die Vereinten Nationen übergibt am 13. Februar 1986 in Bern mit Mutter Helvetia dem Co-Präsidenten des bernischen Aktionskomitees, Ständerat Arthur Hänsenberger, den Uno-Propaganda-Bus. Dieser soll bis zur Abstimmung im Kanton für den Beitritt der Schweiz zur Uno werben.

Hans Schlegel / Keystone

Wie weiter?

Mit dem Festhalten an der Haager Konvention, vor allem am Gleichbehandlungsgebot von Artikel 9, sabotiert die Schweiz das in Artikel 51 der Uno-Charta festgeschriebene «naturgegebene Recht auf Selbstverteidigung». Es gibt heute kein Recht und keine Pflicht mehr auf Gleichbehandlung beider Kriegsparteien, die übrigens der Bundesrat schon 1969 in seinem Uno-Bericht angezweifelt hat.

In den letzten Monaten ist nun genau das passiert, wovor seit Jahrzehnten Völker- und Staatsrechtler, Politiker und Historiker gewarnt haben: Die Neutralität ist kein Instrument der Aussen- und Sicherheitspolitik mehr, sondern ein mythisch überhöhter Selbstzweck geworden. Sie ist nicht mehr für die Sicherheit der Schweiz da, wie es seit Jahrhunderten der Fall war, sondern die Schweiz hat der Neutralität zu dienen.

Der Bundesrat und vor allem das Parlament praktizieren eine Neutralität, die dem heutigen Völkerrecht nicht entspricht, die Schweiz international isoliert und ihr sicherheitspolitisch und reputationsmässig schadet. Eine Neukonzeption auf der Basis der Uno-Charta tut not.

Marco Jorio ist Historiker und war Chefredaktor des Historischen Lexikons der Schweiz von 1988 bis 2014. – Anfang April erscheint sein neues Buch: Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte. Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2023. 520 S., Fr. 49.–.