Kommentar

Es ist ein schwerer Fehler, die «Aluhut-Fraktion» politisch auszugrenzen

In Zürich zeigt sich gerade: Liberale Demokratien bekunden Mühe, jene Strömungen politisch zu integrieren, die ihre Institutionen infrage stellen. Damit schwächen sie sich selbst.

Marius Huber 88 Kommentare 6 min
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Vom Sturm aufs Capitol bis zu den autoritären Triumphen in Osteuropa: Wo immer das Vertrauen in die Stabilität liberaler Demokratien erschüttert wird, spricht man hinterher über verpasste Gelegenheiten. Denn es gibt sie jedes Mal, diese Schlüsselmomente, in denen alles hätte abgewendet werden können. Und hinterher fragt man sich mit naivem Staunen: Wie konnten wir sie verpassen?

Der Grund ist trivial: weil einer Mehrheit die Immunisierung liberaler Demokratien gegen selbstzerstörerische Tendenzen nicht wichtig scheint, solange nichts passiert ist. Weil man es hinnimmt, wenn im Kleinen gegen Prinzipien verstossen wird.

Das ist auch der Grund, weshalb kaum jemand von der folgenden Szene gehört hat, die sich kürzlich im Zürcher Kantonsparlament zutrug.

Ein Mann wird von der Mehrheit in die Bedeutungslosigkeit verbannt

Der Mann, der da die Stimme erhob, war ein Gespenst, ein politischer Untoter. Und er wusste es. Er wusste, dass seine Philippika ohne Resonanz verhallen würde. Dass sie von einer selbstgerechten Konsensgemeinschaft ausgeblendet würde wie ein Störgeräusch. Eines, das man nicht mehr lange ertragen musste, weil sein Verursacher bald in den Orkus der Bedeutungslosigkeit verbannt würde, wo er nach Meinung vieler hingehört.

Der Mann heisst Urs Hans. Er war mal primär ein Biobauer. Aber seit der Pandemie ist er Impfgegner, Corona-Skeptiker, Verschwörungstheoretiker, Persona non grata. Er trägt viele neue Hüte – auch einer aus Aluminium wurde ihm angedichtet. Nicht ohne Grund, Hans verbreitete Verschwörungstheorien.

Bei der Grünen Partei nicht mehr erwünscht, fand er eine neue Heimat in der Protestbewegung Aufrecht. Wie viele, die sich den Massnahmen gegen das Virus widersetzten. Weil Aufrecht aber in den Zürcher Wahlen an der sogenannten Wahlhürde scheiterte, wird Hans Ende April aus dem Parlament ausscheiden.

Dieser Urs Hans also sagte, während ihm keiner zuhörte: Aufrecht sei die eigentliche Wahlsiegerin und um ihren Erfolg betrogen worden.

Fakt ist: Die Bewegung hat aus dem Stand ähnlich viele Stimmen gemacht wie andere Kleinparteien, aber anders als diese keinen einzigen Sitz erhalten. Dies, weil sie in allen Wahlkreisen unter 5 Prozent blieb – das ist die gesetzlich bestimmte Mindesthürde. Eine Sperrklausel, wie sie nicht nur Schweizer Kantone, sondern auch die deutschen Bundesländer kennen. Ohne diese bekäme Aufrecht vier Sitze. Die Hürde, folgerte Hans, sei Willkür, das Wahlergebnis ein «undemokratischer Polit-Fake».

Egal, wie man zu solcher Rhetorik und zu Politikern wie Urs Hans steht: Im Kern trifft seine Kritik ein ernstes Problem.

Warum das Weghören der etablierten Kräfte ein tragischer Fehler ist

Aufrecht ist nicht eine beliebige Randerscheinung. Sondern Ausdruck einer weltweit um sich greifenden Bewegung, die demokratischen Institutionen misstraut und sie als verlogen diskreditiert.

Damit soll nicht gesagt sein, die Anhänger von Aufrecht seien Antidemokraten. Aber sie setzen auf Narrative, die Demokratien destabilisieren können, ob gewollt oder nicht. Der Zweifel an der Aufrichtigkeit liberaler Ideale, an einer unparteilichen Faktenbasis, an der Unabhängigkeit der Behörden, die Wut auf eine korrupte Elite, der Glaube an eine grosse Lüge – all das ist Teil des Erbguts von Aufrecht.

Insofern ist es bemerkenswert, dass Aufrecht dennoch in die institutionelle Politik drängt. Und es verleiht dem Vorgang im Zürcher Parlament besondere Tragik: Da mahnt die Partei des Misstrauens zu fairen Regeln und angemessener Repräsentation. Und die etablierten Kräfte, die sich als Verteidiger des liberaldemokratischen Meinungspluralismus verstehen – hören weg.

Für die Anhänger von Aufrecht ist das eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. «Polit-Fake»? Quod erat demonstrandum.

Das Weghören ist ein strategischer Fehler der Mehrheitsgesellschaft. Statt mit der Fundamentalopposition im Dialog zu bleiben – so nervtötend es sein mag –, schickt man sie zurück ins Paralleluniversum der sozialen Netzwerke. Von wo sie später vielleicht auf unkontrollierbare Art zurückschlägt. Dann wird man wieder Reporter ins Land schicken, um herauszufinden, wo diese Enttäuschten plötzlich herkommen.

Irrationale Haltungen muss man tolerieren und zugleich bekämpfen

Auch wer Aufrecht als Bedrohung der Demokratie einstuft, wäre gut beraten, seine Feinde nahe zu halten. Wo, wenn nicht im Parlament, besteht heute noch die Chance zum zivilisierten Streit mit Andersdenkenden, jenseits sozialer Blasen? Man mag keinen Konsens finden, aber ein Bewusstsein für die Differenzen. Das ist nicht nichts.

Natürlich gibt es in einer offenen Gesellschaft Grenzen des Sagbaren. Aber der Bereich des Intolerablen ist klein. Er umfasst einzig Haltungen, die geschützte Rechtsgüter bedrohen. Klassisches Beispiel wäre ein Gewaltaufruf. Alle anderen Haltungen sind zu tolerieren, auch wenn wir sie als Zumutung empfinden, als haarsträubend oder irrational.

Offene Gesellschaften zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie ihren Mitgliedern viel Toleranz entgegenbringen, sondern auch dadurch, dass sie ihnen viel Toleranz abverlangen. Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon hat dies im Kontext der Islamismusdebatte überzeugend dargelegt. Zugleich hat er ein Missverständnis ausgeräumt: Nicht alles, was wir tolerieren müssen, müssen wir auch akzeptieren.

Es ist nicht verboten, einer Wahnidee anzuhängen – aber wer dies tut, muss hinnehmen, dass ihm mit aller Schärfe widersprochen wird. Selbst, wenn er dies als beleidigend empfindet. Die «zivilisierte Verachtung» ist in solchen Fällen sogar Pflicht. Weil irrationale Haltungen zu einer Gefahr würden, sollten sie die Oberhand gewinnen.

Wenn eine Demokratie bedrohliche Meinungen ausblendet, stärkt sie sie

Eine liberale Demokratie zeigt Stärke, wenn sie sich auch erratischen Meinungen stellt. Und sie schwächt sich paradoxerweise, wenn sie Leute wie die Aufrecht-Anhänger ausschliesst, weil sie diese als Bedrohung taxiert. Denn dadurch verschwinden sie nicht. Die einzige Wirkung: Anspruch und Wirklichkeit der Demokratie driften auseinander.

Wie verheerend ein nonchalanter Umgang mit demokratischen Prinzipien sein kann, haben die Politologen Ivan Krastev und Stephen Holmes nachgezeichnet, die dem schwindenden Licht des Liberalismus überallhin gefolgt sind.

In Ungarn profitierte Viktor Orban demnach davon, dass die liberale Demokratie nach westlichem Vorbild Wohlstand versprach und Ungleichheiten meritokratisch erklärte, sich aber nicht daran hielt. Privilegierten Zugang zu wirtschaftlichem Erfolg hatten die alten Eliten, während sich die Privathaushalte hoffnungslos verschuldeten.

Und in Russland, wo Demokratie bloss simuliert wurde, konnten sich Politiker von amerikanischen Spin-Doctors abschauen, wie man Wahlen mit fragwürdigen Mitteln manipuliert. Sie zogen diese zynische Form von «real existierender Demokratie» der Lehrbuchvariante vor – mit den bekannten Folgen.

Auch westliche Demokratien nahmen es mangels Systemkonkurrenz seit dem Kalten Krieg nicht mehr so genau mit den eigenen Werten. Anne Appelbaum, die die «Verlockung des Autoritären» aus nächster Nähe verfolgt, diagnostiziert eine Selbstgefälligkeit, die kostspielig werden kann.

Die Toleranz für widerstreitende Standpunkte, deren sich liberale Demokratien rühmen, habe sich de facto lange auf einen engen Bereich rechts und links der Mitte beschränkt. Dieses homogene Gespräch, geführt in Parlamenten und Medien, wirkte beruhigend. Aber diese Welt ist durch die sozialen Netzwerke unwiderruflich zerfallen in Teilöffentlichkeiten. Fakt und Fiktion sind schwer zu trennen, und berechnende Akteure heizen die «Lügenkaskaden» gezielt an, um die Verunsicherung politisch zu nutzen. Profiteure sind laut Applebaum illiberale Verführer, die Ruhe ins Chaos zu bringen versprechen.

Wahlhürden sind ein undemokratisches Machtinstrument

Die einzige Alternative ist es, geduldig zu streiten, über sich weitende Gräben hinweg. Deshalb ist es eine vernünftige Idee, Bewegungen wie Aufrecht den Weg ins Parlament nicht zu verbauen.

Und deshalb muss man Systemfehler wie die Wahlhürde beheben. Diese ist ein reines Machtinstrument, das demokratischen Prinzipien widerspricht. In Zürich haben es die grossen Parteien bezeichnenderweise eingeführt, als sie per Gerichtsbeschluss gezwungen wurden, das Wahlsystem für die Kleinparteien fairer zu gestalten. Ein altes Hindernis wurde durch ein neues ersetzt.

Begründet wurde dies damit, dass das Parlament sonst bis zur Funktionsunfähigkeit fragmentiert würde. Bloss: Für diese Behauptung fehlt jede Evidenz, das haben Fachleute wiederholt nachgewiesen. Dennoch wird das Argument seit Jahrzehnten wiederholt.

Geprägt wurde es im Nachkriegsdeutschland, als die grossen Parteien eine Wahlhürde wollten, um Macht und Stabilität zu sichern. Entscheidend war ihr Verweis aufs Trauma der Weimarer Republik – auf die instabilen Verhältnisse, die den Aufstieg der Nazis begünstigten. Später wurde jedoch errechnet, dass eine Wahlhürde keineswegs für stabilere Mehrheiten gesorgt hätte. Sie gründet also auf einem Mythos.

Den Verteidigern offener Gesellschaften muss dies zu denken geben. Sie müssen ihren Idealen ohne Abstriche nachleben. Jetzt, da liberale Demokratien weltweit auf dem Rückzug sind, mehr denn je. Sie müssen freiheitliche Rechte in grösstmöglichem Umfang auch ihren Gegnern gewähren. Sonst liefern sie ihnen genau jene Grundlage für Kritik, die sonst fehlen würde.

88 Kommentare
J. N.

Ich finde den Kommentar sehr gut. Ich würde dem Geschriebenen zustimmen. Besonders folgender Abschnitt empfinde ich als wichtig: "Eine liberale Demokratie zeigt Stärke, wenn sie sich auch erratischen Meinungen stellt. Und sie schwächt sich paradoxerweise, wenn sie Leute wie die Aufrecht-Anhänger ausschliesst, weil sie diese als Bedrohung taxiert. " Ich befürchte aber dass einige Leser diesen Gastkommentar als Freibrief betrachten, für jeden Blödsinn undifferenziert den gleichen Stellenwert einzufordern. Daher möchte ich für diese Leute einen sogar noch wichtigeren Teil des Gastkommentars zitieren: "Es ist nicht verboten, einer Wahnidee anzuhängen – aber wer dies tut, muss hinnehmen, dass ihm mit aller Schärfe widersprochen wird. Selbst, wenn er dies als beleidigend empfindet. Die «zivilisierte Verachtung» ist in solchen Fällen sogar Pflicht."

Jürg Simeon

Danke, die Wahlhürden sind willkürlich, undemokratisch, unliberal, sie bilden den Wählerwillen nicht ab. Kein Zufall, von den grossen Parteien beschlossen, so hält man sich die Konkurrenz vom Leib.