«Die Zuwanderung macht uns fett und träge» – «Nein, sie bringt uns fixfertig ausgebildete Leute»

«Die Zuwanderung macht uns fett und träge» – «Nein, sie bringt uns fixfertig ausgebildete Leute»

Die Bevölkerung der Schweiz wächst seit Jahren rasant. Umstritten bleibt, wie lange das so weitergehen kann und ob die hohe Zuwanderung ein Fluch oder ein Segen ist. Die zwei Schweizer Ökonomen Christoph Schaltegger und Boris Zürcher im Streitgespräch.

Thomas Fuster, Christoph Eisenring (Text), Annick Ramp (Bilder) 64 Kommentare 13 min
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Wie viel Wachstum verträgt die Schweiz? Das Land streitet über Zuwanderung und Dichtestress. Die Migration hat im vergangenen Jahr wieder stark zugenommen: 81 000 Leute zogen hierher, für eine neue Stelle, für ein neues Leben. Das Szenario einer 10-Millionen-Schweiz führt wenige Monate vor den Parlamentswahlen im Oktober zu grossen Diskussionen.

Ist der starke Anstieg der Bevölkerung ein Fluch oder ein Segen? Die einen verweisen darauf, dass uns die Zuwanderung wohlhabender mache, die anderen klagen, dieses Wachstum erfolge nur in die Breite und bringe dem Einzelnen wenig.

Streitpunkt ist vor allem die Personenfreizügigkeit mit den Staaten der EU und der Efta. Für Boris Zürcher überwiegen die Vorteile der Personenfreizügigkeit. Der 59-jährige Berner leitet seit 2013 die Direktion für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Zuvor arbeitete er unter anderem als Berater der Bundesräte Pascal Couchepin, Joseph Deiss und der Bundesrätin Doris Leuthard. Der Ökonom beobachtet für den Bund, wie sich der freie Personenverkehr auf den Arbeitsmarkt und die Sozialversicherungen auswirkt.

Christoph Schaltegger sieht die hohe Zuwanderung kritischer. Für den Direktor des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern ist die unbegrenzte Personenfreizügigkeit mit der EU und der Efta ein untaugliches Konzept. Wie sein Gesprächspartner arbeitete auch Schaltegger einst als Berater eines Bundesrates, und zwar von Hans-Rudolf Merz. Der 51-jährige Ökonom wuchs in der Nähe von Basel auf und forscht zu Fragen der öffentlichen Finanzen.

Für Boris Zürcher (links) überwiegen die Vorteile des Freizügigkeitsabkommens mit der EU, für Christoph Schaltegger die Nachteile.

Für Boris Zürcher (links) überwiegen die Vorteile des Freizügigkeitsabkommens mit der EU, für Christoph Schaltegger die Nachteile.

Die Schweiz wird dieses Jahr die Marke von 9 Millionen Einwohnern knacken. Wird es Ihnen manchmal etwas eng im Land?

Boris Zürcher: Ja, es wird eng in der Schweiz. Ich nehme den Dichtestress wahr, etwa bei Zugfahrten. Zudem verändert sich das Landschaftsbild schnell. Ich gehe regelmässig in Langenthal, wo ich aufgewachsen bin, zum Zahnarzt. Dort sehe ich, wie von Jahr zu Jahr immer mehr Flächen überbaut sind, meist mit lieblos erstellten Häusern.

Christoph Schaltegger: Ich bin Pendler zwischen Zürich, Luzern und St. Gallen und spüre den Dichtestress ebenfalls. Beim Wandern fällt mir auf, wie sich an vielen Orten billige Renditebauten wie Geschwüre in die Landschaft fressen. Mir bereitet Sorgen, dass die Bevölkerung laut Prognosen bis 2040 auf 10 Millionen weiterwachsen wird.

Entwickelt sich die Schweiz zu einem europäischen Singapur – also einem reichen, aber auch sehr dicht besiedelten Land?

Zürcher: Singapur ist ein halbautoritärer Stadtstaat. Das wird die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie nie werden. Bis 10 Millionen Menschen hier leben, werden wir wohl noch ein paar Mal über die Zuwanderung abstimmen können.

Schaltegger: Was die Bevölkerungsdichte anbelangt, ist die Schweiz schon auf dem Weg, ein europäisches Singapur zu werden. Das führt zu Verteilungskonflikten zwischen Gewinnern – etwa den Zuwanderern, Firmen und Bodenbesitzern – sowie den Verlierern, etwa Geringqualifizierten und Mietern. Um diese Konflikte zu entschärfen, brauchen wir einen Staat, der Arbeitslose, Ältere und Arme unterstützt. Das Problem: Wenn die Schweiz das gut macht, wird sie erst recht zum Magnet für Zuwanderer.

Sehen Sie einen Weg aus diesem Dilemma?

Schaltegger: Ja, wir sollten uns die Schweiz als Klub vorstellen. In diesem Klub gibt es Güter und Dienstleistungen, etwa die Infrastruktur, die Verteidigung, das Sozialwesen, aber auch das Milizprinzip und die direkte Demokratie. Jeder Zuwanderer profitiert von diesen Klub-Gütern, obwohl er sich an deren Erstellung und Pflege nicht beteiligt hat. Das ist ineffizient und unfair. Wer dem Gesellschaftsmodell Schweiz beitreten will, sollte daher einen Mitgliederbeitrag leisten müssen. Tut man das nicht, kommt es zu einem sich selbst verstärkenden Prozess: Die Zuwanderer erhalten etwas, für das sie nichts bezahlt haben. Das verstärkt die Sogwirkung und führt zu noch mehr Zuwanderung.

Wie sollen Zuwanderer für Schweizer Klub-Güter bezahlen?

Schaltegger: Beispielsweise über eine Zuwanderungsgebühr, mit der sie ihre Teilhabe am Gesellschaftsmodell Schweiz abgelten. Mein Kollege Reiner Eichenberger spricht von einer Kurtaxe. Eine Alternative wäre, dass die Schweiz die Zutrittsschranken so steuert, dass nur die gewünschte Zahl an Zuwanderern ins Land kommt.

Zürcher: Dieses Klub-Argument sticht nicht, es ist rein defizitorientiert. Die Zuwanderer verursachen ja nicht nur Kosten, sie leisten auch etwas, tragen zum Wohlstand der Schweiz bei, bezahlen Steuern, Sozialabgaben, Krankenkassenprämien. Warum sollen sie darüber hinaus noch eine Kurtaxe abliefern?

Schaltegger: Wenn ein Deutscher die Deutsche Bahn mit den SBB vergleicht, profitiert er offenkundig von einer besseren Infrastruktur.

Die Infrastruktur – etwa der Bahnverkehr – hat Mühe, mit dem Bevölkerungswachstum mithalten zu können.

Zürcher: Das Problem mit dem öffentlichen Verkehr ist ein anderes: Dort fehlt die Kostenwahrheit, die Billett-Preise decken nur einen Teil der Kosten. Dieses Problem müssen wir lösen, unabhängig von der Einwanderung. Im Übrigen wäre eine Kurtaxe mit der Personenfreizügigkeit nicht kompatibel, weil sie die EU- und Efta-Ausländer gegenüber den Inländern diskriminieren würde.

Schaltegger: Wenn man solche Überlegungen nicht einmal anstellen darf, zeigt das doch, dass die unbegrenzte Personenfreizügigkeit ein untaugliches Konzept ist.

Zürcher: Solche Überlegungen darf man schon anstellen, es fragt sich nur, ob das etwas bringt. Wobei es schon so ist: Bei der Einführung der Personenfreizügigkeit gegenüber der EU und der Efta ging man von Annahmen aus, die nicht eingetreten sind.

Welche Annahmen waren falsch?

Zürcher: Damals erwartete man, dass es in Europa zu einer schnellen Annäherung kommt. Die ärmeren Länder sollten rasch zu den reicheren aufschliessen. In den vergangenen fünfzehn Jahren haben sich die Unterschiede zwischen Nord und Süd sowie zwischen Ost und West jedoch vergrössert. Und mittendrin liegt die Schweiz.

Schaltegger: Nicht nur das. Die Personenfreizügigkeit hat sich für die EU zum Spaltpilz entwickelt. Man sieht Spannungen in diversen europäischen Staaten, auch der Brexit ist eine Folge davon.

Wenn die Personenfreizügigkeit auf der Idee der wirtschaftlichen Annäherung basiert: Heisst das, die hohe Zuwanderung in die Schweiz hält so lange an, bis wir auf dem niedrigeren Niveau der Nachbarn gelandet sind?

Zürcher: Nein, die Migration hält theoretisch an, bis der Wohlstand des Umlandes sich ungefähr demjenigen der Schweiz angeglichen hat. Es geht also um ein «race to the top» und nicht um ein «race to the bottom».

Das tönt etwas ambitionslos. Sollte die Schweiz nicht auch in Zukunft den Anspruch haben, wirtschaftlich besser dazustehen als der Rest von Europa?

Zürcher: Natürlich. Aber wo ist das Problem, wenn andere Länder zu uns aufschliessen? Uns geht es dann gut, wenn es unseren Nachbarn gutgeht. Derzeit profitiert die Schweiz enorm von der Zuwanderung. Sie kriegt fixfertig ausgebildete Leute – auch auf Topniveau. Das kann übrigens für die Herkunftsländer zum Problem werden. Sie erleiden einen massiven Braindrain. Die Ausbildung eines Arztes kostet gegen eine Million. Eine Klub-Steuer macht da wirklich keinen Sinn.

Die Zahl der Staustunden auf Schweizer Autobahnen – im Bild das Brüttiseller Kreuz – hat seit 2010 stark zugenommen.

Die Zahl der Staustunden auf Schweizer Autobahnen – im Bild das Brüttiseller Kreuz – hat seit 2010 stark zugenommen.

Wobei auch an den beiden ETH die Hälfte der Studierenden aus dem Ausland stammt. Die Schweiz bildet also ebenfalls Leute aus, die ihr erworbenes Wissen ausserhalb der Schweiz anwenden.

Zürcher: Freizügigkeit gilt eben in beide Richtungen. Ich verstehe nicht, warum liberale Ökonomen sich dagegen wehren.

Schaltegger: Sie wehren sich, weil Zuwanderer freien Zugang haben zu öffentlichen Gütern, für die sie nichts bezahlt haben. Das ist ineffizient, denn Güter, für die man nichts bezahlen muss, werden zu stark beansprucht. Es geht um Kostenwahrheit. Die Kosten, welche die Zuwanderung verursacht, müssen dem Verursacher angelastet werden. Das klingt hart, klar. Aber wer das in den Wind schlägt, sorgt am Ende für gesellschaftspolitischen Zündstoff.

Zürcher: Dann müssten wir aber auch für die Ausbildung des hier tätigen Gesundheitspersonals mit ausländischen Diplomen zahlen. Der Zugang ist zudem nicht vollkommen frei, wie Sie sagen. Zugewanderte zahlen genau wie wir auch Steuern. Und die politische Partizipation am Staat ist nicht bedingungslos zu haben. Die Bürgerrechte sind unser wahres Klub-Gut.

2022 lag die Nettozuwanderung bei 81 000 Personen. Das entspricht der Bevölkerung der Stadt Luzern. Für diese Leute müssen Schulen, Spitäler, Strassen und vieles mehr finanziert werden. Das sind hohe Kosten, richtig?

Zürcher: Solche Zahlen gilt es in einen grösseren Kontext zu stellen. Die Schweiz hat eine Sterblichkeit, die jedes Jahr ungefähr der Bevölkerung des Kantons Jura entspricht; es sterben 60 000 bis 70 000 Menschen. Natürlich kann man mit solchen Zahlen Angst machen, auch mit dem Verweis auf eine Nettozuwanderung von 80 000 Personen.

Und was ist mit der Wohnungsnot?

Zürcher: Diese ist hausgemacht. Es wurde einfach zu wenig gebaut, und die Regulierung ist zu eng. Bis vergangenen Herbst ging man davon aus, dass die Schweiz in eine tiefe Rezession fallen würde, zusammen mit dem übrigen Europa. Das hätte die Zuwanderung und die Nachfrage nach Wohnraum stark gedämpft. Heute sieht es anders aus, die Konjunktur brummt.

Der Nutzen der Zuwanderung ist also trotz Wohnungsnot grösser als die Kosten?

Zürcher: Ich denke, dass der Nutzen weiterhin über den Kosten liegt. Doch darüber spekulieren ist müssig; die Kosten-Nutzen-Analyse macht bei uns am Schluss immer das Stimmvolk. Was man sich vor Augen halten muss: Die Personenfreizügigkeit mit den EU- und Efta-Staaten ist selektiv. Es können nur Arbeitskräfte angeworben werden, die hier eine Arbeitsstelle haben. Die Leute emigrieren nicht in die Schweiz, weil sie ein besseres Leben suchen, sondern weil ihnen hier eine Stelle angeboten wird.

Der Wohnraum in der Schweiz wird knapp. Das Angebot neuer Wohnungen hinkt der Nachfrage hinterher.

Schaltegger: Sie tun das wohl auch in der Hoffnung auf ein besseres Leben, oder?

Zürcher: Am Anfang haben es Migranten nicht einfach: Sie bezahlen die höchsten Mieten und sind meist erstaunt über das hohe Preisniveau, die Steuern und die Tatsache, dass man hier nicht gratis zum Zahnarzt kann, weil das nicht durch die Versicherung gedeckt ist.

Schaltegger: Die mit der Zuwanderung verbundenen Kosten wären kein Problem, wenn sich die Zu- und die Abwanderung über die Zeit ungefähr ausgleichen würden. Doch der Trend einer hohen Nettozuwanderung ist ungebrochen. In Europa ist keine wirtschaftliche Annäherung erkennbar. Viele Länder haben dysfunktionale Arbeitsmärkte, eine hohe Jugendarbeitslosigkeit, eine Deindustrialisierung, schwache Institutionen.

Letztlich ist doch entscheidend, ob es der Schweizer Bevölkerung aufgrund der Zuwanderung bessergeht oder nicht. Zu welchem Resultat kommen Sie?

Schaltegger: Ich bin grundsätzlich für Zuwanderung, das macht uns alle reicher. Die Frage ist aber, ob man in ausgebauten Sozialstaaten bei der Zuwanderung blind dem Markt vertrauen kann, ob man also die Steuerung allein den Bedürfnissen der Unternehmen überlassen kann. Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Man sieht das bei den Staatsfinanzen. Diese leiden langfristig unter der ungesteuerten Zuwanderung.

Stichwort Sozialstaat: Milton Friedman, der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger, meinte einst, man könne freie Zuwanderung haben oder einen Sozialstaat, aber nicht beides. Dies deshalb, weil ein Sozialstaat immer mehr Menschen anziehe, was diesen irgendwann kollabieren lasse. Einverstanden?

Zürcher: Friedman ging von einem antiquierten Bild des Sozialstaates aus. Er hatte vor allem eine steuerfinanzierte Armenfürsorge im Sinn. Der heutige Sozialstaat finanziert die grossen Lebensrisiken wie Alter, Invalidität oder Arbeitslosigkeit jedoch nicht mit Steuern, sondern hauptsächlich via Lohnbeiträge.

Schaltegger: Das ist eine verkürzte Sicht. Blicken wir auf die AHV. Diese basiert zwar ebenfalls auf Beitragszahlungen. Den grössten Teil finanzieren aber die einkommensstärksten zehn Prozent. Eine Zuwanderung in Einkommensklassen unterhalb dieser zehn Prozent wird zum Negativgeschäft für die AHV. Friedman lag richtig.

Zürcher: Die Schweiz ist gut geschützt gegen eine Ausbeutung ihrer Sozialwerke. Die Leistungen sind an strenge Voraussetzungen geknüpft. Trotz Zuwanderung können wir uns daher grosszügige Sozialleistungen erlauben.

Christoph Schaltegger (rechts) sagt: «Die ungesteuerte Zuwanderung behebt den Arbeitskräftemangel nicht, sie verfestigt ihn.»

Christoph Schaltegger (rechts) sagt: «Die ungesteuerte Zuwanderung behebt den Arbeitskräftemangel nicht, sie verfestigt ihn.»

Schaltegger: Umso wichtiger ist es, dass wir die Voraussetzungen für den Zugang zu unseren Sozialwerken in den Verhandlungen mit der EU nicht aufweichen. Wollen wir die Schweizer Institutionen und das Sozialwesen erhalten, müssen wir den Zugang dazu exklusiv halten.

Findet in der Schweiz denn eine Zuwanderung in den Sozialstaat statt?

Schaltegger: Es gibt momentan noch relativ hohe Hürden für den Zugang in die Sozialwerke. Dennoch beziehen im Zeitablauf mehr Menschen Sozialhilfe, nicht weniger. Angesichts der sehr guten Konjunktur ist das ein schlechtes Zeichen.

Zürcher: Viele Zugewanderte arbeiten in Branchen mit saisonalen Schwankungen, etwa im Tourismus und Gastgewerbe. Und sie arbeiten in stärkerem Mass in der Industrie, wo die Konjunktur eine grössere Rolle spielt. Sie sind dem Auf und Ab der Wirtschaft also stärker ausgesetzt. Das hilft zu erklären, warum die Arbeitslosigkeit unter Ausländern höher liegt.

Würde es uns ohne Personenfreizügigkeit heute bessergehen?

Schaltegger: Was heisst schon besser? Blickt man auf das Bruttoinlandprodukt, steigt dieses wegen der Zuwanderung wie von selbst. Alles fliesst ins BIP und stellt uns vermeintlich besser, auch wenn wir die Infrastruktur übernutzen und massiv ausbauen müssen. Eigentlich müsste man erwarten, dass das BIP in der Schweiz massiv steigt. Es wächst aber nur leicht, vor allem der Zuwachs pro Kopf ist sehr schwach.

Noch einmal: Sind wir nun reicher geworden oder nicht?

Schaltegger: Noch einmal: Was heisst schon reicher? Wir sind durch die Zuwanderung fett und träge geworden. Denn der bestehende Reichtum, gepaart mit dem Ausbau des Staats, führt dazu, dass sich viele Schweizerinnen und Schweizer in die Teilzeitarbeit zurückziehen. Das Arbeitsethos erodiert.

Zürcher: Der Verweis auf das Arbeitsethos ist ein moralisches Argument, worüber ich mir kein Urteil erlaube. Wobei ich daran erinnere: Das hiesige Arbeitsethos war nie so hoch, wie wir uns das gern einreden. Die Schweiz ist seit mindestens dreissig Jahren nicht deshalb reich, weil jeder Einzelne besonders viele Stunden arbeitet, sondern weil sehr viele Leute beschäftigt sind. Die Schweiz verfügt, abgesehen von einigen skandinavischen Ländern, über eine rekordhohe Erwerbsquote. Mit einer Arbeitszeit von rund 1500 Stunden pro Jahr bewegt sich die Schweiz innerhalb der Industrieländer jedoch nur im Mittelfeld.

Sie beobachten also keine Abnahme des Arbeitsethos?

Zürcher: Nein. Aber selbstverständlich reagiert jeder Haushalt auf seine eigene Weise. Wenn beispielsweise ein Paar zum Schluss kommt, dass je ein 60- oder 80-Prozent-Pensum ausreicht, um davon gut zu leben, ist das eine selbstbestimmte Wahl. Wichtig ist, dass diese Haushalte nicht noch subventioniert werden für ihre tieferen Erwerbspensen.

Mehr Zuwanderer brauchen mehr Güter. Um diese Güter herzustellen, braucht es mehr Zuwanderer. Eine Endlosschleife?

Mehr Zuwanderer brauchen mehr Güter. Um diese Güter herzustellen, braucht es mehr Zuwanderer. Eine Endlosschleife?

Derzeit überbietet sich die Politik aber mit Vorstössen, wie man die Pensen erhöhen könnte. Soeben hat der Nationalrat beschlossen, dass sich der Bund mit 700 Millionen Franken an der Krippenfinanzierung beteiligen soll.

Zürcher: Die Auswirkung dieser Massnahme auf die Erhöhung der Arbeitspensen dürfte gering ausfallen. Die Kosten werden den Nutzen bei weitem übersteigen.

Schaltegger: Das sehe ich auch so. Zusätzlich werden diese 700 Millionen Franken die Sogwirkung der Schweiz verstärken und noch mehr Leute aus dem Ausland anziehen.

Der Zugriff auf ausländische Arbeitnehmer wird zumeist mit dem Fachkräftemangel begründet. Doch eigentlich ginge es auch anders: In einem funktionierenden Markt müssten Firmen nur höhere Löhne zahlen, dann würden sie ihr Personal auch im Inland erhalten.

Zürcher: Das stimmt. Die Kaufkraft und die Löhne sind über die vergangenen dreissig Jahre praktisch ununterbrochen gestiegen. Kommt hinzu: Bis zur Jahrtausendwende wanderten vor allem Niedrigqualifizierte in die Schweiz ein, und Gutqualifizierte erhielten eine Knappheitsprämie. Mit der Personenfreizügigkeit hat sich das geändert. Nun wandern vermehrt auch gut bis sehr gut qualifizierte Arbeitskräfte in die Schweiz ein, was dem Bedarf auf dem Arbeitsmarkt entspricht. Derzeit ist der Mangel an Fachkräften vor allem der sehr guten Konjunktur geschuldet.

Dennoch fällt auf: Fast unabhängig von der Konjunktur klagen die Unternehmen stets über fehlende Fachkräfte. Offenbar trägt die Zuwanderung wenig zur Behebung des Mangels bei.

Schaltegger: Das ist logisch, denn die Zugewanderten generieren in der Schweiz ja zusätzliche Nachfrage. Es kommen eben nicht nur Krankenpfleger, Buschauffeure und Theaterintendanten, sondern auch Patienten, Verkehrsteilnehmer und Theaterbesucher. Das führt zu einer Aufblähung der Wirtschaft. Und diese Aufblähung hat nichts mit einer Wohlstandsvermehrung zu tun.

Um Grünflächen zu schonen, muss bei wachsender Bevölkerung stärker verdichtet werden.

Anders formuliert: Mehr Zuwanderer schaffen mehr Nachfrage, und für diese Nachfrage braucht es wieder mehr Zuwanderer. Die Schweiz in einer Endlosschleife?

Schaltegger: So ist es. Die ungesteuerte Zuwanderung behebt den Arbeitskräftemangel nicht, sie verfestigt ihn.

Zürcher: Da muss ich widersprechen. Erstens deckt die Zuwanderung aus Europa unser demografisches Defizit. Zweitens haben wir eine wirtschaftliche Ausnahmesituation, mit einer extrem lockeren Geldpolitik und einer sehr ausgabenfreudigen Politik. Beides schafft eine hohe Nachfrage nach Arbeit.

Sollen in der Schweiz, wie derzeit bei der Personenfreizügigkeit der Fall, weiterhin nur die Unternehmen entscheiden, wer als Arbeitnehmer hier leben darf? Oder sollte auch der Staat mitreden können?

Schaltegger: Wenn wir einen funktionierenden Staat wollen, sollte der Staat mitreden können. Das deshalb, weil die Institutionen bei zu viel Zuwanderung erodieren. Die Magnetwirkung wäre schon viel kleiner, wenn die Zuwanderer nur jene Unterstützung bekämen, die sie auch in ihren Heimatstaaten erhalten. Ich verstehe nicht, warum die EU so krampfhaft an der Personenfreizügigkeit festhält.

Zürcher: Die Personenfreizügigkeit ist nicht perfekt, aber deutlich besser als die Alternativen. Die Schweiz hat bei der Zuwanderung schon viele Regime durchgespielt, etwa mit Kontingenten und dem Saisonnierstatut. Diese sind alle gescheitert.

Hat die Zuwanderung die Firmen träge gemacht, weil sie lieber ausländische Arbeitskräfte anstellen, statt in Maschinen und Technologie zu investieren, um produktiver zu werden?

Zürcher: Das ist die ewige Befürchtung. Doch es stimmt nicht, dass die Unternehmen weniger investieren, weil sie einfacher Leute aus dem Ausland anstellen können. Sonst wären die Schweizer Firmen kaum so erfolgreich und unser Wohlstand nicht so hoch.

Boris Zürcher (links) ist überzeugt: «Das hiesige Arbeitsethos war nie so hoch, wie wir uns das gern einreden.»

Boris Zürcher (links) ist überzeugt: «Das hiesige Arbeitsethos war nie so hoch, wie wir uns das gern einreden.»

Annick Ramp

Wo investieren die Unternehmen?

Zürcher: Die Bildungsausgaben sind generell stark gestiegen. Die Krise der 1990er Jahre hat ein Umdenken ausgelöst. Nach dem Nein zum EWR musste man befürchten, dass die Globalisierung ohne die Schweiz stattfindet. Um konkurrenzfähig zu bleiben, wurde massiv in die Bildung investiert. Es entstanden Fachhochschulen, wodurch auch Lehrabgängern der Weg an die Hochschulen geebnet wurde.

Schaltegger: Faktisch werden die Unternehmen aber seit Jahren von der Gesellschaft subventioniert. So tragen die Einheimischen die Kosten des Dichtestresses, nicht die Firmen. Arbeitgeber berücksichtigen deshalb nicht die gesellschaftlichen Kosten, die eine zusätzliche Arbeitskraft aus dem Ausland nach sich zieht. Es gibt keine Kompensation der Verlierer durch die Gewinner.

Stellen wir uns zum Schluss hypothetisch vor, dass wir nicht wüssten, in welchem Land wir in einem künftigen Leben geboren würden und welche Ausgangschancen wir hätten. Hinter einem solchen Schleier des Nichtwissens würden wir wohl alle eine globale Freizügigkeit befürworten, oder?

Schaltegger: Nein, wir wollen doch, dass die Menschen sich für das Gemeinwesen einsetzen, wo immer sie geboren werden. Bei völlig freier Zuwanderung würden wir die Motivation, uns für eine Gemeinschaft zu engagieren, unterwandern. Eine Welt mit völlig freier Zuwanderung wäre eine arme Welt, weil es kaum noch Gemeinschaften gäbe, deren Mitglieder miteinander solidarisch sind.

Zürcher: Auch ich will keine weltweite Freizügigkeit, das wäre für die Schweiz nicht gut.

Schaltegger: Wenn das so ist, verstehe ich aber nicht, weshalb Sie die Personenfreizügigkeit mit der EU derart verteidigen. Wenn man die weltweite Personenfreizügigkeit ablehnt, müsste man doch auch diejenige mit der EU ablehnen.

Zürcher: Nein, denn es braucht eine bestimmte Gleichartigkeit der Länder, damit die Personenfreizügigkeit funktionieren kann. Wir könnten diese zwar auf weitere Staaten erstrecken, die ein ähnliches wirtschaftliches Niveau haben wie wir, etwa Kanada, die USA oder Australien. Aber sicher nicht auf die ganze Welt.

64 Kommentare
J. D. V.

Lustig wie wirr Herr Zürcher argumentiert: "Zudem verändert sich das Landschaftsbild schnell. Ich gehe regelmässig in Langenthal, wo ich aufgewachsen bin, zum Zahnarzt. Dort sehe ich, wie von Jahr zu Jahr immer mehr Flächen überbaut sind, meist mit lieblos erstellten Häusern." .... "Es wurde einfach zu wenig gebaut, und die Regulierung ist zu eng." Aha, wir müssen also einfach die ganze Schweiz in einen Beton und Asphaltklotz verwandeln, dann können wir ohne Probleme die halbe Welt aufnehmen. Toll. Was wohl unsere Ahnen dazu sagen würden?

C. B.

Eigenartig, dass man im 21. Jahrhundert immer noch darüber diskutiert bzw behauptet, dass "mehr" "besser" ist. Man weiss, dass die Natur unter zu vielen Menschen leidet, dass das Klima sich ändert, dass die Ressourcen beschränkt sind, dass es mit zu vielen Menschen auf zu engem Raum nur Probleme gibt, egal woher sie kommen und welche Ausbildung sie haben. Deutsche Ärzte und Krankenschwestern fehlen in DE, dort wandern dann polnische Ärzte ein usw, ein Endloskreis. Warum bildet man in der CH nicht endlich genug Ärztinnen und Krankenpfleger aus? Von 8 Millionen auf 9 Millionen sei notwendig, von 9 auf 10 usw, u.a. angeblich wegen der "Überalterung" der Gesellschaft. Das stimmt aber genau so oder eben auch nicht, wenn man dann auf 12, 13 ,14 usw Millionen steigen muss. Die Probleme, die wir haben, müssen anders angegangen werden, nicht durch Endloszuzug. Verdichtetes Bauen mag eine zeitlang die Tatsache verschleiern, dass es so nicht weitergeht. Aber ehrlich: Sind Stadtteile wie Manhattan wirklich lebenswert? Um dem Dichtestress zu entkommen, fahren die Leute am Wochenende aufs Land, schon allein der Verkehr dorthin wird zum massiven Problem, der Dichtestress in den sog. Erholungsgebieten ebenfalls. Nein, eine Beschränkung tut not. 8 Millionen sind mehr als genug. Auch mit 8 Millionen kann man eine sehr gut entwickelte Wirtschaft betreiben.

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