Geht es darum, die Schweizer Wirtschaft zu loben, versäumt es kein bürgerlicher Politiker, unseren liberalen Arbeitsmarkt zu erwähnen. Und doch: Im Jahr 2022 entspricht der Mythos eines minimal regulierten Arbeitsmarktes immer weniger der Realität. Mittlerweile unterliegen fast 60% der Schweizer Arbeitsverträge einer Mindestlohngrenze. Innerhalb von 15 Jahren hat sich die Anzahl Arbeitnehmender, die einem Gesamtarbeitsvertrag (GAV) unterstellt sind, mehr als verdreifacht. Über die tripartite Kommission des Bundes konnte die Politik ihren Einfluss auf die Lohnbildung stark ausbauen. Trotz sinkender Mitgliederzahlen hat auch der Einfluss der Gewerkschaften stark zugenommen. Hinzu kommen die im Rahmen der Personenfreizügigkeit eingeführten flankierenden Massnahmen (FlaM) und neue kantonale Mindestlohnbestimmungen.

Produktivitätsgewinne sorgen für Lohnanstieg

Wie ist dieser «neue» Lohnschutz einzuordnen? Wie wirken sich diese Eingriffe auf den Arbeitsmarkt und die Löhne aus? Verhandlungsrunden zwischen Arbeitgebervertretern und Gewerkschaften könnten den Eindruck erwecken, dass Gehälter am Verhandlungstisch festgelegt werden. Die Gewerkschaften sehen sich gerne als Garanten des Lohnwachstums. Langfristig ist jedoch der Anstieg der Wertschöpfung pro Arbeiter – sprich die Produktivitätsgewinne – für diesen Lohnanstieg massgebend. Produktivitätsgewinne werden durch Innovation, Investitionen und die Qualifikationen der Arbeiter angetrieben – Faktoren, auf die die Gewerkschaften nur wenig Einfluss haben.

Zudem wird den Gesamtarbeitsverträgen seit Jahrzehnten eine grosse Wirkung auf die Löhne nachgesagt, insbesondere auf jene der Geringverdienenden. Über ihre tatsächliche Wirkung ist jedoch wenig bekannt. Eine kürzlich von Professor George Sheldon (Universität Basel) veröffentlichte Studie zeigt, dass die in den GAV des Baugewerbes festgelegten Mindestlöhne keinen bindenden Charakter haben: 98% der Arbeitnehmenden beziehen einen Lohn, der über der ausgehandelten Lohnuntergrenze liegt. Die ausgehandelten Mindestlöhne entsprechen also keineswegs den realen Löhnen.

Die ausgehandelten Mindestlöhne entsprechen in den wenigsten Fällen den realen Löhnen. (Jeriden Villegas, Unsplash)

Kurzaufenhalter leisten 0,9 Prozent aller Arbeitsstunden

Ein weiterer Faktor, den es zu berücksichtigen gilt, sind die flankierenden Massnahmen. Das Personenfreizügigkeitsabkommen hat die Befürchtung geweckt, die Löhne der einheimischen Arbeitnehmer könnten durch die europäische Konkurrenz unter Druck geraten. Besondere Sorge bereiteten dabei die Kurzzeitaufenthalter. Im Jahr 2021 hielten sich rund 215’000 europäische Erwerbstätige in der Schweiz auf. Aufgrund ihrer kurzen Aufenthaltsdauer entsprachen deren Leistungen jedoch nur 34’000 Vollzeitstellen, was lediglich 0,9% der gesamthaft in der Schweiz geleisteten Arbeitsstunden entspricht. Angesichts der zahlenmässig geringen Bedeutung ist es somit unwahrscheinlich, dass Kurzaufenthalter zum Abbau von Arbeitsplätzen führen oder Druck auf die Löhne ausüben. Ganz im Gegenteil: Schweizer Unternehmen greifen auf Kurzzeitbeschäftigte und entsandte Arbeiter zurück, um dem sich verschärfenden Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.

Eine fehlgeleitete Hilfsmassnahme

Und was ist von den Mindestlöhnen zu halten, die kürzlich in fünf Kantonen – drei davon in der Westschweiz – eingeführt wurden? Es ist noch zu früh, um Bilanz zu ziehen – insbesondere was deren Auswirkung auf die Beschäftigung betrifft. Bereits länger bekannt ist hingegen, dass Mindestlöhne kein gutes sozialpolitisches Instrument sind. Die Working poor stellen in der Schweiz eine klare Minderheit unter den armutsbetroffenen Menschen dar. So lebten im Jahr 2020 laut offiziellen Zahlen 722’000 Personen in einem Haushalt, dessen Einkommen unterhalb der Schweizer Armutsgrenze lag. Bei 564’000 Personen, also 78% von ihnen, wurde keine Erwerbstätigkeit verzeichnet. Armut wird also am häufigsten durch Nichterwerbstätigkeit verursacht.

Betrachtet man zudem die erwerbstätige Bevölkerung, so zeigt sich nur ein schwacher Zusammenhang zwischen (niedrigem) Lohn und Armutsrisiko. Im Jahr 2019 erhielten lediglich 6% der erwerbstätigen Arbeitnehmer im Alter zwischen 15 und 64 Jahren einen Bruttostundenlohn von 20 Franken oder weniger. Allerdings lebten nur 21% von ihnen in einem Haushalt, dessen Einkommen im untersten Quintil (d.h. den untersten 20%) der Einkommensskala lag. Die Mehrheit der Geringverdiener lebte in einem Haushalt der Mittelschicht. Armutsbekämpfung sollte also gezielt durch bedarfsgerechte Sozialhilfe erfolgen und nicht durch pauschale Eingriffe in das Lohnniveau.

Die im Rahmen der Sozialpartnerschaft gut etablierte Lohnpolitik darf nicht weiter geschwächt werden. Die in den GAV festgelegten Mindestlöhne müssen Vorrang vor den kantonalen Mindestlohnbestimmungen haben. Ausserdem sollte auf eine Verschärfung der flankierenden Massnahmen verzichtet werden. In Zeiten des Arbeitskräftemangels sind grenzüberschreitende Dienstleister eine Chance und keine Bedrohung für den Schweizer Arbeitsmarkt.

Dieser Beitrag ist in französischer Sprache in «Le Temps» erschienen. Weiterführende Informationen zum Thema finden sich in der Studie «Wen schützt der Lohnschutz?».