Gastkommentar

Die Schweiz wächst nicht nur in die Breite

In der Schweiz ist der gesamtwirtschaftliche Kuchen in den vergangenen drei Jahrzehnten beeindruckend schnell angewachsen. Es kann denn auch in der Schweiz weder von Wachstums- noch von Produktivitätsschwäche die Rede sein – im Gegenteil.

Boris Zürcher 3 min
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Auch die Stadt Zürich wächst: Blick vom Frankental aus.

Auch die Stadt Zürich wächst: Blick vom Frankental aus.

Christoph Ruckstuhl / NZZ

«Wachstum in die Breite», so titelt am 10. Dezember die NZZ. Eine Untersuchung der ZKB zeige einmal mehr die «Produktivitätsschwäche» der Schweiz auf. Die Produktivität steige kaum, vielmehr resultiere das Wirtschaftswachstum in der Schweiz vorwiegend aus einem sehr hohen Bevölkerungswachstum, nicht zuletzt wegen der Personenfreizügigkeit.

Dieses Argument bedient sowohl die Gegner der Personenfreizügigkeit wie auch die Wachstumskritiker tout court. Die Schweiz erliege gleichsam einer optischen Täuschung: Der gesamte Kuchen legt zwar beeindruckend zu, das Wachstum der einzelnen Kuchenstücke hält damit aber nicht Schritt.

Ein anderes Bild

Doch wie stichhaltig ist diese Argumentation? Dazu ein Blick in die offiziellen Statistiken für den Zeitraum zwischen 1991 und 2021: Das reale BIP ist über diese Periode um 48,9 Prozent gewachsen; gleichzeitig ist die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz von 6,8 auf 8,7 Millionen um 24,7 Prozent gestiegen. Der Wohlstand gemessen als BIP pro Kopf der Bevölkerung hat tatsächlich nur um 24,2 Prozent zugelegt (Differenz von BIP-Wachstum und Bevölkerungswachstum).

Die andere Hälfte des BIP-Zuwachses ist auf eine Mengenausweitung ohne Wohlstandseffekt zurückzuführen: mehr Gesundheitsdienstleistungen, mehr Bildungsdienstleistungen, mehr Staat, mehr Infrastruktur usw. – also «Breitenwachstum», ohne dass pro Kopf mehr Wohlstand herauskommt. Daran ändert nichts, wenn der Wertschöpfungszuwachs pro Erwerbstätigen berechnet wird, da die Zahl der Erwerbstätigen in der Schweiz über die letzten drei Jahrzehnte praktisch proportional zur Bevölkerung angestiegen ist (plus 23,3 Prozent).

Allerdings greifen diese Berechnungen zu kurz. Betrachtet man das BIP-Wachstum in Bezug auf das eingesetzte Arbeitsvolumen, so ändert sich das Bild schnell. Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen hat zwischen 1991 und 2021 um 12 Prozent zugenommen, also halb so viel wie die Bevölkerung und die Erwerbstätigkeit. Die Wertschöpfung (BIP) im Verhältnis zum gesamten eingesetzten Arbeitsvolumen hat demnach um 36,9 Prozent zugelegt. Nicht nur die Hälfte des BIP-Wachstums, sondern drei Viertel davon sind folglich auf eine höhere (Stunden-)Arbeitsproduktivität zurückzuführen.

Zugewanderte kompensieren

Es kommt noch besser: Während das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen um die genannten 12 Prozent gewachsen ist, ging das pro Erwerbstätigen geleistete Arbeitsvolumen um 11,4 Prozent zurück. 1991 arbeitete eine erwerbstätige Person in der Schweiz durchschnittlich 1718 Stunden im Jahr, 2021 waren es noch 1534 Stunden. Das allein generiert einen kaum zu vernachlässigenden Wohlstandszuwachs!

Wer, wenn nicht die Zugewanderten, hätte dies sonst kompensieren sollen? Und schliesslich: Das reale Arbeitnehmereinkommen (bereinigt um den Konsum-Deflator) pro Arbeitsstunde ist um 41,6 Prozent und damit fast schon im Gleichschritt mit dem BIP-Zuwachs gestiegen.

Der gesamtwirtschaftliche Kuchen in der Schweiz ist über die letzten dreissig Jahre beeindruckend schnell gewachsen. Von einer Wachstums- oder Produktivitätsschwäche der Schweiz kann nicht die Rede sein, im Gegenteil! Nicht von ungefähr zählt die Schweiz zu den wettbewerbsfähigsten Nationen der Welt. Die Personenfreizügigkeit seit 2002 hat einen wesentlichen Beitrag zu dieser hohen Wachstumsperformance geleistet.

Ein derart schnelles Wirtschafts- und Wohlstandswachstum geht allerdings immer mit einer ebenso hohen Geschwindigkeit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandels einher. Das verbreitete Malaise hinsichtlich der Personenfreizügigkeit und das dadurch induzierte Bevölkerungswachstum sind wesentlich auf diese Beschleunigung des Strukturwandels zurückzuführen. Dies wirft schliesslich weniger genuin wirtschaftspolitische als vielmehr grundlegende gesellschaftspolitische Fragen auf.

Boris Zürcher ist Leiter der Direktion für Arbeit im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) und Lehrbeauftragter an der Universität Bern.