Gastkommentar

Wie umgehen mit einem Systemrivalen, von dem man sich sehenden Auges abhängig gemacht hat? – Das China-Dilemma liberaler Demokratien

Die Zeichen zwischen Chinas Parteidiktatur und dem freiheitlichen Westen stehen politisch auf Sturm. Angesichts der traumatischen Erfahrungen, die man mit Russland gemacht hat, will man sich aus einer symbiotischen Abhängigkeit befreien. Leicht wird das nicht.

Ralph Weber 86 Kommentare
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Mit dem Projekt einer «neuen Seidenstrasse» will China hoch hinaus. – Frachtumschlag in Mombasa.

Mit dem Projekt einer «neuen Seidenstrasse» will China hoch hinaus. – Frachtumschlag in Mombasa.

Luis Tato / Bloomberg

Es ist noch nicht lange her, da war die chinesische Belt-and-Road-Initiative, sprich die neue Seidenstrasse, in aller Munde. In Europa sahen Unternehmen neue Geschäftsmöglichkeiten und zusätzlichen Handel. Regierungen unterstützten die Unternehmen dabei, sich an der Initiative zu beteiligen, oder sie beteiligten sich gleich selbst. Der chinesische Parteistaat schien einen Weg gefunden zu haben, gemeinsame Kooperation und Handel ins Zentrum zu stellen und die politische Differenz herunterzuspielen. Kritik gab es zwar hier und dort, aber für viele wies China schlicht den Weg in die globale Zukunft.

Heute hat sich das Bild geändert. Die EU hat sich für China auf die Formel «Partner, Wettbewerber, Rivale» festgelegt. Die USA und Grossbritannien betonen die Systemrivalität weit stärker. Die Belt-and-Road-Initiative stockt, der Umgang mit der Volksrepublik China ist in liberalen Demokratien schwieriger geworden. In der Diskussion findet sich die politische Differenz mittlerweile akzentuiert: Ist das Regime in China noch autoritär oder eher totalitär? Kann man sich mit einem solchen Regime überhaupt in ein angemessenes Verhältnis setzen?

Politische Differenz und Verschränkung

Die Betonung der Systemrivalität hat allerdings ihre Tücken. Eine einseitige Hervorhebung der faktischen politischen Differenz führt leicht zur selbstgefälligen Romantisierung liberaler Demokratien. Sie drängt sicherheits- und geopolitische Deutungsangebote der Weltpolitik stark in den Vordergrund. Der Fokus auf die USA und auf China als Speerspitzen der jeweiligen Systeme lässt Akteure wie Indien, die sich nicht so recht entscheiden mögen, aus dem Blick geraten. Letztlich ist die Sichtweise reduktionistisch, weil sie die tatsächliche und erhebliche globale Verschränkung über die Systemrivalen hinweg ausblendet.

«Wandel durch Handel» löst in liberalen Demokratien Dynamiken aus, welche die Politik letztlich nur schwer kontrollieren kann.

Verschränkung verkompliziert die Angelegenheit. Sie kann als Problem liberaler Demokratien verstanden werden, etwa hinsichtlich wirtschaftlicher Abhängigkeiten, fehlender Reziprozität im Marktzutritt und Lieferkettenproblematiken, oder als Zugangstor für Einflussversuche der Kommunistischen Partei. Sie birgt indes auch für autoritäre Regime Risiken. Denn Europa ist weiterhin ein bedeutender Handelspartner für China. Daher sucht auch die chinesische Seite eine teilweise Entkoppelung. Auch dort möchte man Abhängigkeiten reduzieren und entflechten.

Verschränkung ist so für beide Seiten ein Problem, eröffnet aber zugleich wichtige Handlungspotenziale. Liberale Demokratien müssen diese möglichst genau verstehen und dabei politische Differenz und Verschränkung gleichzeitig berücksichtigen.

Wandel durch Handel – ein Denkfehler

In der Vergangenheit stand die Devise «Wandel durch Handel» leitgebend für diese Verschränkung: Liberale Demokratien würden durch wirtschaftlichen Handel mit autoritären Regimen in diesen letztlich einen politischen Wandel hin zu einer Demokratie bewirken. Die Zielbestimmung dieser Devise ist klar politisch. Sie baut aber auf einer sequenziellen Logik auf: zuerst Handel, dann Wandel. Die Rolle politischer Instrumente beim Weg hin zum Ziel bleibt unklar. Die deutsche Politikwissenschafterin Gerlinde Groitl hat an dieser Stelle bereits ein Fazit gezogen und auf «das Fehlen von Zielmarken und Verbindlichkeit» als ein «Kernproblem der Engagement-Politik» hingewiesen.

Der Devise liegt jedoch auch ein grundlegender Denkfehler zugrunde. Dieser hat weniger mit China als mit der Dynamik liberaldemokratischer Gesellschaften zu tun. Mit Handel werden Interessen geschaffen, die mit zunehmender Verfestigung der Beziehungen oder auch nur mit dem Versprechen von zukünftigen Beziehungen immer stärker werden. Damit steigen jedoch die Kosten jedweder Einschränkung der Handelsbeziehungen, wenn es etwa gälte, eine Zielmarke des politischen Wandels durchzusetzen. Organisierte Interessen wissen sich zu wehren und haben angesichts der Bedeutung, die Wirtschaft in liberalen Demokratien geniesst, oft Erfolg.

Die politischen Ziele der Devise hingegen bleiben auf der Strecke. Es heisst dann etwa, dass der Zeitpunkt für den Wandel noch nicht reif sei, zunächst müsse noch länger und mehr gehandelt werden. Wenn wir heute das Prinzip «Wandel durch Handel» infrage stellen, aber grossenteils unverändert danach agieren, dann zeigt das eben auch, wie stark die erwähnten Interessen sind.

Gefangen im Zeitgeist

«Wandel durch Handel» entsprang einem gesellschaftlich breit geteilten Zeitgeist, der eng mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem «Sieg der Demokratie» verbunden war. Auch wenn diese Idee vom Ende der Geschichte von Anfang an kritisiert worden ist, so erkennen wir vielleicht erst heute, wie stark der damalige Zeitgeist von einer solchen Erwartungshaltung geprägt war – selbst auf Kritikerseite – und weiterhin dem Gegenwartsdenken unterlegt ist.

Noch heute propagieren einzelne Wirtschaftsvertreter die Devise für den Umgang mit China. Economiesuisse hat im Mai 2021 festgehalten, dass die Devise sich nicht nur «in der Vergangenheit bewährt» habe, sondern sich auch «jetzt wieder bewähren» könne. Auch in der NZZ wurde kürzlich behauptet, dass «Wandel durch Handel» doch funktioniert habe. Wirtschaftliche Öffnung und Integration hätten in China eine lautstarke Mittelschicht geschaffen, die das Regime zu Revanchismus und Repression gezwungen habe.

Eine abenteuerliche Argumentation, welche nicht nur eine ökonomisch ermittelte Mittelschicht mit einer (tatsächlich nichtexistenten) Zivilgesellschaft verwechselt, sondern zudem die zunehmende Schliessung der Volksrepublik so zu drehen vermag, dass die Devise auch im Scheitern noch reüssiert.

Bei «Wandel durch Handel» verbindet sich Zeitgeist äusserst bequem mit wirtschaftlichen Interessen. Die Devise ermöglicht es sogar, zu argumentieren, dass nur der exklusive Fokus auf deren wirtschaftliche (und keinesfalls auf deren politische) Aspekte ihrem hehren Ziel des politischen Wandels gerecht werde.

Segmentierungslogik

Die Devise impliziert eine strikte Trennung von Wirtschaft und Politik. Den Unternehmen geht es letztlich um ökonomischen Erfolg. Das ist in liberalen Demokratien durchaus so gewollt. Es sollen möglichst keine politischen Bekenntnisse eingefordert werden, und der Staat soll sich möglichst aus unternehmerischen Entscheidungen heraushalten. Möglichst – weil das nicht immer so durchzuhalten ist, auch nicht für liberale Demokratien.

Anders sieht das in China aus. Dort soll die Politik die Wirtschaft durchdringen. Politische Bekenntnisse sind unumgänglich, auch für ausländische Akteure. Unternehmen sind diesem Umstand bisher höchst erfindungsreich begegnet. Marktzutritt ist letztlich ohne die Gunst der Kommunistischen Partei kaum zu haben.

Das mag ein Beispiel für die Anpassungsfähigkeit sich im harten globalen Markt behauptender Wirtschaftsakteure sein. Das Problem liegt aber woanders. Die Segmentierungslogik scheint nämlich nur aufseiten der liberalen Demokratie zu spielen. In der Volksrepublik China hingegen muss man politisch Fahne zeigen, um Erfolg zu haben. Das wird eingefordert, und es wird abgestraft, wer ausschert.

Das Dilemma besteht nun darin: Regierungen wollen Wirtschaftsakteure in ihrem China-Geschäft aus vorab guten Gründen nicht zwingen, für die liberale Demokratie Politik zu betreiben. Da der chinesische Parteistaat aber genau das tut, entsteht eine politische Schräglage. Diese droht die liberale Demokratie, die ja die Wirtschaft mit ihren Freiheiten ausstattet, zu unterminieren. Legte man der Wirtschaft Zwang auf, liefe man zudem Gefahr, die liberalen Grundlagen der Demokratie zu unterminieren oder gleich selbst autoritär zu handeln, wenn etwa allfällig überzogene Sicherheitsbedenken anstelle einer gesetzlichen Grundlage eine politische Entscheidung motivierten.

Blick in den Spiegel

Natürlich kann die Politik, wie sie das oft tut, den gesetzlichen Rahmen verändern und auf demokratischem Weg Wirtschaftsakteure stärker auf die liberale Demokratie verpflichten. Das ist aber eine Gratwanderung und eine Ratio, die behutsam eingesetzt werden soll. Vielleicht erfordert die Situation auch einfach kreatives Denken, gar institutionelle Neuerungen – sicherlich den Ausbruch aus dem Gefängnis des Zeitgeists, den «Wandel durch Handel» in unsere Köpfe gesetzt hat.

Wenn die Aufmerksamkeit zumeist auf China fällt, welches sich trotz Handel nicht geändert habe, dann gebietet die Analyse von «Wandel durch Handel» den Blick in den Spiegel. Hier muss man, hier kann man ansetzen. Dabei geht es weniger um das Herausstreichen moralischer Defizite geldgieriger Unternehmer. Das Problem greift tiefer. Das zynische Diktum, dass «Wandel durch Handel» sehr wohl gewirkt habe, nur hätten sich die liberalen Demokratien und nicht China gewandelt, stimmt so eben nicht. «Wandel durch Handel» löst in liberalen Demokratien Dynamiken aus, welche die Politik letztlich nur schwer kontrollieren kann.

Möchten liberale Demokratien das Dilemma, das aufzulösen ihnen nicht gelingen kann, so weit wie möglich in den Griff bekommen, dann muss das über systeminhärente, sprich liberaldemokratische Stärken geschehen. Unternehmer werden politische Risiken vermehrt in ihre Kalkulationen einbeziehen müssen. Dabei ist es sonnenklar, dass die Wirtschaft für die liberale Demokratie von grosser Bedeutung ist. Umgekehrt ist es jedoch genauso. Privateigentum gilt in autoritären Regimen wenig.

Wer für wirtschaftliche Stärke gewillt ist, die liberale Demokratie zu schwächen, der verwechselt auf gesamtgesellschaftlicher Ebene das Mittel mit dem Ziel – und sägt für sich selbst genommen nolens volens an dem Ast, auf dem er sitzt. Kann man, muss man aber nicht.

Ralph Weber ist Professor für European Global Studies an der Universität Basel. Er forscht unter anderem zur globalen Einflussnahme und Machtpolitik des chinesischen Parteistaats.

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Jürg Häusermann

Das Hauptproblem liegt darin, dass der "Westen" andauern imperativ seine Werte in die ganze Welt zu exportieren versucht. Wer nicht spurt, wird sanktioniert/boykottiert/gedroht. Ergebnis: die USA ist in ganz Lateinamerika, eigentlich in sehr vielen Ländern, verhasst, der "Westen" ebenso im arabischen Raum, gut zu sehen an der WM in Katar, wo alle "westlichen" Teams bei Spielen gegen z.B. Marokko ununterbrochen ausgepfiffen werden. In Afrika werden immer mehr westliche "Schutztruppen" nach Hause geschickt. Demokratie hat dort wenig Fuss gefasst. Fazit: die westliche Expansion muss stoppen. Kein Wandel durch Handel, Handel reicht. 

Rudolf Wildberger

Wenn der Westen oder liberale Staaten "Wandel durch Handel" oder über wirtschaftliche und politische Kontake moralischen Druck aufbauen will überschätzt die Einflussmöglichkeiten gewaltig. 1989 neach dem Ende der Geschichte konnte der Westen / die USA vor Hegemonibewustsein kaum gehen. Russland war Pleite, China nur ein billiger Hersteller von Hightech und Indien war noch nicht auf dem Radar. Arroganz macht dumm. Putinversteher war und ist ein Schimpfwort. Wer seinen Widersacher nicht verstehen will muss sich nicht wundern, wenn er von der Zeitenwende überrumpelt wird. Dasselbe gilt gegenüber China. 2000 Jahre Geschichte kann man nicht mit dem moralischen Zeigefinger wegwedeln, Das ändert nichts an den Machtverhältnissen und Einflussmöglickeiten. Gier macht dumm wie der Ausverkauf von Hightechfirmen mit deren Fähigkeiten nach China zegt. Nicht das Seidenstrassenprojekt ist das Problem, sondern die einseitige Abhänigkeit. Der Fisch sieht den Wurm und schluckt die Angel.

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