So fallen Diktaturen: Was eine Revolution erfolgreich macht

In verschiedenen autokratisch regierten Ländern geht die Bevölkerung derzeit auf die Strasse und macht ihrer Wut über die repressive politische Führung Luft. Optimisten könnten meinen, vielleicht ist 2022 das Jahr, in dem die Menschheit sich endlich von Diktaturen befreit. Doch ganz einfach ist es nicht, ein autokratisches Regime zu Fall zu bringen.

Damita Pressl, Pascal Burkhard
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Historisch gesehen fallen die meisten Diktaturen durch einen Putsch oder einen Machtwechsel an der Spitze. Doch in den letzten Jahrzehnten spielen Massenbewegungen eine immer grössere Rolle. Wenn man sich diese Massenbewegungen genauer anschaut, fällt etwas Spannendes auf: Wie friedlich eine solche Bewegung ist, beeinflusst massgeblich deren Erfolgschancen.

«Die gesamte Forschung hat bisher gezeigt, dass friedliche Aufstände und Massenbewegungen eine viel höhere Wahrscheinlichkeit haben, ein solches Regime zu stürzen», sagt der Politikwissenschafter Christoph Stefes. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, was es braucht, damit Diktaturen zu Fall kommen. Und was er sagt, zeigt sich auch in den Daten: Historisch gesehen sind friedliche Aufstände im Schnitt doppelt so häufig erfolgreich wie gewaltsame.

«Wenn es tatsächlich zu bewaffnetem Widerstand kommt, erhöht das viel eher die Möglichkeit des Regimes, die Repression gegen die Bevölkerung zu rechtfertigen», so Stefes. Geht ein Regime gegen friedliche Zivilisten oder Bewegungen gewaltsam vor, dann schafft es Märtyrer. So wie im Fall Mahsa Amini. Aber, so Stefes: «Im Prinzip ist jeder Nachbar, den das Regime wegsperrt oder tötet, auch ein Märtyrer für die nähere Umgebung. Da geht es um mehr, als um eine einzige Person».

Der zweite Faktor, durch den eine Diktatur Stabilität verliert: Wenn die Legitimation des Regimes wegbricht. Das sieht man derzeit etwa in China: Dort hat die Bevölkerung die Repressionen lange hingenommen, weil sie im Gegenzug vom starken Wirtschaftswachstum profitieren konnte.

«Jetzt haben wir Covid, und auf einmal gibt es dieses Wirtschaftswachstum nicht mehr», erklärt Stefes. «Es geht gar nicht so sehr darum, dass die Menschen zu Hause bleiben müssen. Es geht wirklich darum, dass das Wirtschaftswachstum in China so stark eingebrochen ist und somit der soziale Kontrakt von der chinesischen Führung gebrochen wurde.»

Der dritte Punkt betrifft die Eliten. Sie sind ein wesentlicher Stabilitätsfaktor für Diktaturen. Wenn sie zumindest teilweise umdenken oder wegbrechen, steigen die Chancen auf einen Systemwechsel. Dabei ist hilfreich, wenn die Elite eine Exit-Option hat, das heisst, entweder zur Opposition wechseln kann oder einen anderen Ausweg hat. In China zum Beispiel ist die Macht sehr konzentriert und die Eliten sehr vernetzt – schlechte Voraussetzungen also: «Was wir in China auch sehen, gerade mit der Machtkonzentration im Staatspräsidenten: Die Möglichkeit, dass das Regime von innen zerfällt, ist sehr unwahrscheinlich. Das würde ich eher in Iran sehen».

Der vierte Punkt: Eine erfolgreiche Massenbewegung muss von einer möglichst breiten Basis getragen werden. Je mehr Menschen aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten mitmachen, desto erfolgreicher die Bewegung. Stefes: «Wir haben das sehr schön gesehen, etwa, als Milosevic gestürzt wurde, im Prinzip durch den Protest von Studenten, der sich immer weiter ausgeweitet hat. Das Wichtige daran war, dass es dezentral organisiert wurde. Man konnte der Bewegung nicht den Kopf abschlagen, weil es zu viele Köpfe gab. Das ist, glaube ich, der Schlüssel.»

Irgendwann, wenn genügend Menschen aus genügend Bevölkerungsgruppen mitmachen, erreicht die Bewegung sozusagen einen «Kipppunkt» – und das ist der letzte Faktor. In der Wissenschaft kann man diesen Kipppunkt sogar ziemlich genau definieren, nämlich mit der sogenannten 3,5%-Regel. Die besagt: Eine Bewegung, die es schafft, 3,5% der Bevölkerung zu mobilisieren, hat sehr gute Erfolgschancen – denn eine solche ist historisch noch nie gescheitert. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die People Power Revolution auf den Philippinen. Schätzungsweise 2 Millionen Menschen sind damals aus Protest gegen den Diktator Ferdinand Marcos auf die Strasse gegangen - umgerechnet 3,6% der Bevölkerung. Nach vier Tagen ist der Diktator ins Exil geflüchtet. In China und in Iran weiss niemand so genau, wie viele Menschen es nun tatsächlich sind, die auf die Strasse gehen. 3,5% klingt jedenfalls erst mal nach wenig, wären in Iran aber knappe 3 Millionen Menschen.

Wenn Protestbewegungen tatsächlich zu einem Systemwechsel führen, dann in den meisten Fällen dank einem Zusammenspiel dieser fünf Faktoren: «Friedlichkeit», «Legitimationsverlust», «Umdenken der Eliten», «Breite Basis» und «Erreichen eines Kipppunkts». Aber selbst wenn eine Protestbewegung ein autokratisches System erfolgreich absetzen kann, ist das Ziel in den meisten Fällen noch nicht erreicht. Dass danach eine Demokratie kommt, ist nämlich dadurch noch nicht garantiert: «Es sind schwierige Transitionen, die da stattfinden. Die führen erst mal nicht dazu, dass es den Leuten besser geht. Das dauert zehn, 20 oder 30 Jahre, bis die Demokratien ihre positiven Wirkungen zeigen. Dazwischen sind Demokratien relativ anfällig für einen Rückfall zur Autokratie.»

Was all das für Länder wie China oder Iran bedeutet, ist trotz allem unsicher. Die Pressefreiheit ist dort so stark eingeschränkt, dass niemand genau weiss, welches Ausmass die Proteste tatsächlich haben.