Kommentar

Autokraten sind gut für die Entwicklung? Dieser Mythos hat sich endgültig erledigt

Der «starke Mann» fasziniert: Er gilt als anpackend und fähig, kraft seiner Taten. Dabei versteckt er sich meist hinter einer Fassade der Manipulation und Verlogenheit. Dies zeigt auch die Beleuchtung autoritärer Länder in der Nacht. Diese Systeme sind deshalb fragil.

Gerald Hosp 161 Kommentare
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Autokraten unter sich: Russlands Wladimir Putin und Chinas Xi Jinping.

Autokraten unter sich: Russlands Wladimir Putin und Chinas Xi Jinping.

Mikhail Klimentyev / Reuters

So war das nicht geplant. Zwar könnte die Wirtschaftsleistung Russlands laut den Ökonomen des Internationalen Währungsfonds in diesem Jahr um 3,4 Prozent zurückgehen. Damit wäre das Land die einzige grosse Volkswirtschaft mit einer Abnahme der Wirtschaftskraft. Gleichzeitig aber hat sich die Prognose für die russische Wirtschaft wie für kein anderes Land gegenüber der Vorhersage im Juli verbessert – um nicht weniger als 2,6 Prozentpunkte.

Zudem ist der jetzt prognostizierte Rückgang weit von der Einbusse von 10 Prozent für das russische Bruttoinlandprodukt entfernt, die noch zu Beginn des Angriffs auf die Ukraine von einigen Ökonomen geschätzt worden war. Und dies trotz der immensen Sanktionswelle, die der Westen auf Russland losgelassen hat.

Kein mühsames politisches Theater

Selbst die grössten Verfechter der Wirtschaftsmassnahmen räumen ein, dass die russische Zentralbank sehr geschickt und kompetent agiert, um eine Finanz- und Wirtschaftskrise im Land abzuwehren. Zuweilen schwingt dabei auch eine Art Bewunderung für autokratische Strukturen mit: Kein mühsames politisches Theater, wie in Demokratien üblich, lenke davon ab, ein klares Ziel zu erreichen, heisst es dann.

Fast schon Verzückung lösen asiatische Wachstumsdiktaturen aus, die wie in China lange Zeit die hohen Erwartungen an das Wirtschaftswachstum beinahe auf die Kommastelle genau erfüllten. Demgegenüber suhlen sich manche westliche Schwarzseher in Schilderungen, wie kurzsichtig und verblendet demokratische Politiker seien. Dies lässt sich nicht immer von der Hand weisen. Das jüngste Beispiel ist das Regierungschaos im Vereinigten Königreich, das sich gerne als Mutterland einer modernen Demokratie sieht.

Despoten neigen zur Übertreibung

Demokratien sollten ihre Errungenschaften jedoch ins rechte Licht rücken. Und dies ist wörtlich gemeint. Denn Autokraten lügen mitunter, wenn es um ihre Wachstumszahlen geht. Der Ökonom Luis Martínez schaut dabei auf etwas, das man nicht fälschen kann: Er verwendet Satellitenbilder, die die Beleuchtung von Ländern in der Nacht messen. Dies kann als Massstab für die wirtschaftliche Entwicklung von Ländern verwendet werden. So ist frappant, wie dunkel Nordkorea und wie hell Südkorea in der Nacht ist.

Nordkorea ist in der Nacht dunkel, und Südkorea ist hell: Satellitenbilder werfen Licht auf die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung dieser zwei Länder.

Nordkorea ist in der Nacht dunkel, und Südkorea ist hell: Satellitenbilder werfen Licht auf die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung dieser zwei Länder.

Nasa / Imago

Martínez vergleicht die ausgewiesenen Zahlen zum Bruttoinlandprodukt mit der Intensität der Beleuchtung eines Landes und kann dadurch herausfinden, ob ein Land womöglich sein offiziell angegebenes Wirtschaftswachstum aufbläht. Wenn die Länder nach ihrer politischen Verfassung eingeteilt werden, ergibt sich ein klares Bild: Autokratien neigen im Vergleich mit Demokratien dazu, ihr jährliches Wirtschaftswachstum um gut ein Drittel zu übertreiben.

In beiden politischen Systemen gibt es Anreize, sich besser darzustellen. Der Unterschied ist: In Autokratien ist dies leichter möglich, weil die Kontrolle durch Öffentlichkeit und Medien fehlt und weil auch Untergeordnete zu diesem Mittel greifen, um die Vorgaben des Autokraten ganz oben zu erfüllen.

Ursache und Wirkung

Auffällig ist auch, dass Autokraten eher das «richtige» Wirtschaftswachstum ausweisen, solange das Land unter einer bestimmten Schwelle liegt und deshalb Entwicklungsgelder fliessen. Ist die Schwelle einmal überschritten, schnellt das Wirtschaftswachstum wie von Zauberhand gesteuert nach oben. Wenn die Zahlen um diesen Lügenfaktor korrigiert werden, bleibt beispielsweise das chinesische Wachstum immer noch beeindruckend, aber deutlich weniger als vorher. Der Abstand zur wirtschaftlichen Entwicklung Indiens schwindet dadurch beträchtlich.

Dies wirft auch ein neues Licht auf die alte Diskussion, wie wirtschaftlich erfolgreich undemokratische Länder sind. In der ökonomischen Literatur stellte vor wenigen Jahren eine einflussreiche Studie fest, dass Demokratie einen positiven Effekt auf die Wirtschaftsleistung pro Kopf habe. Diese Frage bleibt heiss diskutiert, weil Ursache und Wirkung nicht so klar sind. Führt Demokratie zu mehr Wachstum oder umgekehrt? Singapur und China sind Beispiele für eine – zumindest lange Zeit – erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung mit der «harten Hand».

Zuflucht zu inneren und äusseren Feinden

Aber für jede Autokratie, die schnell gewachsen ist, gibt es mehr als genug undemokratische Länder, die daran gescheitert sind. Hingegen sind die meisten reichen Staaten Demokratien – ausgenommen diejenigen, deren Wohlstand auf Bodenschätzen beruht. Demokratisch regierte Länder investieren mehr in die Ausbildung der Bevölkerung und in das Gesundheitswesen. Sie sind besser darin, für wirtschaftliche Stabilität zu sorgen. Autoritäre Regime aber führen häufig zu einem wirtschaftlichen und politischen System, das fragil ist.

Der lange Atem der Demokratie

Bruttoinlandprodukt pro Kopf, umgerechnet in Dollar von 2011
Russland
China
Polen
Indien
1
Fall der Berliner Mauer
2
Auflösung der Sowjetunion
3
Putin wird russischer Präsident
4
China tritt der Welthandelsorganisation (WTO) bei
5
EU-Beitritt Polens
6
Xi Jinping wird Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas
7
Annexion der Krim / Einbruch des Erdölpreises

Dies kollidiert mit dem Mythos, autoritäre Herrscher seien kompetent. So wird dem Kreml-Herrscher Wladimir Putin zugebilligt, wie ein guter Schachspieler die Züge seiner Kontrahenten vorherzusehen. Aber nicht nur die absurde Aussage, im gegenwärtigen Krieg gegen die Ukraine laufe alles nach Plan, kratzt an diesem Image. Seit mehr als zehn Jahren stagniert die russische Wirtschaft. Zuvor war sie auf dem Rücken eines Rohstoffbooms gewachsen. Der Aufbau einer diversifizierten Wirtschaft ist nicht gelungen. Die Entwicklung des EU-Mitglieds Polen zeigt auf, welch langen Atem demokratische Länder gegenüber der Rohstoffmacht Russland haben.

Als der derzeitige Staats- und Parteichef Xi Jinping die Macht in China übernahm, blickte das Land auf eine lange Periode anhaltend hohen Wachstums. Dieses hat sich abgekühlt. Der Nimbus der vorausschauenden Staatsführung verblasst seitdem angesichts der einschnürenden Null-Covid-Politik, der wirtschaftlichen Schwächezeichen und des harzigen Vorankommens der Seidenstrassen-Initiativen. Es verwundert wenig, dass sowohl Xi als auch Putin sich auf innere und äussere Feinde konzentrieren.

Manipulation der Information

Beide Autokraten pflegten lange Zeit das Image eines kompetenten Herrschers. Die Ökonomen Sergei Guriew und Daniel Treisman argumentieren, dass in den vergangenen Jahrzehnten ein neuer Typus eines autokratischen Herrschers entstanden sei: Statt Angst und Schrecken zu verbreiten, manipuliert dieser die Information, indem das Schweigen der Elite gekauft, zensiert und Propaganda verbreitet wird. In einer globalisierten Welt mit ihren Wohlstandsgewinnen führt die Abnabelung eines Landes wie unter einer «alten» Diktatur zu hohen Kosten. Besser ist es, mithilfe eines unechten Pluralismus Kompetenz zu vermitteln und Wirtschaftswachstum zu unterstützen.

Ökonomischer Erfolg kann aber einen Autokraten aus der Bahn werfen: So fordert eine neue, gut ausgebildete Mittelschicht in der Regel mehr politische Rechte. Verstärkte Propaganda, Zensur und Betrügereien wie bei den Wachstumszahlen helfen, die Wucht der Forderungen abzudämpfen – aber wohl nicht für immer. Aber auch das Gegenteil, wenn der wirtschaftliche Erfolg nachlässt, ist für das Regime gefährlich. Eine mögliche Antwort für einen Autokraten ist es, wieder die Schrauben der Repression anzuziehen.

Die Alarmglocken sollten auch läuten, wenn ein Herrscher die Verfassung ändert, damit er noch länger im Amt bleiben kann. Dies ist ein Eingeständnis dafür, dass die potemkinsche Demokratie oder staatliche Institutionen am Ende sind. Dadurch wird es für einen Autokraten auch schwieriger, leistungsbereite Schichten in der Bevölkerung anzusprechen, weil sich für diese die Zukunft einengt.

Wenig attraktive Visionen

Die Manipulation der Information und die Repression haben zudem eine fatale Folge: Der Autokrat kann schwer einschätzen, wie die Stimmung in der Bevölkerung tatsächlich ist. Dies öffnet Tür und Tor für Fehler des Regimes, das sich noch mehr in die Verlogenheit retten muss. Demokratien können schon damit punkten, dass Autokratien häufig inkompetent sind. Dies sollte sich langsam herumgesprochen haben. Die Illusionen gegenüber totalitären Systemen haben aber Tradition: So wurde bereits das Wachstum der Sowjetunion zwischen 1960 und 1980 zur Zeit des Kalten Krieges in amerikanischen Lehrbüchern überschätzt.

Gegenwärtige Autokratien verströmen auch wenig attraktive Visionen: sei es ein islamischer Gottesstaat, sei es eine revanchistische Militärmacht, die sich als Bollwerk zur Verteidigung eines zur Farce verzerrten Konservativismus versteht, sei es ein Techno-Totalitarismus. Was Potentaten gerade in ihrem Angebot haben, ist abschreckend. Für liberale Demokratien reicht es aber nicht, sich einfach darüber zu definieren, wogegen man ist. Vielmehr sollten die eigenen Grundlagen der demokratischen Wahlen, der Rechtsstaatlichkeit, der Marktwirtschaft und der Meinungsfreiheit nicht untergraben werden. Zudem gilt es klarzumachen, wie eine demokratische Welt auszusehen hat. Die Demokratie hat genug Licht, sie muss nur heller scheinen.

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161 Kommentare
B. S.

"Der Autokrat kann schwer einschätzen, wie die Stimmung in der Bevölkerung tatsächlich ist." Sicherlich nicht falsch, aber versteht die EU seine Bevölkerung besser? Und wenn nicht, ist sie auch eine Autokratie, welche von technokratischen Bürolisten geführt wird? Hat die deutsche Regierung ihre Bevölkerung verstanden? Wollen die Mehrheiten eine grüne Wahnsinnspolitik, wollen die Mehrheiten auf Batterien herumfahren und damit ihr industrielles Rückgrad zerstören? Also ich weiss nicht so recht. Aktuell scheinen die indirekten Demokratien mit abgehobenen Politikern auch nicht zu überzeugen. Was nicht heisst, dass Autokratien zu fördern wären, aber heisst, dass wir vor unserer Türe kehren müssen.

Dimitrios Papadopoulos

Nur die freie Marktwirtschaft generiert nachhaltig Wohlstand für alle, die sich daran beteiligen wollen. Und sie kann nur in einem Rechtsstaat existieren, in dem die Information frei fliesst und die Gesetze auf demokratischem Konsens beruhen.