Gastkommentar

Die Welt braucht nicht nur ein Russland ohne Putin – die Welt braucht ein Russland ohne imperiales Bewusstsein

Wer meint, das Problem Russland heisse Wladimir Putin, verkennt, dass Autoritarismus und Rassismus tief im Selbstbild der Russen als auserwählte imperiale Macht verankert sind. Soll Russland jemals ein normales Land werden, muss dieser Brandherd ausgemerzt werden.

Sergei Lebedew 178 Kommentare
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Russland hat erneut, nach mehreren Jahren eines eingefrorenen Krieges, offen die Ukraine überfallen. Es sind Tage der Schande. Die schwärzesten Tage unserer Geschichte. Der Angriff, vor dem gewarnt wurde, kam dennoch überraschend. Aber das Gift der Feindseligkeit war lange gereift.

Viele sagen jetzt, allein Präsident Putin sei verantwortlich, und die Russen seien mehrheitlich gegen den Krieg, obwohl sie Angst hätten, es offen zu zeigen. Möglicherweise ist ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft tatsächlich gegen den Krieg – zuvörderst aus vernunftgesteuerten, egoistischen Überlegungen. Das aber beantwortet nicht die Frage, wie dieser Krieg möglich wurde: politisch und psychologisch.

Die Frage nach dem russischen, postimperialen Rassismus. Dieser war und ist die Grundlage und der Treibstoff für Putins aggressive Aussen- und Innenpolitik. Und er wird auch mit Putins Abgang nicht von allein verschwinden.

Die Russische Föderation ist ein multinationales Land. Die Russische Föderation ist ein rassistisches Land.

Gesichter des «Bösen»

Es ist ein tief in unserem Bewusstsein und unserer Kultur, in Sprache und Denkungsart wurzelnder, niemals ausgemerzter postimperialer Rassismus, der nicht eine, nicht zwei, sondern Dutzende von Nationen beherrscht, die als Objekte eine vielgliedrige und bewegliche chauvinistische Hierarchie bilden.

Mitte der neunziger, Anfang der nuller Jahre, als Russland in Tschetschenien Krieg führte, zielten die rassistischen Stimmungen auf Menschen aus dem Kaukasus. Es gab sogar einen halboffiziellen Begriff, eine beständige Redewendung, die wie aus einem stümperhaft aufgesetzten Polizeiprotokoll klang: «PKN», Person kaukasischer Nationalität.

Die Russische Föderation ist ein multinationales Land. Die Russische Föderation ist ein rassistisches Land.

Diese «Person kaukasischer Nationalität», ein Kollektivbild, wurde zur Zielscheibe des alltäglichen Nationalismus, der sich vom Gerede über die Bedrängung «weisser», schlecht organisierter Russen durch «dunkelhäutige» Gebirgler nährte. Die staatlich gelenkte Propaganda versuchte in ihrer Rechtfertigung des Krieges in Tschetschenien nun diese «Person kaukasischer Nationalität» zum Gesicht des Feindes, des Eindringlings, des Terroristen zu machen; zum Typus des Bösen.

Dann, in den fetten Jahren der Putin-Herrschaft, als Tschetschenien endgültig besetzt war, kamen zahlreiche Arbeitskräfte aus den zentralasiatischen Staaten nach Russland, um Geld zu verdienen: aus Tadschikistan, Usbekistan, Kirgistan und anderen Staaten. Mit Unterstützung der Populärkultur entstand ein weiterer rassistischer Typus, der leider bis auf den heutigen Tag in Russland sehr verbreitet ist.

Nun war es das «Gelbgesicht», «der Asiate», der exemplarische «Dshamschut» [Figur eines tadschikischen Gastarbeiters aus einer russischen Fernsehsendung. Anm. d. Ü.]. Er ist schmutzig und ungebildet, aber clever, ein Mensch zweiter Klasse, der den unerwartet reich gewordenen, weissen Herren zu dienen hat. Das frühe Putin-Russland strotzte vor Geld, es kam zu einem Bauboom, und für die Baufirmen war es profitabel, rechtlose Arbeiter mit einem Hungerlohn auszubeuten, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen sich kaum von denen in der Sklaverei unterschieden.

Die beiden Beispiele zeigen eine Art von Rassismus, die auf einer klaren Gegenüberstellung von «wir» und «ihr», den Anderen, Gefährlichen oder Zweitklassigen beruht.

Die beiden niederen Brüder

Hinsichtlich der Völker von Weissrussland und der Ukraine gibt es eine andere Art von Rassismus. Dieser Rassismus basiert auf einem paternalistischen Modell, auf dem sowjetischen Ethos der «Völkerfamilie». Weissrussen und Ukrainer gelten als nahestehende, «brüderliche» Nationen, die gleichwohl in dieser vermeintlichen Familienhierarchie eine Stufe tiefer stehen; wie Russen sind, aber niedriger; jünger sind als sie; nicht völlig souverän. Und die Anciennität gebührt den Russen.

Bei einer genauen Untersuchung der politischen Kultur und der sozialen Vorurteile kommt man auf Dutzende weiterer rassistischer Narrative in Bezug auf die Nationen aus dem Bestand der Russischen Föderation. Obwohl russische staatsfreundliche Historiker und notorische Propagandisten gern wiederholen, Russland habe die Territorien «friedlich eingenommen», ist dieser mannigfaltige Rassismus eine direkte Folge der russischen imperialen Geschichte und Kolonialpolitik, eine Geschichte der Gewalt, der Russifizierung, der im heutigen Russland kaum bekannten Kriege, die ein Instrument der Kolonialisierung waren.

Siebzig Jahre lang postulierte das Sowjetsystem «Völkerfreundschaft» und Gleichberechtigung der Nationen. In Wirklichkeit gab es Besetzungen, zahlreiche Deportationen ganzer Völker, die Unterdrückung nationaler Unabhängigkeitsbewegungen, eine grösstmögliche Ermutigung zu Kollaboration und zum Verzicht auf eine nationale Identität zugunsten der «sowjetischen», die vorgeblich übernational war. Dieses repressive Instrumentarium hatte indes keine Spezifizierung für das sowjetische, kommunistische Projekt.

Wohl kaum findet sich im heutigen Russland in der Bevölkerung eine Mehrheit, die die kommunistische Ideologie zurückhaben möchte. Diese Ideen sind tot. Der postimperiale Rassismus jedoch ist durchaus lebendig. Und selbst eine vollgültige Dekommunisierung und Bestrafung sowjetischer Staatsverbrechen, die in Russland nicht stattgefunden hat, würde nur einen Teil des Problems lösen und beseitigen.

Infrage gestellt werden müssen nicht nur die sowjetische totalitäre Vergangenheit Russlands, sondern auch das historische Modell seiner staatlichen und nationalen Struktur selbst, dieses monologische Modell, das von einem Zentrum ausgeht, wo die Macht sitzt und Entscheidungen getroffen werden, sowie von Regionen, die de facto keine Subjekte, sondern Objekte der Föderation sind, die über keinerlei Rechtssubjektivität verfügen und denen lediglich eine gewisse dekorative Autonomie auf dem Gebiet von Sprache und Kultur gelassen wird.

Selbstverständlich ist die Realität komplizierter, aber das Hauptprinzip, Putins berüchtigte «Machtvertikale», bleibt davon unberührt. Diese erstreckt sich kraft historischer Tradition weit über die heutigen Grenzen Russlands hinaus.

Autoritarismus und Rassismus

Die politische Führung Russlands betrachtet die Ukraine nicht als Subjekt mit einer eigenen Geschichte. In seiner langen Rede zur Begründung des Krieges erteilt Wladimir Putin den Ukrainern nicht nur unaufgefordert historische Lektionen. Ganz im Einklang mit der russischen imperialen Logik verweigert er der Ukraine das Recht, Ukraine zu sein.

Gemeint ist hier nicht nur die staatliche Unabhängigkeit. Es geht um die Nation als solche. Das ist ein schrecklicher Rückfall in den postimperialen Rassismus, für den es auf dem Territorium, das Putin historisch als zu Russland gehörig betrachtet, nur untergeordnete, zweitrangige Nationen gibt, mit denen kein Dialog geführt wird und keine nachbarschaftlichen Beziehungen aufgebaut werden. Sie werden bevormundet oder erhalten Befehle. Ihr Schicksal schreiben andere für sie.

Leider muss man davon ausgehen, dass diese «Geisteshaltungen» in unterschiedlichen Abstufungen von einem erheblichen Teil der Bevölkerung der Russischen Föderation geteilt werden, sei es bewusst oder unbewusst. Dabei geht es nicht um eine konkrete Ideologie, die gerade wegen ihrer Konkretheit leichter zu bekämpfen wäre. Gemeint sind bestimmte Einstellungen, eine Art Bewusstseinsschnittstellen, zu denen verschiedene Ideologien passen, denen versteckt oder offensichtlich Autoritarismus und imperialer Rassismus innewohnen.

Hier liegt ein offenkundiges Paradoxon vor, denn ein erheblicher Teil der russischen Bevölkerung besteht aus Menschen nichtrussischer Nationalität. Das Paradoxon wird, wie ich finde, jedoch durch die Tatsache aufgehoben, dass der heutige Bewohner der Russischen Föderation ein Mensch ist, der vom Imperium «verdaut» wurde. Er ist das Produkt einer klar definierten nationalen und kulturellen Politik, ihm fehlt es an historischen Koordinaten, er ist verwaist und abhängig, er ist gewohnt an das Recht des Stärkeren, an die Demütigung seiner selbst und anderer.

Selbstverständlich sollte ein Gespräch über historische Wurzeln, über die politische Rolle des Nationalismus behutsam und unter Berücksichtigung der Katastrophen und Nöte des 20. Jahrhunderts geführt werden. Aber genau diese angemessene Vorsicht nutzt Wladimir Putin aus, wenn er auf die «Entnazifizierung» der Ukraine zu sprechen kommt, während Kreml-Propagandisten von «ukrainischen Faschisten» schwadronieren. Gesunde Zweifel können und dürfen das Wesen der Ereignisse nicht verdunkeln: Es ist die Russische Föderation, die als Aggressor auftritt, der es auf die nationale Souveränität der Ukraine abgesehen hat und die Ukraine paternalistisch als jüngeren Bruder darstellt, dem eine blutige Lektion in Gehorsam erteilt werden muss.

Die Frage der Vergebung

Und selbst bei einer bestmöglichen Entwicklung in der Zukunft, wenn das Putin-Regime implodiert, bleibt die Frage: Was ist zu tun gegen diesen postimperialen Rassismus, mit dem das Staatswesen, die Politik und das Leben in Russland in einem Masse durchdrungen sind, dass er von innen heraus gar nicht mehr wahrgenommen wird? Es wäre naiv, zu glauben, dergleichen würde sich durch Marktwirtschaft und demokratische Prozedere von selbst regulieren.

Der russische Krieg gegen die Ukraine stellt auch einen moralischen und humanitären Bankrott der russischen Kultur dar. Einer Kultur, deren beste Vertreter, von Dostojewski und Bulgakow bis Solschenizyn und Brodsky, in grosser Zahl infiziert waren vom Virus der Imperialität, von der Vorstellung einer «Anciennität» der russischen Sprache und ihrer Sonderrechte. Jetzt, wo die Wörter «russisch» und «russländisch» für viele Jahre mit Aussatz behaftet sein werden, müssen wir Russen, wenn wir zumindest in der Theorie die Voraussetzungen dafür schaffen wollen, dass Russland ein ungefährlicher Nachbar wird, unsere Kultur, unsere Geschichte, unsere politische Struktur von Grund auf umdenken.

Die Welt braucht nicht nur ein Russland ohne Putin. Die Welt braucht ein Russland ohne imperiales Bewusstsein.

Daher bitten viele meiner russischen Bekannten und Freunde die Ukrainer um Vergebung. Ich denke aber, es ist zu früh, um um Vergebung zu bitten. Wir, die Bürger Russlands, haben dazu noch kein Recht. Rechte entstehen erst, wenn die Verbrecher in der Regierung, die heute unser Land beherrschen, vor Gericht gestellt worden sind und ihre verdiente Strafe bekommen haben.

Und wenn ihnen diese Strafe nicht zuteilwird, gibt es für uns auch keine Vergebung.

Sergei Lebedew, Jahrgang 1981, gehört zu den massgeblichen Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur. – Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. Zuletzt ist 2012 bei S. Fischer der Roman «Das perfekte Gift» erschienen.

Aufruf ukrainischer, russischer, weissrussischer sowie internationaler Schriftsteller gegen Putins Aggressionskrieg gegen die Ukraine

«Als Schriftsteller wenden wir uns an alle, die heute die russische Sprache sprechen. An die Menschen aller Nationalitäten. An diejenigen, die Muttersprachler sind. An diejenigen, für die Russisch die zweite oder dritte Sprache ist. Das spielt jetzt keine Rolle. Heute wird die russische Sprache vom russischen Staat benutzt, um den Hass zu schüren und den schändlichen Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Die offiziellen Medien wiederholen auf Russisch alle Lügen, die diese Aggression vernebeln sollen. Die russische Bevölkerung wird seit vielen Jahren mit Lügen gefüttert. Die unabhängigen Informationsquellen sind fast vollständig zerstört worden. Die Oppositionsführer wurden zum Schweigen gebracht. Die staatliche Propagandamaschine arbeitet mit aller Kraft.

Aber jetzt ist es wichtig, den russischen Bürgern die volle Wahrheit über die russische Aggression gegen die Ukraine zu offenbaren. Über das Leiden und die Verluste des ukrainischen Volkes. Über Zivilisten, die angegriffen und getötet werden. Über die Gefahr für den gesamten europäischen Kontinent. Und – angesichts der nuklearen Bedrohung – möglicherweise für die gesamte Menschheit.

Sie teilen ihre Sprache. Das ist wichtig. Bitte nutzen Sie alle möglichen Kommunikationsmittel. Erreichen Sie die Menschen, die Sie kennen. Erreichen Sie die Menschen, die Sie nicht kennen. Sagen Sie die Wahrheit. Wenn Wladimir Putin blind und taub ist, werden die Russen vielleicht auf diejenigen hören, die dieselbe Sprache sprechen. Dieser ungerechte Krieg muss gestoppt werden.»

Unterzeichnet von: Wladimir Sorokin, Swetlana Alexijewitsch, Dmitri Gluchowski, Ljudmila Ulitzkaja, Marija Stepanowa, Sergei Lebedew, Michail Schischkin, Lew Rubinstein, Wiktor Schenderowitsch, Liza Alexandrowa-Zorina, Sasha Filipenko, Wiktor Martinowitsch, Alissa Ganijewa, Maxim Ossipow, Alexander Genis, Alexander Ilitschewski.

Sowie von: Herta Müller, Elfriede Jelinek, Olga Tokarczuk, Mathias Énard, J. M. Coetzee, Nuruddin Farah, Pankaj Mishra, Juan Gabriel Vazquez, Ilija Trojanow, Amir Hassan Cheheltan, Christoph Hein, Georgi Gospodinov

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M. V. C.

Sergei Sergejewitsch, Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie dankbar ich für Ihren Beitrag bin! Es kostet mich schon immer so viel Kraft und Vernunftanstrengung, meine Angewidertheit vom russischen Autoritarismus, von dem der Imperialismus ja nur die Außenwendung ist, nicht in einen Hass auf „den Russen an sich“ umkippen zu lassen. Das wäre so einfach und so naheliegend und so falsch. Ich muss mir immer sagen, es muss sie doch geben, die Russen, die das selber wissen, die selber darunter leiden. Es gab doch auch, ohne damit eine billige Gleichsetzung machen zu wollen, das andere Deutschland in den Jahren, als es mundtot gemacht war. Und wie wichtig war für uns doch jeder, der den Glauben an dieses bessere Deutschland nicht fallenließ. Nun, da ist es, das andere Russland, das sich selbst ganz genau versteht. Besser als Sie kann man die russische Misere gar nicht beschreiben. Und da ist das Russland, das man lieben kann, wenn es sich nur endlich häuten wollte! Es tut mir so leid, dass der Weg aus diesem Denken so unendlich mühsam ist, und dass Putin das russische Volk noch einmal so grausam zum Täter machen konnte, und dass Leute, die Ihren Blick haben, im Moment so auf verlorenem Posten zu stehen scheinen. Aber Keime sind immer klein und verstreut. Vielleicht werden wir noch erleben, wie die Saat aufgeht.

michael moller

Das ist ein sehr instruktiver Artikel, der auch für die Zukunft vor einer "Wiederholung der aggressiven, nationalistischen Geschichte mit Ansage" warnt - Sehr lesenswert! Ein grosser Dank an Sergei Lebedew sowie die NZZ, die diesen Kommentar hier veröffentlicht.

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