Der letzte Atemzug des Kapitalismus

Vor 80 Jahren meinte der Ökonom Joseph Schumpeter, der Sozialismus sei nicht mehr aufzuhalten. So ist es zwar nicht gekommen, doch der Wunsch, Konzerne für gesellschaftliche Ziele zu instrumentalisieren, ist geblieben.

Sergio Aiolfi
Drucken
Den Ökonomen Joseph A. Schumpeter kennt man vor allem für seine Metapher von der schöpferischen Zerstörung.

Den Ökonomen Joseph A. Schumpeter kennt man vor allem für seine Metapher von der schöpferischen Zerstörung.

Ullstein

Firmen, die sich im «unablässigen Kampfzustand» befinden, in einem «ewigen Sturm» stehen und «die Wirtschaftsstruktur unaufhörlich von innen heraus revolutionieren» und damit einen «Prozess dauernder Veränderung» auslösen: Diese dramatischen Umschreibungen der Existenz eines Unternehmens stammen von Joseph A. Schumpeter, einem der renommiertesten Ökonomen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Bekannt war Schumpeter vor allem für seine Bewunderung der Schaffens- und Innovationskraft der Entrepreneure. Er wies allerdings auch darauf hin, dass Neuerungen die Tilgung von Altem zur Folge haben, und kreierte so das paradoxe Begriffspaar der «schöpferischen Zerstörung». Jeder Wirtschaftsstudent dürfte diese Wendung – wenn auch sonst nichts – mit dem Namen Schumpeter in Verbindung bringen.

Zu finden sind die zitierten Charakterisierungen von Firmen in Schumpeters bekanntestem Werk, das den Titel «Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie» trägt und im englischen Original vor 80 Jahren in New York publiziert wurde. Der Zweite Weltkrieg stand damals auf dem Höhepunkt, und für Schumpeter, der zwar aus Österreich stammte, die Ereignisse aber von Amerika aus beobachtete, schien ein Epochenwandel unausweichlich.

Er meinte, Indizien erkannt zu haben, die auf ein Ende der freien Marktwirtschaft hindeuten. «Es kann sich sehr wohl herausstellen, dass die Dreissigerjahre der letzte Atemzug des Kapitalismus waren», schrieb er; der Krieg habe diese Wahrscheinlichkeit verstärkt. Und die nächste Stufe der Entwicklung, darin bestand für ihn kein Zweifel, war jene des Sozialismus.

Ein Hoch auf Grosskonzerne

Schumpeters Opus magnum, verfasst in einer barocken Sprache mit verschachtelten Sätzen, mag aus heutiger Sicht antiquiert erscheinen, zumal sich seine Hauptprognose als falsch erwiesen hat. Dennoch war das Buch in vielerlei Hinsicht wegweisend und hat namentlich eine Wirtschaftstheorie begründet, in der den Firmen eine tragende Rolle zukommt. Nach Schumpeters Ansicht wirkten Unternehmen – ohne es zu wollen – nicht zuletzt als Wegbereiter des Sozialismus.

Ihre erste historische Mission bestand jedoch darin, den Wohlstand zu vermehren. Mit neuen, preisgünstigen Massengütern sorgten die kapitalistischen Betriebe dafür, dass auch weniger wohlhabende Schichten in den Genuss einer Lebensstandardverbesserung kamen. Schumpeter pries vor allem die Leistung der Grosskonzerne, die nicht nur mit ihren innovativen Produkten, sondern ebenso mit verbesserten Herstellungsprozessen und effizienteren Organisationsformen zum «kräftigsten Motor des Fortschritts» geworden waren.

Aus dem Gleichgewicht

Dass manche dieser Grosskonzerne – vor allem in den USA – monopolistische Wesenszüge aufwiesen, stellte für Schumpeter kein Problem dar, im Gegenteil. Das Streben nach Marktbeherrschung war es, was die Dynamik des Wirtschaftssystems ausmachte. Allerdings war Schumpeters Monopol-Definition eine etwas andere als jene der Antitrust-Behörden. Seiner Ansicht nach war ein Monopolist jeder, «der irgendetwas verkauft, das nicht genau das gleiche ist, was andere Leute verkaufen». Das Trachten nach Differenzierung schuf so unzählige kleine Monopole mit entsprechenden Preisvorteilen, die allerdings flüchtiger Natur waren; die Mitbewerber stellten sicher, dass der Vorzug höherer Preise nicht lange Bestand hatte.

Die «monopolistische Konkurrenz» sorgte laut Schumpeter für den erwähnten «unablässigen Kampfzustand» zwischen den Firmen und für eine stetige Erneuerung der Wirtschaft. Aus seiner Warte war die von den Neoklassikern verfochtene These der vollkommenen Konkurrenz und der immerwährenden Tendenz zum Gleichgewicht falsch, da sich damit der Prozess der Innovation und des Wachstums nicht erklären liess.

Ende des romantischen Patrons

In dialektischer Weise barg der Erfolg der kapitalistischen Grosskonzerne aber auch den Kern der eigenen Zerstörung. Und diese nahm mit der funktionalen Trennung von Eigentum und Eigentümer – also mit dem sich durchsetzenden Modell der Aktiengesellschaft – ihren Anfang. «Die Gestalt des Eigentümers und mit ihr das spezifische Eigentumsinteresse sind von der Bildfläche verschwunden», schrieb Schumpeter. An die Stelle des Patrons seien «bezahlte Vollzugsorgane» getreten, Direktoren und Unterdirektoren, sowie kleine Aktienbesitzer.

Dies habe zur Folge gehabt, dass die «individuelle Führerschaft, die aufgrund persönlicher Kraft und Verantwortlichkeit nach Erfolg strebte», nicht mehr gefragt sei. Im Unterschied zum Patron seien weder Direktoren noch Aktionäre bereit, für ihre Fabrik «zu kämpfen und wenn nötig auf ihrer Schwelle zu sterben». Die «wahrhaft private» Wirtschaftstätigkeit sei am Ende.

Der Siegeszug der Aktiengesellschaften wies indessen noch eine andere Facette auf. Im Grosskonzern war es nicht mehr der Einzelunternehmer, der mit seiner Intuition und mit unkonventionellen Ideen die Neuerungen vorantrieb. Für die innovativen Impulse waren jetzt Forschungs- und Entwicklungsabteilungen zuständig. Auf diese Weise wurde der Fortschritt verheissende Innovationsprozess entpersonalisiert und automatisiert und der Routine einer «bürokratisierten industriellen Rieseneinheit» unterstellt.

Wehmütig konstatierte Schumpeter: «Die frühere Romantik des geschäftlichen Abenteuers schwindet rasch dahin, weil vieles nun genau berechnet werden kann, was in alten Zeiten durch geniale Erleuchtung erfasst werden musste.»

Alles nach Plan

Das war nun der Punkt, an dem nach der Ansicht von Schumpeter die Entwicklung zwangsläufig Richtung Sozialismus verlaufen musste. War die Funktion des Kapitalisten entbehrlich, war auch der Kapitalismus überflüssig. Und was eine bürokratisierte industrielle Rieseneinheit zustande brachte, konnte eine zentrale Industrieverwaltung mindestens so gut, wenn nicht besser leisten.

Die sozialistische Planwirtschaft, argumentierte Schumpeter, sei dem Kapitalismus überlegen, da sich der Grundplan «auf einer höheren Stufe der Rationalität» bewege. Die Behörde habe den Vorteil, ihre Entscheidungen nicht in Unsicherheit treffen zu müssen. Und tatsächlich: Wenn sich, wie in einem Grosskonzern, die gesamte Volkswirtschaft zentral leiten liesse, sollten sich die Ungewissheiten und Risiken, die mit der Marktwirtschaft verbunden sind, ausmerzen lassen. Die Behörde werde in Zukunft die Funktion des Marktes übernehmen und die Preise der Konsumgüter festlegen, meinte Schumpeter. Dank dem Plan sollte es auch gelingen, Konjunkturzyklen zu überwinden und das Problem der Arbeitslosigkeit ein für alle Mal zu lösen.

Dass «antisozialistische» Ökonomen wie der ebenfalls aus Österreich stammende Friedrich A. Hayek auf die praktische Unmöglichkeit eines solchen Modells hinwiesen, da die Planungszentrale vor einer Aufgabe von unermesslicher Kompliziertheit stünde, fand bei Schumpeter nur in einer Fussnote Erwähnung. Hayeks Buch «Der Weg zur Knechtschaft», das den Machbarkeitswahn der Sozialisten anprangerte und darlegte, dass jede Planwirtschaft notwendigerweise in einer Diktatur enden müsse, erschien erst 1944, zwei Jahre nach «Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie».

Marx lässt grüssen

Schumpeter wehrte sich indessen entschieden dagegen, als Sozialist bezeichnet zu werden. Gleichwohl kannte er die Schriften von Karl Marx genau, und das erste Fünftel seines Buchs ist einer ausführlichen und kritischen Würdigung des Marxschen Werks gewidmet. So überrascht es nicht, dass einige der Ideen, die der sozialistische Denker im 19. Jahrhundert formuliert hatte, Eingang in das Schumpetersche Gedankengebäude gefunden haben.

Die Idee etwa, dass Grosskonzerne den Weg zum Sozialismus ebnen, hatte Marx bereits im Band III des «Kapitals» formuliert, der 1894 postum von Friedrich Engels herausgegeben worden war. Für Marx war, wie später für Schumpeter, entscheidend, dass in den grossen Aktienunternehmen die operative «Verwaltungsarbeit» (das Management) vom Kapitalbesitzer getrennt wurde, wodurch der «Kapitalist als überflüssige Person aus dem Produktionsprozess verschwindet».

Die Firma verlor in Marx’ Sicht so ihren privaten Charakter und wurde zum «Gesellschaftseigentum». Die «kapitalistische Hülle» war für das Funktionieren der Firma nicht mehr nötig; der Betrieb konnte so auch unter sozialistischen Produktionsbedingungen weitergeführt werden.

Die Marx-Schumpeterschen Visionen vom Ende des Kapitalismus haben sich als falsch erwiesen, und das fatale Experiment des «realen Sozialismus» hat die Legitimität der marktwirtschaftlichen Ordnung nur noch erhöht. Wie man heute weiss, haben die kapitalistischen Patrons, sowohl in kleinen wie in grossen Unternehmen, noch lange nicht ausgedient.

Und die Innovationskraft und Produktivität von Grosskonzernen hat in keiner Weise nachgelassen – trotz der «bürokratisierten» Routine der Entwicklungsabteilungen und obschon es kaum mehr Kapitalisten gibt, die bereit sind, auf der Schwelle ihrer Fabrik zu sterben.

Gezähmte Konzerne

Was von den ursprünglichen Visionen dagegen bis zum heutigen Tag Bestand hat, ist der Wunsch nach «Vergesellschaftung» der grossen Unternehmen. Allerdings zielt die Forderung mittlerweile nicht mehr so sehr auf die Verstaatlichung der Betriebe ab. Vielmehr betrachtet man die Unternehmen ganz im Sinne Schumpeters und Marx’ als Instrumente für soziale Veränderungen.

Mit gesetzlichen Vorschriften, Verhaltenskodizes und regulatorischen Bestimmungen sollen sie dazu gebracht werden, sich für gemeinnützige Ziele – Volksgesundheit, Umweltschutz, Konsumentenschutz, Gleichstellung der Geschlechter – einzusetzen. Hinter diesen Vergesellschaftungsbemühungen stehen indessen nicht nur etatistisch gesinnte Vertreter der Linken, sondern, um Hayeks scharfsinnige Widmung im «Weg zur Knechtschaft» zu zitieren, die «Sozialisten in allen Parteien».