Kommentar

Das Zeitalter des westlichen State-Building ist vorbei – es ist keine Erfolgsgeschichte

Nach dem Ende des Kalten Krieges intervenierte der Westen in Bürgerkriegen und «Schurkenstaaten». Mit gewaltigen Mitteln wurde auf Kriegstrümmern der Aufbau funktionierender Staaten versucht. Die Bilanz ist ernüchternd. Weshalb?

Andreas Ernst 50 Kommentare
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Demütigung, Krise, Rückschlag – so bezeichneten Kommentatoren die Folgen des Kollapses des afghanischen Staates für den Westen, für die transatlantischen Beziehungen und die Präsidentschaft Joe Bidens. Das alles trifft zu. Aber das Ereignis im letzten August war mehr: Es ist eine historische Zäsur.

Sie beschliesst eine Ära, die in den 1990er Jahren mit den Interventionen in Somalia und Bosnien begann und 2021 im «Graveyard of Empires» am Hindukusch endete. Es war eine Epoche westlicher Hybris, geprägt von Arroganz und Idealismus. Michael Ignatieff schrieb 2003 von einem «Empire Lite», das auszog, «to make the world safe for civilization». Doch die Interventionen und vor allem das anschliessende State-Building waren nur selten halbwegs erfolgreich. Meist scheiterten sie dramatisch.

Die geopolitische Voraussetzung für die neue Doktrin war der Sieg des Westens im Kalten Krieg. Die Sowjetunion war zerfallen, Russland unter Jelzin geschwächt und der Aufstieg Chinas zu einer Führungsmacht des 21. Jahrhunderts noch nicht absehbar. Die USA waren die «übrig gebliebene» Supermacht, der niemand Paroli bieten konnte: weder der Hard Power ihres Militärs noch der Soft Power ihrer Zivilisation. Unterstützt von westlichen «Koalitionen der Willigen» hatten sie freie Hand.

Die innenpolitische Voraussetzung dafür, dass diese Macht auch mehrfach genutzt wurde, war eine aussergewöhnliche ideologische Konstellation. Von links insistierten «liberale Falken» wie die Demokratin Hillary Clinton für «humanitäre Interventionen», um im Namen der Menschenrechte in die aufflammenden Bürgerkriege der neunziger Jahre einzugreifen. Von rechts betrieben republikanische «Neokonservative» vom Schlage des Verteidigungsministers Donald Rumsfeld den Regimewechsel in «Schurkenstaaten» – und nach dem Schock von 9/11 auch immer öfter die Intervention in «failing states», die als Brutstätten des Terrorismus betrachtet wurden.

Gemeinsam war beiden Denkrichtungen die Überzeugung, die USA seien dank militärischer Stärke, planerischem Sachverstand und finanzieller Potenz in der Lage, fast überall auf der Welt zu intervenieren, um nach militärischen Interventionen staatliche Strukturen aufzubauen, die dem westlichen Vorbild zumindest glichen.

«Nation-Building für Anfänger»

Eine Anleitung zur Umsetzung des «neuen liberalen Imperialismus», wie britische Akademiker die Doktrin nannten, lieferte die Rand Corporation. Der grösste Think-Tank des Landes zog 2007 die Summe aus einer grossen Zahl von Fallstudien. Das Produkt hiess «The Beginner’s Guide to Nation-Building». Sein Ansatz lautet: Je umfassender eine Mission ist, desto zäher ist der Widerstand dagegen. Doch jeder Widerstand kann überwunden werden, wenn ausreichend Personal, Ressourcen und Zeit zur Verfügung stehen.

Nach der Logik eines Rezeptbuches bestimmten die Autoren mit Input-Output-Modellen den angemessenen Mitteleinsatz für eine Intervention. Flussdiagramme zeigen dem «State-Builder», welche Schritte zu welchen Konsequenzen führen. Erfolge werden an Benchmarks gemessen. Das Dokument zeugt von einem technokratischen Machbarkeitsdenken, das sich natürlich nicht ohne weiteres auf die politischen Verantwortlichen übertrug. Aber es erleichterte es, wie Gerald Knaus feststellt, das Scheitern in Afghanistan oder im Irak als «vorübergehenden Rückschlag» auszugeben. Man musste nur den Mitteleinsatz neu optimieren.

Dass Vollmachten und Know-how der Schlüssel zum Erfolg seien, glaubte auch Paul Bremer, der amerikanische Zivilverwalter im Irak. Getragen von der Euphorie des schnellen Sieges der Koalitionstruppen gegen Saddam Hussein erliess er zu Beginn seines Mandats 2003 zwei Dekrete. Dekret Nummer 1 verfügte die Abschaffung der Baath-Partei und schloss Mitglieder der ehemaligen Regimepartei von staatlichen Posten aus. Dekret Nummer 2 befahl die Auflösung der Armee. Dann schritt er zur Privatisierung der Staatsindustrie und schrieb die Curricula an den Universitäten um.

Beabsichtigt waren die «Enthauptung» des Regimes und eine Auswechslung der Eliten, um Raum für den Um- und Neubau des Staates zu gewinnen. Doch erreicht wurde die massenhafte Vernichtung von Fachwissen und Loyalität. Ein Aufstand brach los, angeführt von Anhängern des Regimes, den später Islamisten übernahmen. Zwei Jahre später versank das Land im Bürgerkrieg.

Hätte Bremer von Paddy Ashdown lernen können? Der in Delhi geborene Spross einer britischen Familie von Soldaten- und Kolonialbeamten war von 2002 bis 2006 Hoher Repräsentant in Nachkriegsbosnien. Das Amt war mit dem Friedensschluss in Dayton 1995 geschaffen worden und verfügte ab 1997 über Vollmachten.

Auch Ashdown regierte mit harter Hand: Er feuerte Politiker, die sich der Friedensordnung in den Weg stellten, entliess korrupte Richter und unbotmässige Polizisten, und es gelang ihm, die Überreste der Armeen der Kriegsparteien unter ein Kommando zu stellen. Ashdowns Verdienste sollen nicht kleingeredet werden. Aber der relative Erfolg des State-Building in Bosnien hat weniger mit seinen Auftritten als «Prokonsul» als mit dem günstigeren Kontext zu tun.

Von Bosnien lernen?

Der wichtigste Unterschied: In Bosnien gab es einen Friedensschluss. Nach Massakern, Vertreibungen und hunderttausend Toten war in allen Bevölkerungsteilen der starke Wunsch vorhanden, die Gewalt endlich zu beenden. Nachdem die internationalen Truppen eingerückt waren, fiel kaum mehr ein Schuss. Mit Milorad Dodik liess sich zudem ein Politiker aufbauen, der die völlig diskreditierte Führung der bosnischen Serben unter Karadzic ersetzte.

Auch äussere Faktoren wirkten positiv: Serbiens Kriegsfürst Milosevic war gestürzt und im Gefängnis. Wichtiger noch: Die EU hatte allen Balkanländern einen Beitritt in Aussicht gestellt. Da zeigten sich Perspektiven, die ungleich attraktiver waren als der verflossene Traum von Grossserbien oder Grosskroatien. Schliesslich gab es mit dem Haager Kriegsverbrechertribunal (ICTY) ab 1993 eine Institution, die zumindest ein gewisses Mass an Gerechtigkeit herstellen konnte.

Auch in Kosovo war 1999 die Ausgangslage nach dem Krieg eher günstig. Es gab zwar keinen Friedensschluss, aber doch einen klaren Sieger: die Kosovaren bzw. die Nato, die den serbischen Staat aus dem Territorium hinausgezwungen hatte. Die anschliessenden Vertreibungen von Serben schufen ein weitgehend homogenes albanisches Siedlungsgebiet. Die schnell wechselnden Chefs des Uno-Protektorats in Kosovo merkten bald, wie wenig wirkliche Macht sie hatten, und arrangierten sich mit den Warlords. Als 2004 Unruhen ausbrachen aus Frustration über die wirtschaftliche Misere und unklare Perspektiven, stellte der Westen die Weichen schnell auf Unabhängigkeit. 2008 wurde der Schritt vollzogen. Was immer noch fehlt, ist ein Friedensabkommen mit Serbien.

State-Building ist Politik, nicht Wissenschaft

Welche Lehren lassen sich mit Blick auf die dreissigjährige Ära von westlichem State-Building ziehen? Ganz offensichtlich ist State-Building keine technokratische Disziplin. Es ist vielmehr ein permanenter politischer Prozess der Aushandlung zwischen den Interventionisten und den lokalen Eliten. Diese, das zeigt sich klar, sitzen immer am längeren Hebel. Es sind die Einheimischen und nicht die Fremden, die dem Projekt Legitimität verschaffen oder entziehen können. Auch deshalb hat sich «state-building under fire», also in einem Bürgerkrieg, als unmöglich erwiesen.

Für den Erfolg des Projekts ist eine langfristige Entwicklungsperspektive notwendig. Die Beispiele auf dem Balkan legen das nahe. Nichts verschob die politischen Gewichte so stark und trug zur positiven Entwicklung in den frühen 2000er Jahren so viel bei wie das damals glaubhafte Beitrittsversprechen der EU. Die Rückschritte der letzten Jahre in Bosnien und Serbien lassen sich zu einem guten Teil mit der faktischen Abwendung der EU von der Region erklären. Sie hat die Anreize für die politische Klasse auf riskante Art verändert.

Und schliesslich bleibt die banale Einsicht, dass eine breite Kenntnis des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umfelds zwar notwendig ist, aber keineswegs hinreicht für ein Gelingen. Das und die wichtige Rolle von Sprach- und Geschichtskenntnissen wurden von den sich abwechselnden Kohorten von Experten meist unterschätzt.

Wer heute die Berichte der State-Builder und ihrer intellektuellen Wegbereiter liest, gewinnt den Eindruck, der darin aufscheinende Machbarkeitswahn entstamme einer anderen Epoche. Das trifft auch zu. Aber von dieser Epoche trennt uns nicht einmal ein Jahr.

50 Kommentare
Oliver Heeb

Um das State-Building hat sich ein eigentlicher institutioneller Speckgürtel aus NGO's und staatlichen Organisationen gebildet. So, wie man es auch aus der Entwicklungszusammenarbeit und der Humanitären Hilfe kennt. Ein riesiges Business für Scharen von Sozialwissenschaftern und weltfremden Politaktivistinnen, die sich gegenseitig auf den Füssen stehen, um sich an den Geldtöpfen zu bedienen, die vom meist ahnungslosen Steuerzahler alimentiert werden.

Alfons Widmer

Dem Urteil, "Es war eine Epoche westlicher Hybris, geprägt von Arroganz und Idealismus", ist eigentlich nur noch anzufügen, dass die Epoche auch von viel Naivität - einem bekannten US-amerikanischen Phänomen in allen politische Belangen - geprägt war.