Wie die EU aussehen müsste, damit ihr die Schweiz beitreten könnte

Der Einheitsbrei aus Brüssel ist zunehmend ungeniessbar. Ein Slowake und ein Deutscher skizzieren deshalb eine EU, die auch für die Schweiz attraktiv wäre: Der Binnenmarkt mit den vier Freiheiten stünde im Zentrum. Um ihn herum entstünden Klubs, in denen Staaten wahlweise zusammenarbeiteten.

Christoph Eisenring
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Führt der Weg der Schweiz doch einmal in die EU? Wenn sie sich in Richtung «Klub der Klubs» entwickelt, wäre das durchaus denkbar.

Führt der Weg der Schweiz doch einmal in die EU? Wenn sie sich in Richtung «Klub der Klubs» entwickelt, wäre das durchaus denkbar.

Christoph Soeder / AP

Wie die EU mit der Schweiz umspringt, missfällt Dalibor Rohac. Sie behandle befreundete Staaten zuweilen schlechter als so manchen Feind, schrieb er unlängst in einem Kommentar. Rohac arbeitet für den Think-Tank American Enterprise Institute in Washington. Für ihn ist nachvollziehbar, dass es die Schweiz abgelehnt hat, durch das Rahmenabkommen von einem Partner auf Augenhöhe zu einem «Regelnehmer» abgewertet zu werden.

Der gebürtige Slowake ist aber keineswegs ein Verächter der europäischen Idee, wie im Gespräch klar wird. Der 38-Jährige schreibt gerade an einem Buch darüber, wohin sich die EU entwickeln sollte. Und hier wird es auch für die Schweiz interessant. Denn seine Reformideen für die EU tönen für Schweizer Ohren attraktiv.

Der Binnenmarkt als Nukleus

Für Rohac ist klar, dass die «immer engere Union», die EU-Politiker in Sonntagsreden gerne beschwören, eine Fiktion bleiben muss. Niemand habe Appetit auf einen Big Bang, womit er auf das Jahr 1787 anspielt, als sich die Vereinigten Staaten von Amerika eine Verfassung gaben.

Dalibor Rohac.

Dalibor Rohac.

Imago

Ein europäischer Bundesstaat wäre vielleicht mit einer Kerngruppe von Ländern einmal möglich gewesen, doch die EU ist durch die Erweiterungen immer heterogener geworden. Für Rohac sollte deshalb das Supranationale in den Hintergrund rücken. Im Zentrum müsste stattdessen die zwischenstaatliche Kooperation stehen.

Kern der EU ist für ihn der Binnenmarkt mit den vier Grundfreiheiten, also dem freien Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr. Ohne diese Freiheiten sei die EU eine substanzlose Hülle. Zur in der Schweiz, aber auch in Grossbritannien umstrittenen Personenfreizügigkeit sagt er, dass die Länder die Möglichkeit haben sollten, Sozialleistungen für Zuwanderer zu begrenzen. Damit könnte einem möglichen «Sozialtourismus» ein Riegel geschoben werden.

Damit der Binnenmarkt gut funktioniert, empfiehlt er sodann eine gemeinsame Kartell- und Handelspolitik sowie eine Beschränkung staatlicher Subventionen. Die Privatisierung und Liberalisierung in der Telekommunikation und im Luftverkehr gehören zu den grössten Errungenschaften der EU. Wenn immer möglich solle man im Binnenmarkt zudem nicht auf Harmonisierung von Produktstandards setzen, sondern auf deren gegenseitige Anerkennung.

Ein Klub der Klubs

Der Slowake ist mit seiner Idee nicht alleine. Der deutsche Ökonom Michael Wohlgemuth von der Liechtensteiner Stiftung für Staatsrecht und Ordnungspolitik hat nach der Brexit-Abstimmung im «Schweizer Monat» eine EU skizziert, die er einen «Klub der Klubs» nennt. Die vier Grundfreiheiten stehen auch bei Wohlgemuth im Zentrum. Daneben gibt es für ihn wenige Themen wie die Klimapolitik, die Wettbewerbs- und Handelspolitik, die Zusammenarbeit bei der Verteidigung, der Terrorismusbekämpfung und dem Schutz der EU-Aussengrenzen, die für ihn zu einem «Kern-Acquis» gehören.

Michael Wohlgemuth.

Michael Wohlgemuth.

PD

Eine solche Union von Klubs würde die Heterogenität der Staaten nicht als Bedrohung für ein gemeinsames Europa sehen, sondern als Chance. Der frühere britische Notenbankchef Mervyn King hatte das Problem einmal für sein Land auf den Punkt gebracht: «Weshalb soll man Mitglied eines Tennisklubs sein, wenn man das Spiel gar nicht mag, sondern lediglich einmal im Monat Bridge spielen möchte?»

Und der Soziologe Ralf Dahrendorf, selbst einmal Kommissar, als die EU noch Europäische Gemeinschaft (EG) hiess, wunderte sich 1979 darüber, dass in Kommissionskreisen ein «Europa à la carte» das Schreckgespenst par excellence sei. Man solle sich doch nicht durch ein mehrgängiges Menu quälen müssen, von dem einem nur eine Speise zusage, schrieb er.

Damals war die Europäische Gemeinschaft mit neun Mitgliedern noch überschaubar. Derzeit sind es 27 Staaten. Entsprechend gilt Dahrendorfs Beobachtung heute erst recht. Hier bietet sich Wohlgemuths Idee der Klubs an. Die Kosten dafür, auf EU-Ebene immer einen Konsens zu finden, würden schlagartig abnehmen, weil sich die Länder freiwillig zu verschiedenen Klubs zusammenschlössen, erklärt Wohlgemuth auf Anfrage.

Etwas für die «Willigen und Fähigen»

Während die nationalen Parlamente heute bei all den Weisungen aus Brüssel faktisch nicht mehr viel zu sagen haben, hätten sie in europapolitischen Belangen wieder die Zügel in der Hand. Denn Länder würden darüber debattieren, in welchen Klubs sie mitmachen wollen.

Die «Willigen und Fähigen» könnten zum Beispiel im Umweltschutz, in der Bekämpfung von Cyberkriminalität oder der Deregulierung des Dienstleistungsmarktes Klubs formieren und stärker zusammenarbeiten. Zunächst skeptische Länder würden einige Zeit beobachten, ob ein bestimmter Klub funktioniert, und dann allenfalls auch beitreten.

Auch beim Arbeitnehmerschutz oder bei der Arbeitslosenversicherung könnten sich interessierte Staaten aufeinander abstimmen. Aber im Unterschied zu heute würde nicht ein bestimmtes Sozialmodell allen anderen übergestülpt. Derzeit ist etwa eine Richtlinie der Kommission zu «fairen» Mindestlöhnen in Diskussion. Allerdings wäre ein nationaler Mindestlohn in den Sozialmodellen Dänemarks und Schwedens ein Fremdkörper.

Eine EU, die alles über einen Kamm schert, führt denn auch zunehmend zu populistischen Abwehrreflexen. Es brechen Gegensätze auf zwischen «alten» und «neuen» EU-Staaten oder zwischen den fiskalisch zurückhaltenden Hanse-Ländern im Norden und den Südeuropäern.

Dies zeigte sich exemplarisch in der Euro-Krise. Diese ist entstanden, weil aus politischen Gründen zu viele Staaten ins Korsett der einheitlichen Währung «gezwängt» wurden. Die Wogen zwischen den nordischen Staaten (Boulevard-Zeitung «Bild»: «Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen») und den südlichen Ländern gingen hoch. Den Zusammenhalt und die Solidarität hat dies bestimmt nicht gefördert. Eine Währungsunion bietet Vorteile, aber nur, wenn auch die passenden Länder daran teilnehmen.

Masochistische Ader der EU

Aber sind die Visionen der beiden Wissenschafter mehr als Tagträume? Die EU solle sich eingestehen, dass sie in einzelnen Bereichen schon in dieser Richtung unterwegs sei, sagt Rohac. So sei derzeit schlecht vorstellbar, dass Dänemark, Schweden, Polen oder Tschechien je dem Euro-Raum beiträten, dem derzeit 19 der 27 EU-Staaten angehörten.

Zum Schengenraum, in dem die Grenzkontrollen weggefallen sind, zählen derzeit 23 EU-Staaten und die 4 Efta-Länder Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island. Zugang zum Binnenmarkt haben sodann neben den EU-Ländern die Staaten des EWR und über die bilateralen Abkommen die Schweiz. Und im Verteidigungsbereich gibt es ein ganzes Menu von Optionen, von der gemeinsamen Beschaffung von Rüstungsgütern bis zu gemeinsamen Manövern. Rohac sieht deshalb eine grosse Diskrepanz zwischen der offiziellen Rhetorik einer «immer engeren Union» und der europäischen Realität.

Für die Schweiz wäre eine Konzentration der EU auf einen Kern-Acquis von Vorteil. Wenn Brüssel andere Bereiche seinen Mitgliedern zur verstärkten Zusammenarbeit überliesse, könne die EU hier auch flexibler mit Drittstaaten Klublösungen aushandeln, sagt Wohlgemuth. Auch Rohac findet, dass sich durch solche Modelle der Unterschied zwischen EU-Mitgliedern und -Nichtmitgliedern verwischen würde.

Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Im Moment schädigt sich die EU lieber selbst, als Kompromisse zu schmieden, wie die unversöhnliche Haltung gegenüber der Schweiz oder Grossbritannien belegt.

Dahrendorf hatte seinerzeit denn auch festgestellt, dass die EG (heute EU) eine masochistische Ader habe. Um gut zu sein, müsse Europa offenbar weh tun, scheine die Devise zu lauten. Doch der Einheitsbrei, den die Kommission in Brüssel serviert, schmeckt den Ländern nicht und führt zunehmend zu Konflikten. Europa darf gerade nicht weh tun, wenn es bei den Bürgern Unterstützung finden soll. «One size fits all» taugt als Devise immer weniger.

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