Der Staat ist digital inkompetent. Und das ist gut so

Wie gross der Umfang des Staates sein soll, ist ein Dauerbrenner der politphilosophischen Reflexion. Doch wichtiger als die Frage nach der Quote ist die Frage nach der Kompetenz.

Peter Kurer 5 Kommentare
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Staatliche Feinsteuerung ist im Bereich des Digitalen zum Scheitern verurteilt, und sie sollte sich dessen bewusst sein.

Staatliche Feinsteuerung ist im Bereich des Digitalen zum Scheitern verurteilt, und sie sollte sich dessen bewusst sein.

Karin Hofer / NZZ

Wir leben in einer Welt, in der wir über alles streiten und uns über wenig einig sind. Einer der schönsten Zankäpfel der öffentlichen Diskussion betrifft die Rolle des Staates. Was soll er tun, und was soll er besser lassen? Dieser uralten Frage setzen wir soeben eine neue Variation hinzu, die wir in ihren möglichen Auswirkungen nicht unterschätzen dürfen: Soll der Staat eine digitale Macht sein?

Die Quote

Zum Glück gibt es Fakten, die eine unsichtbare Grenze um dieses Treiben setzen. Die wichtigste davon bilden die finanziellen Ressourcen. Der Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt hat sich in den demokratischen Ländern irgendwo zwischen gut 30 und gut 50 Prozent eingependelt. Wo ein bestimmtes Land auf diesem Kontinuum genau liegt, hängt von vielen Faktoren ab, beispielsweise der Organisation des Gesundheitswesens, der Rolle privater Anbieter im Bildungsbereich, der Finanzierungsform für die Sozialhilfe.

Interessanterweise gibt der Anteil des Staates am Bruttosozialprodukt nur eine unzureichende Antwort darauf, ob wir in ihm ein erfolgreiches oder ein weniger erfolgreiches Modell sehen. Am unteren Ende des Spektrums (ich folge den Zahlen des «Economist» für das Jahr 2019) tummeln sich Länder wie Neuseeland, Australien, die baltischen Staaten und auch die Schweiz, denen wir im Grossen und Ganzen ein gutes Management öffentlicher Angelegenheiten nachsagen.

Am oberen Ende der Skala finden sich beispielsweise Frankreich und Italien, Paradebeispiele von inkompetenten Demokratien. Interessanterweise sieht man aber auch das Gegenteil: alle skandinavischen Länder, die durchwegs als erfolgreich gelten, haben hohe Staatsquoten, während die USA, die Mühe mit der fairen Erledigung öffentlicher Aufgaben haben, dafür (noch) einen relativ tiefen Anteil des Bruttoinlandprodukts aufwenden. Das sind starke Vereinfachungen, sie lassen aber den Schluss zu, dass wir über die Staatsquote nur unzureichend die Qualität staatlichen Wirkens erklären können.

Die Kompetenz

Es gibt nun aber eine weitere faktische Grenze staatlichen Tuns, und das ist das Gesetz der Kompetenz. Man kann sich Gebiet für Gebiet überlegen, was der Staat gut macht und was nicht. Die Wirtschaftsgeschichte gibt dazu reiche empirische Antworten, und Corona sollte uns zusätzlich die Augen geöffnet haben.

Viele Staaten haben ihre Bürger einigermassen heil durch die Pandemie geführt; oftmals haben sie die delikate Balance zwischen gesundheitlicher Vorsorge und Begrenzung des wirtschaftlichen Schadens gut adjustiert; und insgesamt haben sie sich fürsorglich um die Verlierer in der Pandemie gesorgt. Umgekehrt haben Regierungen, insbesondere auch in Europa, oft in zwei Bereichen versagt: der Logistik und der digitalen Bearbeitung der Krise.

Obwohl eine grosse Pandemie schon seit Jahren zuoberst auf der globalen Risikoliste stand, gab es am Tage X keine Masken, zu wenig Beatmungsgeräte, keine Systeme zum raschen digitalen Datenaustausch. Vakzine wurden zu spät bestellt, Impfzentren nur mühsam aufgebaut.

In der Logistik machte der Staat im Laufe der Zeit sichtbare Fortschritte, kaum aber im digitalen Bereich. Die Covid-19-App löschen wir jetzt ungebraucht. Und hier knüpft meine zentrale These an: Digitalisierung ist jenseits der Grenze staatlicher Kompetenz. Der Staat wird sich zwar in einigen Bereichen digitale Fähigkeiten aneignen. Zumindest unter demokratischen Bedingungen wird er aber nie irgendeine gestaltende und führende Rolle spielen, wenn es um die eigentliche Digitalisierung der Gesellschaft geht.

Die Unterscheidung

Für diese Sicht gibt es viele Gründe. Der wichtigste ist aber, dass das staatliche Leben nach ganz anderen Regeln abläuft als die digitale Welt; die beiden Universen verhalten sich zueinander wie Öl und Wasser. Staaten sind hierarchische Gebilde, die nach vorgegebenen Regeln operieren. Die digitale und technologische Sphäre ist demgegenüber nach den Regeln von Netzwerken geformt. Diese gliedern sich durch Knoten und Verbindungen, sie nutzen und kreieren Skaleneffekte, verdichten sich zu riesigen Plattformen, um sich dann im nächsten Moment wieder neu zu konfigurieren oder gar zu zerfallen.

Diese Dichotomie zwischen Hierarchien und Netzwerken, die Niall Ferguson in seinem Buch «The Square and the Tower» brillant beschreibt, ist ein gutes Paradigma, um sinnvolles staatliches Wirken zu lokalisieren. Die meisten von uns könnten sich wohl darauf einigen, dass erfolgreiche Staaten in vier oder fünf Bereichen gut gearbeitet haben: Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, Bildungswesen (Eliminierung des Analphabetismus), Gesundheitswesen (Erhöhung der Lebenserwartung) und Wohlfahrt (Verhinderung von Armut). Dies sind aber genau die Bereiche, die sich nach hierarchischen Gesetzen organisieren lassen, in Form von Armeen, Polizeikorps, Schulen und Universitäten, Spitälern und Universitätskliniken, Sozialagenturen und Arbeitsämtern.

Viel grössere Mühe haben alle Staaten in Bereichen, die nicht nach vorgegebenen Hierarchien und Regeln ablaufen: die makroökonomische Entwicklung, Märkte, Innovation und Handel. In diesem Reiche Merkurs, des Gottes der Händler und Diebe wie auch des lateinischen Namensgebers des Quecksilbers, herrschen andere Gesetze als hierarchisch erfassbare, es sind die Regeln von fluiden Netzwerken, Skaleneffekten, tausendfachen und kaum sichtbaren Marktinformationen und sinnvollen Zufällen. Auch in diesen Bereichen kann und muss der Staat wichtige Funktionen erfüllen wie umsichtiges Regulieren, Grundlagenforschung oder direkte Krisenintervention. Indessen kann er kein merkurial Beteiligter sein.

In den allermeisten Fällen, in denen Staaten solche unsichtbare Kompetenzgrenzen überschritten, endete dies im Unglück. Systeme, die sich als Totalunternehmer sahen wie die DDR, sind am Schluss implodiert, weil sie die einfachsten Produktionsprobleme nicht mehr lösen konnten. Staaten, die von ihrer DNA her zum Merkantilismus und zur Dauerintervention neigen wie Frankreich und Indien, marschieren nahe am Abgrund. Viele Länder mussten in den achtziger und neunziger Jahren wichtige Elemente ihrer Infrastruktur privatisieren, nicht weil die Politiker und die Beamten dies lustig fanden, sondern weil die Wasserrohre verrosteten, Briefe nicht mehr zugestellt wurden und Züge chronisch zu spät kamen.

Die Digitalisierung

Im Bereich der Digitalisierung sind wir nun gerade im Begriff, einen neuen Mammutfehler gouvernementaler Inkompetenz zu setzen. Amerika will 50 Milliarden Dollar in die Förderung des Chipsektors stecken, obwohl es die führende Technologienation ist und Firmen wie Intel und Nvidia wohl in der Lage sein sollten, ihre momentanen Kapazitätsengpässe mit eigenen finanziellen Mitteln zu überwinden. Die EU beabsichtigt, mehr als 145 Milliarden Euro in digitale Projekte wie den Aufbau eigener Chipfabriken zu investieren. Zudem gibt es Pläne für eine europäische Cloud. Auch in der Schweiz wird zunehmend von digitalen Offensiven des Staates und Public-private-Partnerships in diesem Bereich gesprochen, worin man eine verkappte Industriepolitik sehen kann.

Solche Initiativen sind gefährliche Trugbilder. Die amerikanische Technologie bedarf keiner Förderung mehr, und es wird kaum je eine europäische Cloud geben, die Amazon, Microsoft oder Google die Stirn bieten kann. Und ebenso wenig eine europäische Chipindustrie, die zu den Taiwanern aufschliesst.

All dies heisst aber nicht, dass der Staat nicht in seine eigene digitale Kompetenz investieren soll, wo das notwendig und angezeigt ist. Die rasche Digitalisierung des Gesundheitswesens ist wichtig, ebenso die Cybersecurity im staatlichen Bereich. Smarte Strom- und Wasserzähler sparen Geld und Ressourcen. All dies setzt weder eine digitale Industriepolitik noch grosse Anschubfinanzierungen und Public-private-Partnerships voraus.

Die meisten der notwendigen technologischen Produkte und Softwareapplikationen können nämlich irgendwo eingekauft werden. Der Staat sollte eine beschränkte Anzahl von begabten Experten einstellen und trainieren, die diese Software finden, beurteilen und einführen. Anderweitig gibt es keinen Platz für staatliche Kompetenz. Der digitale Zug ist längst abgefahren, und es nützt wenig, wenn die Industriepolitiker ihm schwer atmend hinterherrennen.

Die Konklusion

Das ist auch gut so. Der moderne Staat stösst mit seinen bestehenden Aufgaben und dem neuen Megathema des Klimaschutzes ohnehin an seine Grenzen. Es ist nicht notwendig, dass wir ihm eine neue, überbordende Aufgabe zuweisen. Und schliesslich sollen wir das auch nicht wollen. Es gibt nämlich eine einzige Bedingung, unter der der moderne Staat digitale Kompetenz ausspielen kann, und das ist die Tyrannei.

China hat wettbewerbsfähige Alternativen zur amerikanischen Vorherrschaft im technologischen Bereich aufgebaut. Die dortigen Mandarine und Parteibonzen sind Herr über die Cloud und das Internet. Sie wissen alles, hören alles, steuern über raffinierte Algorithmen die Präferenzen des Fussvolkes und sanktionieren abweichendes Verhalten. Solche Macht dürfen demokratisch gewählte Regierungen nie haben, es würde die Substanz bürgerlicher Freiheiten aushöhlen, selbst wenn die digitale Macht nur paternalistisch und milde ausgeübt würde.

Gewiss, auch im Westen haben die grossen digitalen Plattformen zu viel Macht über uns. Aber es fehlt ihnen die Sanktionsmacht des Staates, und dieser kann und sollte sie im Auftrag des Volkes kontrollieren und in Schranken weisen. Dies allein ist Grund genug, die digitale und die staatlichen Sphären getrennt zu halten.

Peter Kurer ist Jurist, Anwalt und ehemaliger Manager sowie Autor des Buches «Legal and Compliance Risk. A Strategic Response to a Rising Threat for Global Business» (Oxford 2015).

5 Kommentare
I. W.

In den digitalen Gefilden herrscht ein Machtkampf, der sich nicht von anderen Machtkämpfen wie zum Beispiel um Land, Besitz oder Arbeitskraft unterscheidet.  Die Verteilung von Land, Besitz und Arbeitskraft wurde durch unsere Gesellschaft bis in feine Details geregelt. Und ich meine es ist von Nutzen, dass sich nicht einfach jeder mit Gewalt das nimmt, was er kann.  Genau gleich muss, der heute im Wesentlichen noch unreglementierte, digitale Raum mit universell gültigen Regeln gezähmt werden. Dazu braucht der Staat digitale Kompetenz und den Willen regelnd einzugreifen. Heute zeigt der Staat weder das eine, noch das andere. Dementsprechen ist der digitale Raum fest in der Hand von wenigen sehr mächtigen Akteuren.  Das ist schlussendlich zum Nachteil aller anderen.

Herbert Schultz-Gora

Dank an Autor und Redaktion für diesen Artikel, der dank seiner ungewohnten Perspektive zum Nachdenken anregt. Das Gesundheitswesen ist allerdings hochgradig digitalisiert und warum die intimsten Daten der Menschen aus den Praxen und Krankenhäusern heraus vernetzt und zentral gespeichert werden sollen, kommt mir als das Nachplappern der Maximen von Herrn Spahn und der IT-Industrie vor... und dahinter steht vermutlich das ganz grosse Geschäft. Als Arzt kann ich da nur sagen: Schäbiger geht's nicht mehr. Das "Arztgeheimnis" ist ein altes Kulturgut und unabhängige IT-Experten sagen, daß es eine echte Datensicherheit nicht gibt, denn jeder Prozeß in der IT, der eingerichtet wurde, kann nachgebaut und mißbraucht werden. Auch in anderen Bereichen ist Vernetzung und zentrale Datenspeicherung eher ein Übel als daß es Nutzen bringt... und wohin die ganze Flut von "Chips" verbaut werden soll, diese Frage wird garnicht gestellt. Man stelle sich vor, die Krankenkassen winken mit günstigeren Tarifen, wenn der Versicherte sich einen Mikro-Gaschromatographen in die Unterwäsche montieren läßt, so daß aufgrund der Analyse der "Abgase" dann Rückschlüsse auf das Ernährungsverhalten und die Gesundheit der Betreffenden geschlossen werden können und die Beraterin der Kasse sich meldet und verbindliche Hinweise zum Lebensmitteleinkauf auf's Smartphone übermittelt... Aber ja: Die Wirtschaft MUSS WACHSEN... zur Not kauft die EZB ne Jahresproduktion von Opel auf in schickt sie Richtung Afrika. ;-))